Die Gotthardregion - das sind vier Kantone, vier unterschiedliche Kulturen, drei Sprachen, eine reiche Geschichte und viel faszinierende Kunst. Wichtige Pässe verbinden Uri, die Leventina, die Surselva und das Goms. Allen voran der Gotthardpass - kürzeste Nord-Süd-Verbindung und historische Mythenmaschine im Herzen der Schweiz, im Zentrum Europas. Seit je überquerten ihn Reisende, Säumer, Kaufleute, Abenteurer, Dichter und Maler. Heute verbindet man den Gotthard mit kühnen Bauwerken wie der Teufelsbrücke, dem NEAT-Tunnel oder den Festungsbauten im Bergmassiv. Doch die Region hat mehr zu bieten als Durchgangsverkehr und Réduit: stille Bergseen und versteckte Täler, ursprüngliche Dörfer und lichte Hochebenen. Wunderbare Szenerien, festgehalten auf zahlreichen Gemälden, Stichen und Aquarellen. Auf vierzehn attraktiven Wanderungen spüren die Autorin Ruth Michel Richter und der Fotograf Konrad Richter einigen dieser Kunstwerke nach.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2021Hier genau hat er gestanden
Es hat lange gedauert, bis Landschaft in der Malerei nicht mehr nur den dekorativen Hintergrund spielen, sondern als eigenes großes Thema brillieren durfte. Dann aber zogen die Künstler mit Zeichen- und Malzeug ins Freie, hielten fest, was sie sahen und manchmal noch ein bisschen mehr. Sehr gefragt waren Gebirgsdarstellungen, insbesondere bevor bequeme Seilbahnen es fast jedem selbst erlaubten, die Grandezza der Gipfelwelt in der Höhe zu bewundern. Um herauszufinden, wie ehrlich die Maler waren und wie ihre Motive heute aussehen, erwanderten Ruth Michel Richter und Konrad Richter - nach dem Berner Oberland und Graubünden - wiederum ein Stück der Schweiz, diesmal deren Herz: die Gotthardregion. Gleich auf der ersten von vierzehn Touren erwischen sie einen Künstler beim Tricksen; Charles Girons "Wiege der Eidgenossenschaft", das große Wandpanorama im Berner Nationalratssaal, blickt hinab auf den Vierwaldstättersee, an dem Wilhelm Tells Rütliwiese liegt. Nicht nur lässt der Künstler damals, 1900, die bereits existierende Bahnlinie und sowie die Hotels idealisierend fort, er verquickt auch zwei unterschiedliche Aussichten, um seine Komposition zu optimieren. Überhaupt spitzt künstlerische Freiheit manche der mehrheitlich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Ansichten gern dramatisch zu, wie Fotovergleiche der Motive von heute zeigen: Da erscheinen Berge höher, Abhänge steiler und Bäche reißender. Caspar Wolf hingegen übertrieb nicht, als er 1778 die mächtige, weit ins Tal reichende weiße Zunge des gewaltigen Rhone-Gletschers malte, doch hat man seinen Platz von damals erreicht, zeigt sich heute alles grün und felsig, denn vom Eis hat der Klimawandel nichts übrig gelassen. Mit präzisen Beschreibungen zu den einstigen Aufstellungsorten der Staffeleien unterwegs, bekommt man viele Hinweise auf Sehenswertes am Wegesrand und erfährt manches über Geschichte und Geographie der Region, nicht zu vergessen alte Mythen. Auch aus Schillers "Wilhelm Tell" zitieren die Autoren, nur anders als die Maler war der Dichter niemals hier.
bsa
"Wandern wie gemalt. Gotthardregion. Auf den Spuren bekannter Gemälde" von Ruth Michel Richter und Konrad Richter. Rotpunktverlag , Zürich 2020. 384 Seiten, 350 Abbildungen, einige Karten. Broschiert, 38 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es hat lange gedauert, bis Landschaft in der Malerei nicht mehr nur den dekorativen Hintergrund spielen, sondern als eigenes großes Thema brillieren durfte. Dann aber zogen die Künstler mit Zeichen- und Malzeug ins Freie, hielten fest, was sie sahen und manchmal noch ein bisschen mehr. Sehr gefragt waren Gebirgsdarstellungen, insbesondere bevor bequeme Seilbahnen es fast jedem selbst erlaubten, die Grandezza der Gipfelwelt in der Höhe zu bewundern. Um herauszufinden, wie ehrlich die Maler waren und wie ihre Motive heute aussehen, erwanderten Ruth Michel Richter und Konrad Richter - nach dem Berner Oberland und Graubünden - wiederum ein Stück der Schweiz, diesmal deren Herz: die Gotthardregion. Gleich auf der ersten von vierzehn Touren erwischen sie einen Künstler beim Tricksen; Charles Girons "Wiege der Eidgenossenschaft", das große Wandpanorama im Berner Nationalratssaal, blickt hinab auf den Vierwaldstättersee, an dem Wilhelm Tells Rütliwiese liegt. Nicht nur lässt der Künstler damals, 1900, die bereits existierende Bahnlinie und sowie die Hotels idealisierend fort, er verquickt auch zwei unterschiedliche Aussichten, um seine Komposition zu optimieren. Überhaupt spitzt künstlerische Freiheit manche der mehrheitlich aus dem neunzehnten Jahrhundert stammenden Ansichten gern dramatisch zu, wie Fotovergleiche der Motive von heute zeigen: Da erscheinen Berge höher, Abhänge steiler und Bäche reißender. Caspar Wolf hingegen übertrieb nicht, als er 1778 die mächtige, weit ins Tal reichende weiße Zunge des gewaltigen Rhone-Gletschers malte, doch hat man seinen Platz von damals erreicht, zeigt sich heute alles grün und felsig, denn vom Eis hat der Klimawandel nichts übrig gelassen. Mit präzisen Beschreibungen zu den einstigen Aufstellungsorten der Staffeleien unterwegs, bekommt man viele Hinweise auf Sehenswertes am Wegesrand und erfährt manches über Geschichte und Geographie der Region, nicht zu vergessen alte Mythen. Auch aus Schillers "Wilhelm Tell" zitieren die Autoren, nur anders als die Maler war der Dichter niemals hier.
bsa
"Wandern wie gemalt. Gotthardregion. Auf den Spuren bekannter Gemälde" von Ruth Michel Richter und Konrad Richter. Rotpunktverlag , Zürich 2020. 384 Seiten, 350 Abbildungen, einige Karten. Broschiert, 38 Euro.
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