Carl Seeligs Aufzeichnungen seiner Wanderungen mit Robert Walser haben in der Literatur nicht ihresgleichen. Sie entwerfen das Porträt eines Verstummten, eines Dichters, der, wie Hölderlin, »taktvoll« genug war, dem Leben zu entsagen. Nach seinem 50.Geburtstag hörte Walser mit Schreiben auf und gab sich mit dem Leben eines Irrenhauspatienten zufrieden. Carl Seelig, der ihm und seinem zu scheinbarer Dauer-Erfolglosigkeit verurteilten Werk helfen möchte, besucht Walser in der Anstalt, zwanzig Jahre ist ihnen »beschieden, spazierenzugehen«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2021Zu viel Kunst!
Weshalb Robert Walser so gegenwärtig ist
Seine letzten 27 Jahre verbrachte der Schweizer Schriftsteller Robert Walser völlig zurückgezogen und ohne je wieder etwas zu schreiben, in Heil- und Pflegeanstalten, bevor er Weihnachten 1956 bei einem Spaziergang in den Schnee fiel und starb. Dabei hatte er einen Menschen, der ständig die Verbindung zu ihm hielt und nach seinem Tod auch diese Zeit der extremen Abgeschiedenheit seinem Werk eingliederte: den Publizisten, Verleger und Mäzen Carl Seelig, der mit dem 1957 erschienenen Bericht "Wanderungen mit Robert Walser" den fühlenden, denkenden, die Zeitläufe beobachtenden Autor hinter dem vergessenen Anstaltsinsassen öffentlich sichtbar machte und so den Boden für seine Wiederentdeckung vorbereitete.
Nun gibt der Suhrkamp Verlag das Buch in einer neuen Edition heraus, die eine Art Geschenkversion im Großformat ist, mit Fotos, schwyzerdeutschem Glossar und sogar einer penibel rekonstruierten Übersicht der 45 Wanderwege, die Walser und Seelig zwischen 1936 und 1956 gemeinsam abgeschritten hatten - und zugleich eine vorsichtige Distanzierung von dessen Autor.
Die skrupulös abwägenden Formulierungen des neuen, namentlich nicht gezeichneten Nachworts spiegeln den Konflikt, den es in der Walser-Gemeinde über die Bewertung Seeligs gibt. Bei allen ihm zugestandenen Verdiensten kreidet ihm das Nachwort an, dass er ein "Deutungsmonopol" auf den Schriftsteller beansprucht habe und in seinem Testament sogar verfügte, dass die ihm als Vormund anvertrauten handschriftlichen Notizen Walsers, die "Mikrogramme", vernichtet werden sollten - woran sich der Nachlassverwalter glücklicherweise nicht hielt. Deshalb stelle sich die Frage, wie authentisch Seeligs Walser und vor allem die von ihm in den Text eingestreuten Zitate eigentlich sind.
Worauf das Vorwort dabei nicht eingeht, ist der Hinweis von Bernhard Echte, dem Entzifferer und Herausgeber der Mikrogramme, dass eine Grundlage dieser eigenartigen Freundschaft - und mithin ein Argument für die Glaubwürdigkeit ihrer Aufzeichnung - womöglich das gemeinsame Misstrauen beider gegen den Literaturbetrieb war. Das ist um so bemerkenswerter, als man den einflussreichen Seelig durchaus als Vertreter dieses Betriebs bezeichnen könnte. Doch Echte deutet gerade dessen ausdauernde Hilfsbereitschaft in den ganz elementaren Nöten der von ihm geschätzten Autoren als Bemühen, das Korrupte des "Literatengetriebes" zu überwinden. In den "Wanderungen" findet sich ein ganz unmittelbares Dokument dieser Übereinstimmung. "Ich sage ihm scherzhaft", schreibt Seelig, "er müsse nun auch mich ein wenig respektieren, da mich der Stadtrat von Zürich in die Literaturkommission gewählt habe. Er biegt sich vor Lachen und steckt mich damit an: 'Aha, deshalb sehen Sie heute so stadträtlich und Röbeli Faesi-mässig aus! Da haben Sie aber schön Karriere gemacht!'" (Robert Faesi, erfährt man aus dem Register, war damals ein bekannter Züricher Literaturprofessor.)
Im Gelächter über die angesehenen Betriebsnudeln trafen sich die beiden, doch Walsers Ressentiments gingen offenbar noch darüber hinaus. Der stellvertretende Chefarzt informiert Seelig 1950 darüber, dass der Schriftsteller ein ganz normaler Patient sei; beginne man mit ihm allerdings "über Kunst zu sprechen, so werde er sofort bockig".
Tatsächlich war diese Bockigkeit eine Konstante seines ganzen Lebens. Schon vierzig Jahre zuvor, als er in seiner Berliner Zeit die intensivsten Berührungen mit der Kulturwelt hatte, brachten es seine einschlägigen Ausfälle zu einer gewissen Berühmtheit. Einmal soll er bei einem Empfang des Verlegers Samuel Fischer wütend dessen Caruso-Platten auf dem Grammophontisch zerschlagen haben, wie die Übersetzerin Fega Frisch bezeugte. Und am selben Abend beschied er den ihm preziös vorkommenden Hugo von Hofmannsthal: "Können Sie nicht ein wenig vergessen, berühmt zu sein?" Er selbst berichtete später in einem seiner Mikrogramme, wie er in einem Salon einmal dem Dramatiker Frank Wedekind, der gerade ein Stück mit dem Titel "Musik" geschrieben hatte, beiläufig sagte: "Es wird zu viel musiziert heutzutage" und dann beobachten konnte, wie dessen Miene sich versteinerte.
Der instinktive Widerwille gegen alles, wo er "Kunst" witterte, war bei Walser keine Ignoranz. Es war eine Art Selbstschutz gegen die robuste Selbstverständlichkeit, mit der die Kunst als Mittel für anderes gebraucht wird, für eine Stellung in der Welt, für Respektabilität, für Macht. Das war für ihn ein Zustand der Unfreiheit, gegen den er sich mit allen Mitteln zur Wehr setzte, und auch seine oft beschriebene Poetik der Selbstverkleinerung hat da eine Wurzel. "Vielleicht hat die Kunst im Laufe der Zeit ein zu hohes und zu solides Ansehen gewonnen", schrieb er einmal, "es ist zu gefahrlos geworden, sich mit ihr zu befassen, das mag die Ursache sein, warum jeder dritte oder vierte 'nette Mensch' Künstler werden will. Man sollte versuchen, dieses Gebiet zu diskreditieren, damit sich in Zukunft nur die Lumpen oder die Helden darauf zu tummeln wagen." Das gesellschaftliche Ansehen der "Kunst" ist seither noch gestiegen; kein Wunder also, dass manchen, denen es mit ihr ernst ist, Robert Walser so gegenwärtig vorkommt.
MARK SIEMONS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weshalb Robert Walser so gegenwärtig ist
Seine letzten 27 Jahre verbrachte der Schweizer Schriftsteller Robert Walser völlig zurückgezogen und ohne je wieder etwas zu schreiben, in Heil- und Pflegeanstalten, bevor er Weihnachten 1956 bei einem Spaziergang in den Schnee fiel und starb. Dabei hatte er einen Menschen, der ständig die Verbindung zu ihm hielt und nach seinem Tod auch diese Zeit der extremen Abgeschiedenheit seinem Werk eingliederte: den Publizisten, Verleger und Mäzen Carl Seelig, der mit dem 1957 erschienenen Bericht "Wanderungen mit Robert Walser" den fühlenden, denkenden, die Zeitläufe beobachtenden Autor hinter dem vergessenen Anstaltsinsassen öffentlich sichtbar machte und so den Boden für seine Wiederentdeckung vorbereitete.
Nun gibt der Suhrkamp Verlag das Buch in einer neuen Edition heraus, die eine Art Geschenkversion im Großformat ist, mit Fotos, schwyzerdeutschem Glossar und sogar einer penibel rekonstruierten Übersicht der 45 Wanderwege, die Walser und Seelig zwischen 1936 und 1956 gemeinsam abgeschritten hatten - und zugleich eine vorsichtige Distanzierung von dessen Autor.
Die skrupulös abwägenden Formulierungen des neuen, namentlich nicht gezeichneten Nachworts spiegeln den Konflikt, den es in der Walser-Gemeinde über die Bewertung Seeligs gibt. Bei allen ihm zugestandenen Verdiensten kreidet ihm das Nachwort an, dass er ein "Deutungsmonopol" auf den Schriftsteller beansprucht habe und in seinem Testament sogar verfügte, dass die ihm als Vormund anvertrauten handschriftlichen Notizen Walsers, die "Mikrogramme", vernichtet werden sollten - woran sich der Nachlassverwalter glücklicherweise nicht hielt. Deshalb stelle sich die Frage, wie authentisch Seeligs Walser und vor allem die von ihm in den Text eingestreuten Zitate eigentlich sind.
Worauf das Vorwort dabei nicht eingeht, ist der Hinweis von Bernhard Echte, dem Entzifferer und Herausgeber der Mikrogramme, dass eine Grundlage dieser eigenartigen Freundschaft - und mithin ein Argument für die Glaubwürdigkeit ihrer Aufzeichnung - womöglich das gemeinsame Misstrauen beider gegen den Literaturbetrieb war. Das ist um so bemerkenswerter, als man den einflussreichen Seelig durchaus als Vertreter dieses Betriebs bezeichnen könnte. Doch Echte deutet gerade dessen ausdauernde Hilfsbereitschaft in den ganz elementaren Nöten der von ihm geschätzten Autoren als Bemühen, das Korrupte des "Literatengetriebes" zu überwinden. In den "Wanderungen" findet sich ein ganz unmittelbares Dokument dieser Übereinstimmung. "Ich sage ihm scherzhaft", schreibt Seelig, "er müsse nun auch mich ein wenig respektieren, da mich der Stadtrat von Zürich in die Literaturkommission gewählt habe. Er biegt sich vor Lachen und steckt mich damit an: 'Aha, deshalb sehen Sie heute so stadträtlich und Röbeli Faesi-mässig aus! Da haben Sie aber schön Karriere gemacht!'" (Robert Faesi, erfährt man aus dem Register, war damals ein bekannter Züricher Literaturprofessor.)
Im Gelächter über die angesehenen Betriebsnudeln trafen sich die beiden, doch Walsers Ressentiments gingen offenbar noch darüber hinaus. Der stellvertretende Chefarzt informiert Seelig 1950 darüber, dass der Schriftsteller ein ganz normaler Patient sei; beginne man mit ihm allerdings "über Kunst zu sprechen, so werde er sofort bockig".
Tatsächlich war diese Bockigkeit eine Konstante seines ganzen Lebens. Schon vierzig Jahre zuvor, als er in seiner Berliner Zeit die intensivsten Berührungen mit der Kulturwelt hatte, brachten es seine einschlägigen Ausfälle zu einer gewissen Berühmtheit. Einmal soll er bei einem Empfang des Verlegers Samuel Fischer wütend dessen Caruso-Platten auf dem Grammophontisch zerschlagen haben, wie die Übersetzerin Fega Frisch bezeugte. Und am selben Abend beschied er den ihm preziös vorkommenden Hugo von Hofmannsthal: "Können Sie nicht ein wenig vergessen, berühmt zu sein?" Er selbst berichtete später in einem seiner Mikrogramme, wie er in einem Salon einmal dem Dramatiker Frank Wedekind, der gerade ein Stück mit dem Titel "Musik" geschrieben hatte, beiläufig sagte: "Es wird zu viel musiziert heutzutage" und dann beobachten konnte, wie dessen Miene sich versteinerte.
Der instinktive Widerwille gegen alles, wo er "Kunst" witterte, war bei Walser keine Ignoranz. Es war eine Art Selbstschutz gegen die robuste Selbstverständlichkeit, mit der die Kunst als Mittel für anderes gebraucht wird, für eine Stellung in der Welt, für Respektabilität, für Macht. Das war für ihn ein Zustand der Unfreiheit, gegen den er sich mit allen Mitteln zur Wehr setzte, und auch seine oft beschriebene Poetik der Selbstverkleinerung hat da eine Wurzel. "Vielleicht hat die Kunst im Laufe der Zeit ein zu hohes und zu solides Ansehen gewonnen", schrieb er einmal, "es ist zu gefahrlos geworden, sich mit ihr zu befassen, das mag die Ursache sein, warum jeder dritte oder vierte 'nette Mensch' Künstler werden will. Man sollte versuchen, dieses Gebiet zu diskreditieren, damit sich in Zukunft nur die Lumpen oder die Helden darauf zu tummeln wagen." Das gesellschaftliche Ansehen der "Kunst" ist seither noch gestiegen; kein Wunder also, dass manchen, denen es mit ihr ernst ist, Robert Walser so gegenwärtig vorkommt.
MARK SIEMONS
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»Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser noch einmal zu lesen lohnt sich auch, weil sich die Sicht auf beide Protagonisten in den Jahrzenten seit ihrem Tod sehr verändert hat.«
Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung 11.05.2021
Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung 11.05.2021
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Lothar Müller begibt sich gern noch einmal mit Carl Seelig auf Wanderungen mit Robert Walser. Es ist beileibe nicht die erste Ausgabe, räumt der Kritiker ein, immer wieder sind Seeligs Notate der vielen gemeinsamen Wanderungen verlegt worden. Aber das vorliegende Buch bezieht sich auf den Text der Originalausgabe, selbst die schweizerischen Wendungen wurden übernommen und werden erst im Glossar erläutert, fährt Müller fort. Aber auch davon abgesehen lohne die Wiederlektüre: Aus Walser, aber auch Seeligs Nachlass sind immer weitere Texte veröffentlicht worden, die das Bild der Autoren und ihrer Beziehung nachhaltig veränderten, erklärt der Kritiker. Und so liest er hier nicht nur Gespräche über beide Weltkriege, über den spanischen Bürgerkrieg oder den Abessinien-Krieg, über Arbeitsprozesse und Schriftstellertätigkeit, sondern justiert auch seinen Blick auf die freundschaftliche Beziehung der beiden Autoren neu: Seelig, der bereits Ende Mai 1944 die Vormundschaft über Walser übernahm und auch hinter dessen Rücken Gespräche mit Ärzten führte, griff subtil, aber deutlich auch in Walsers schriftstellerisches Werk ein - Seeligs "Aneignungsernergie" bezeugen vor allem die letzten Seiten dieser neuen Edition, verrät der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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