Lüge und Leidenschaft, Sehnsucht und Vergänglichkeit - das neue Meisterwerk von Sándor Márai: ein Herr, eine Dame, ein Dienstmädchen. Das ist das Personal dieses großen Romans um Liebe und Betrug, um wahre und ersehnte Gefühle, um Aufrichtigkeit und Befangenheit in gesellschaftlicher Konvention. Zugleich ist es ein Abgesang auf die großbürgerliche mitteleuropäische Welt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.05.2003Frau mit Charakter,
Mann mit Idealen
Zerfallende Bürger: Sándor Márais
„Wandlungen einer Ehe”
„Familie ist immer auch Klassenkampf”, schreibt Sándor Márai in seinen „Bekenntnissen eines Bürgers” von 1934. Mann und Frau „wandern jahrzehntelang über die Eisfelder der Langeweile und Gewohnheit und hassen sich, weil der eine vornehmer und feiner erzogen wurde und Gabel und Messer anmutiger hält oder weil er aus seiner Kindheit einen besonderen Kastengeist mitgebracht hat”. Der vor wenigen Jahren wiederentdeckte ungarische Schriftsteller (1900–1989) dosiert Melancholie und Sarkasmus, Bitterkeit und Bissigkeit in einer Weise, die seinem Werk den Vergleich mit sämtlichen Größen der Donaumonarchie, von Schnitzler bis zu Roth, von Zweig bis zu Musil, eingetragen hat.
„Wandlungen einer Ehe”, ein im Zuge der Márai-Renaissance neu übersetzter Roman aus den vierziger Jahren, muss ohne diese heilsamen Gegengifte auskommen. An die Reflexionen des brillanten Zeitdiagnostikers, die treffsicheren Tagebücher des Exils und die szenische Verdichtung des 1942 erschienenen Romans „Die Glut” reicht dieses Ehemelodram nicht heran. Aber es führt die Grundkonstellation vor, die Márai sein Leben lang variiert: die Auflösung des Bürgertums nach den Weltkriegen und die von ihrer Klasse geprägten Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
Der Sinn eines Frauenlebens
Péter, Fabrikant und einsamer Hüter der großbürgerlichen Kultur, ist mit einer schönen und gebildeten Frau verheiratet, die zwar aus dem Kleinbürgertum stammt, den Lebensstil und die Umgangsformen der höherstehenden Schicht aber perfekt verinnerlicht hat. Obwohl sie ihren Mann liebt, gelingt die Ehe nicht, denn eine dritte Person steht zwischen ihnen. Es ist das Dienstmädchen, eine stolze Provinzschönheit, die jahrelang darauf wartet, dass Péter sich an ein verdrängtes Gefühl erinnert. Dreimal wird aus unterschiedlichen Perspektiven Bericht erstattet, und ähnlich wie in „Die Glut” verschwimmen die feinen Unterschiede zu immer neuen Koalitionen und Oppositionen. Mal gleichen sich die Frauen in ihrer Anpassungsfähigkeit an die männliche Kultur, mal rückt die bürgerliche Welt zusammen, die aus der proletarischen Froschperspektive nur ein Dienstbotenverhältnis erlaubt, selbst dann, wenn man zur „Gnädigen” aufgestiegen ist.
„Was ist der Sinn eines Frauenlebens?”, fragt der melancholische Ehemann seine enttäuschte Gattin. „Ein Gefühl, dem sich die Frau überlässt, mit Haut und Haar. Ich weiß das, aber nur vom Verstand her. Ich kann mich nicht einem Gefühl überlassen.” Die emotionalen oder rationalen, wilden oder gezähmten Charaktere bündeln alle Klischees, die auf der männlich-weiblichen sowie der bürgerlich-proletarischen Achse zu vergeben sind: Die Ehefrau ist gefühlsbetont, aber parkettsicher, der Verstandesmensch rettet sich vor seinen Trieben in starre Disziplin, und die Hausangestellte beendet die kränkelnden Konventionen mit barbarischer Urgewalt. Flora und Fauna sind nicht weit: Sie ähnelt den Lianen, die „ihrer Umgebung alles Lebensnotwendige absaugen”.
Mit teurem Rasierwasser
Doch diese Elemente sind in all ihrer Gewöhnlichkeit genau berechnet: Der Schriftsteller Lázár, noch einsamer, gebildeter und resignierter als sein Jugendfreund Péter, lässt sie in der Tradition des chemisch-literarischen Experiments aufeinanderprallen. Er ist der eigentliche Beschützer bürgerlicher Kultur, die sein Freund mit teurem Rasierwasser verteidigt. Als Beobachter des individuellen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs verwandelt der Schriftsteller die Dreiecksgeschichte in ein strategisches Spielfeld. Sinnbild dieser Übertragung ist das „Herr-Kovács- Spiel”, das die Freunde perfektioniert haben. Es funktioniert so, dass man Gemeinplätze äußert, ohne sie als solche herauszustellen: „Seit es die Welt gibt, reden sämtliche Damen und Herren Kovács so. Und wenn der Zug anfährt, sagen sie: ‚Wir fahren.‘ Und wenn der Zug in Füzesabony anhält, sagen sie ernst und feierlich ‚Füzesabony‘. Und sie haben immer recht.”
Der ganze Roman ist ein Spiel mit „monumentalen Platitüden”, bei dem man ernst und feierlich der Liebe, dem Schicksal, der Leidenschaft und vor allem „dem Leben” huldigt. Mit vorsichtigen Signalen werden die Banalitäten als solche ausgewiesen, und dieser Reigen aus Migräne, Weltschmerz und parasitärer Saugkraft legt das Schablonenhafte der Figuren bloß. Weil der Schriftsteller Lázár verstummt ist, müssen seine Einsichten durch den Phrasenfilter von Bürger, Gattin und Dienstmädchen hindurch.
Aber der Autor Márai, der elegante Skeptiker, der die Romanfigur Lázár mit einzelnen Zügen seiner literarischen Existenz ausstattet, meldet sich glücklicherweise in seinen Bekenntnissen, Erinnerungen und Briefen selbst zu Wort. Im Tagebuch von 1984 scheint er die Grundkonstellation der „Wandlungen einer Ehe” zusammenzufassen: „Soziographie, als Roman. Der Schriftsteller beschreibt gewissenhaft das Leben und die Gewohnheiten von Menschen, die einer bestimmten Klasse angehören. Er schreibt nur nicht darüber, dass der Mensch keine statische Abbildung ist, sondern Handlung.”
JUTTA PERSON
SÁNDOR MÁRAI: Wandlungen einer Ehe. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper Verlag, München 2003. 461 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Mann mit Idealen
Zerfallende Bürger: Sándor Márais
„Wandlungen einer Ehe”
„Familie ist immer auch Klassenkampf”, schreibt Sándor Márai in seinen „Bekenntnissen eines Bürgers” von 1934. Mann und Frau „wandern jahrzehntelang über die Eisfelder der Langeweile und Gewohnheit und hassen sich, weil der eine vornehmer und feiner erzogen wurde und Gabel und Messer anmutiger hält oder weil er aus seiner Kindheit einen besonderen Kastengeist mitgebracht hat”. Der vor wenigen Jahren wiederentdeckte ungarische Schriftsteller (1900–1989) dosiert Melancholie und Sarkasmus, Bitterkeit und Bissigkeit in einer Weise, die seinem Werk den Vergleich mit sämtlichen Größen der Donaumonarchie, von Schnitzler bis zu Roth, von Zweig bis zu Musil, eingetragen hat.
„Wandlungen einer Ehe”, ein im Zuge der Márai-Renaissance neu übersetzter Roman aus den vierziger Jahren, muss ohne diese heilsamen Gegengifte auskommen. An die Reflexionen des brillanten Zeitdiagnostikers, die treffsicheren Tagebücher des Exils und die szenische Verdichtung des 1942 erschienenen Romans „Die Glut” reicht dieses Ehemelodram nicht heran. Aber es führt die Grundkonstellation vor, die Márai sein Leben lang variiert: die Auflösung des Bürgertums nach den Weltkriegen und die von ihrer Klasse geprägten Beziehungen zwischen den Geschlechtern.
Der Sinn eines Frauenlebens
Péter, Fabrikant und einsamer Hüter der großbürgerlichen Kultur, ist mit einer schönen und gebildeten Frau verheiratet, die zwar aus dem Kleinbürgertum stammt, den Lebensstil und die Umgangsformen der höherstehenden Schicht aber perfekt verinnerlicht hat. Obwohl sie ihren Mann liebt, gelingt die Ehe nicht, denn eine dritte Person steht zwischen ihnen. Es ist das Dienstmädchen, eine stolze Provinzschönheit, die jahrelang darauf wartet, dass Péter sich an ein verdrängtes Gefühl erinnert. Dreimal wird aus unterschiedlichen Perspektiven Bericht erstattet, und ähnlich wie in „Die Glut” verschwimmen die feinen Unterschiede zu immer neuen Koalitionen und Oppositionen. Mal gleichen sich die Frauen in ihrer Anpassungsfähigkeit an die männliche Kultur, mal rückt die bürgerliche Welt zusammen, die aus der proletarischen Froschperspektive nur ein Dienstbotenverhältnis erlaubt, selbst dann, wenn man zur „Gnädigen” aufgestiegen ist.
„Was ist der Sinn eines Frauenlebens?”, fragt der melancholische Ehemann seine enttäuschte Gattin. „Ein Gefühl, dem sich die Frau überlässt, mit Haut und Haar. Ich weiß das, aber nur vom Verstand her. Ich kann mich nicht einem Gefühl überlassen.” Die emotionalen oder rationalen, wilden oder gezähmten Charaktere bündeln alle Klischees, die auf der männlich-weiblichen sowie der bürgerlich-proletarischen Achse zu vergeben sind: Die Ehefrau ist gefühlsbetont, aber parkettsicher, der Verstandesmensch rettet sich vor seinen Trieben in starre Disziplin, und die Hausangestellte beendet die kränkelnden Konventionen mit barbarischer Urgewalt. Flora und Fauna sind nicht weit: Sie ähnelt den Lianen, die „ihrer Umgebung alles Lebensnotwendige absaugen”.
Mit teurem Rasierwasser
Doch diese Elemente sind in all ihrer Gewöhnlichkeit genau berechnet: Der Schriftsteller Lázár, noch einsamer, gebildeter und resignierter als sein Jugendfreund Péter, lässt sie in der Tradition des chemisch-literarischen Experiments aufeinanderprallen. Er ist der eigentliche Beschützer bürgerlicher Kultur, die sein Freund mit teurem Rasierwasser verteidigt. Als Beobachter des individuellen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs verwandelt der Schriftsteller die Dreiecksgeschichte in ein strategisches Spielfeld. Sinnbild dieser Übertragung ist das „Herr-Kovács- Spiel”, das die Freunde perfektioniert haben. Es funktioniert so, dass man Gemeinplätze äußert, ohne sie als solche herauszustellen: „Seit es die Welt gibt, reden sämtliche Damen und Herren Kovács so. Und wenn der Zug anfährt, sagen sie: ‚Wir fahren.‘ Und wenn der Zug in Füzesabony anhält, sagen sie ernst und feierlich ‚Füzesabony‘. Und sie haben immer recht.”
Der ganze Roman ist ein Spiel mit „monumentalen Platitüden”, bei dem man ernst und feierlich der Liebe, dem Schicksal, der Leidenschaft und vor allem „dem Leben” huldigt. Mit vorsichtigen Signalen werden die Banalitäten als solche ausgewiesen, und dieser Reigen aus Migräne, Weltschmerz und parasitärer Saugkraft legt das Schablonenhafte der Figuren bloß. Weil der Schriftsteller Lázár verstummt ist, müssen seine Einsichten durch den Phrasenfilter von Bürger, Gattin und Dienstmädchen hindurch.
Aber der Autor Márai, der elegante Skeptiker, der die Romanfigur Lázár mit einzelnen Zügen seiner literarischen Existenz ausstattet, meldet sich glücklicherweise in seinen Bekenntnissen, Erinnerungen und Briefen selbst zu Wort. Im Tagebuch von 1984 scheint er die Grundkonstellation der „Wandlungen einer Ehe” zusammenzufassen: „Soziographie, als Roman. Der Schriftsteller beschreibt gewissenhaft das Leben und die Gewohnheiten von Menschen, die einer bestimmten Klasse angehören. Er schreibt nur nicht darüber, dass der Mensch keine statische Abbildung ist, sondern Handlung.”
JUTTA PERSON
SÁNDOR MÁRAI: Wandlungen einer Ehe. Roman. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Piper Verlag, München 2003. 461 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
»Der Autor schenkt dem Leser ein feinsinniges Bild einer Epoche des Großbürgertums, das es so nie wieder geben wird.« Neue Westfälische 20131220