Vor dem "Osttransport" nach Auschwitz kann Willi Weber die Gedichte seiner Frau Ilse in einem Geräteschuppen einmauern - Gedichte und Lieder, die sie für ihre Mithäftlinge und ihre Pflegekinder geschrieben hat. Willi überlebt und kann die Papiere nach der Befreiung in Sicherheit bringen: die Schilderungen ihres Lebens als Jüdin in Mähren, die Briefe, in denen sie vom Terror des Nationalsozialismus erzählt, die Trostgesänge aus der Kinderkrankenstube im KZ. Das Buch macht zum ersten Mal die charismatische Figur Ilse Weber sichtbar, die bei Überlebenden von Theresienstadt und in der Literatur ein Mythos ist, von deren Werk aber bisher fast nichts bekannt war.
Ilse Webers Texte aus Theresienstadt
Die meisten Gedichte und Liedtexte von Ilse Weber hatte Willy Weber in der kurzen Zeit, die ihm vor seinem Abtransport nach Auschwitz blieb, in einem alten Geräteschuppen in Theresienstadt versteckt und unmittelbar nach dem Krieg wieder hervorgeholt. Die Briefe - die frühesten sind auf 1933 datiert - hatte seine Frau, solange es möglich war, an Freunde und Verwandte, vor allem aber an ihren kleinen Sohn und dessen Pflegeeltern in England und Schweden, geschrieben; ein großer Teil wurde viel später auf dem Dachboden eines englischen Hauses entdeckt. Es sind die wenigen geretteten Zeugnisse einer begabten jüdischen Schriftstellerin, deren Leben 1944 in den Gaskammern von Auschwitz endete.
Ilse Weber, 1903 in Witkowitz bei Mährisch-Ostrau geboren, war unter ihrem Mädchennamen Herlinger als Autorin von Kinderbüchern und Hörspielen bekannt. Sie übersetzte auch Lyrik und fühlte sich Karl Kraus und Karel Capek verbunden. Ihre beste Freundin war Lillian, die Tochter eines schwedischen Diplomaten; sie war die Einzige, auf die sie sich verlassen konnte, als Repressalien und Verfolgung auch in der Tschechoslowakei unerträglich wurden. Ihr gegenüber klagte sie: "Wir sind rechtlos, schutzlos, staatenlos, ins Niemandsland abgeschoben ... Ostrau ist überfüllt mit Flüchtlingen, wir leben unter Bestien ... An Dich klammert sich mein Glaube an die Menschheit." Nachdem alle Flucht- und Auswanderungsversuche der Familie gescheitert waren, vertraute sie der Freundin ihren ältesten Sohn an. Mit einem der letzten Kindertransporte erreichte der Achtjährige England, fand aber bald eine neue Zuflucht bei Lillians Mutter in Schweden.
Ilse Weber blieb mit ihrem Mann und dem jüngsten Sohn in Prag zurück, wo sie zunächst eine Dreizimmerwohnung bezogen; wenig später mussten sie sich mit ihrer alten Mutter in einem einzigen Raum zusammendrängen. "Thomys (des Jüngsten) Gegenwart vertreibt Selbstmordgedanken", schreibt sie an die Freundin. Sie bittet inständig um Nachrichten aus "einer besseren Welt", sorgt sich, dass der Älteste seine Muttersprache vergessen oder seinen Gasteltern gegenüber nicht dankbar genug sein könnte. Auf dem jüdischen Friedhof von Prag, der einzigen grünen Oase, die sie betreten darf, sammelt sie Blätter von den Gräbern von Berühmtheiten und schickt sie dem Sohn. Sie sehnt sich nach ihm und versucht, über die Entfernung hinweg durch die lebendige Beschreibung von vertrauten Kinderszenen die innige Verbundenheit zu erhalten.
Die Herausgeberin Ulrike Migdal lässt die Briefe unkommentiert. Erst im Anhang liefert sie kurze Erklärungen nach. So entstehen Informationslücken. Die Intensität der Briefe von Ilse Weber lässt trotzdem einen Vergleich mit denen von Lilly Jahn zu. In Prag war Ilse Weber neben ihrer Arbeit als Näherin unfähig, Gedichte zu schreiben. Lebensmittel und Heizmaterial aufzutreiben wurde immer schwieriger. Die Angst um das Überleben wuchs wie die täglichen, unerträglichen Kränkungen. Im Jahre 1942 musste die Familie innerhalb von drei Stunden nach Theresienstadt "umsiedeln". Dort, in der Kaserne in Theresienstadt, die statt den tausend Soldaten, für die sie gebaut worden war, jetzt fünftausend Juden als Unterkunft diente, begann Ilse Weber in Versen ihren Alltag, ihre Sehnsucht und ihre schwindende Hoffnung zu schildern. Die Gedichte gingen im Lager von Hand zu Hand. Sie waren eine Stimme gegen das ungeheure Verbrechen: Anklage, aber auch Trost im Leiden und eine sehnsüchtige Beschwörung des verlorenen Lebens in Freiheit. Es seien ihre schönsten Gedichte, haben Kenner ihres Werks festgestellt.
Für die Kinder im Krankenhaus - in jedem einzelnen sah Ilse Weber vermutlich ihre eigenen - schrieb sie auch Wiegenlieder. Sie pflegte sie nicht nur, sie sang und spielte auch mit ihnen. Obwohl sie hätte fliehen können, begleitete sie die Kinder 1944 in die Gaskammern. Wie Janusz Korczak bis zum Ende bei seinen polnischen Waisenkindern blieb, so hat auch Ilse Weber freiwillig und in voller Kenntnis darüber, was sie in Auschwitz erwartete, diesen letzten Gang auf sich genommen. Erschütternd ist der Bericht eines tschechischen Häftlings, der die Leichen aus den Öfen ziehen musste, über seine letzte Begegnung mit Ilse Weber. Sie erkannte den Landsmann und fragte ihn: "Stimmt es, dass wir duschen dürfen nach der Reise?" Er wollte nicht lügen. Das sei kein Duschraum, sondern eine Gaskammer, antwortete er. So schnell wie möglich solle sie mit den Kindern singend hineingehen, sich auf den Boden setzen und weitersingen. "So atmet ihr das Gas schneller ein. Sonst werdet ihr von den anderen zu Tode getreten, wenn Panik ausbricht." - "Also werden wir nicht duschen", waren Ilse Webers letzte Worte.
Hanus Weber, Ilses ältester Sohn, traf diesen Freund aus Ostrau viele Jahre nach Kriegsende zufällig bei einem Besuch in Deutschland. Er hatte lange schon Erinnerungen an seine Mutter von überlebenden Leidensgefährten in Theresienstadt und Auschwitz gesammelt und war zusammen mit seinem Vater vielen Spuren nachgegangen. Ulrike Migdal stellte er für dieses Buch das gesamte Material zur Verfügung. Ihr Kommentar am Schluss enthält zahlreiche Briefe und authentische Berichte. Die Herausgeberin erzählt auch von wiederholten Gesprächen mit Hanus Weber, der Korrespondent des schwedischen Fernsehens geworden ist und mehrmals Briefe und Gedichte seiner Mutter öffentlich vorgelesen hat.
Zeugnisse aus Theresienstadt sind auch die Zeichnungen von Künstlern, die aus dem Lager geschmuggelt wurden und von denen hier einige abgebildet sind. Bedrich Frittas "Osttransport" ist eine der eindrucksvollsten Bleistiftzeichnungen: ein dunkler höhlenartiger Raum, in dem Menschen wie Gepäckstücke in Haufen, mit einer Nummer gekennzeichnet und übereinandergestapelt, auf die letzte Reise warten. Ein Höllenszenario aus der Zeit des "Dritten Reichs", das nicht vergessen werden darf, so ungeheuerlich es auch heute erscheinen mag.
MARIA FRISÉ
Ilse Weber: "Wann wohl das Leid ein Ende hat". Briefe und Gedichte aus Theresienstadt. Herausgegeben von Ulrike Migdal. Hanser Verlag, München 2008. 382 S., geb., 21,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Berührt zeigt sich Oliver Pfohlmann von Ilse Webers Briefen und Gedichten aus Theresienstadt. Wie er berichtet, wurde Weber, die vor 1933 eine gefragte Kinderbuch- und Hörspielautorin war, 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort arbeitete sie als Kinderkrankenschwester, bis sie 1944 in Auschwitz zusammen mit ihrem Sohn vergast wurde. Pfohlmann hebt hervor, dass die Gedichte und Lieder, die Weber in Theresienstadt verfasste, für ihre Zuhörer geradezu "therapeutische Qualitäten" hatten und ihnen Lebensmut, Trost und Hoffnung spendeten, ohne das alltägliche Grauen auszusparen. Eindringlich findet Pfohlmann auch Webers Briefe an eine schwedische Freundin, die bedrückenden Veränderungen nach 1933 schildern und die zunehmende Verzweiflung der Autorin bezeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ilse Webers Lieder und Gedichte beschreiben in schlichter Sprache das Leid und die Schrecken des KZ-Lebens und zeugen gleichzeitig von Mut und unzerstörbarer Hoffnung." Brigitte, 22/2008