80. Jahrestag der Wannseekonferenz: »Gekonnt und mit viel Detailwissen führt Longerich den Leser in die dunkle Welt monströser Mordabsichten mitten im Zweiten Weltkrieg.« Süddeutsche Zeitung
Am 20. Januar 1942 kamen fünfzehn hochrangige Vertreter des NS-Staates auf Einladung von Reinhard Heydrich in einer luxuriösen Villa am Wannsee zusammen, um über die »Endlösung« der »Judenfrage« zu beraten: Man entschied, so dokumentiert es das Protokoll, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie mörderischer Zwangsarbeit auszusetzen und die Überlebenden und Nichtarbeitsfähigen auf andere Weise ums Leben zu bringen. Peter Longerich, einer der angesehensten Historiker der NS-Geschichte, zeigt, wie die Führungsinstanz des »Dritten Reiches« aus einer vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und welch hohe Bedeutung der Wannseekonferenz innerhalb des Holocaust zukommt.
Am 20. Januar 1942 kamen fünfzehn hochrangige Vertreter des NS-Staates auf Einladung von Reinhard Heydrich in einer luxuriösen Villa am Wannsee zusammen, um über die »Endlösung« der »Judenfrage« zu beraten: Man entschied, so dokumentiert es das Protokoll, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie mörderischer Zwangsarbeit auszusetzen und die Überlebenden und Nichtarbeitsfähigen auf andere Weise ums Leben zu bringen. Peter Longerich, einer der angesehensten Historiker der NS-Geschichte, zeigt, wie die Führungsinstanz des »Dritten Reiches« aus einer vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und welch hohe Bedeutung der Wannseekonferenz innerhalb des Holocaust zukommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2017Neue Eskalation der Vernichtung
Der historische Ort der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942
Peter Longerich hat nach großen Biographien zu Goebbels, Hitler und Himmler und Studien zur Geschichte des Holocausts sich jetzt - 75 Jahre nach dem historischen Datum - noch einmal in herausragender Art und Weise der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942 zugewandt. Nur eines von ursprünglich 30 Exemplaren des Konferenzprotokolls überstand in den Akten des Auswärtigen Amts die NS-Zeit und wurde schon bald darauf von Robert M. W. Kempner entdeckt. Seither gehört es zu den zentralen Dokumenten des Massenmords an den Juden Europas. Longerich schildert jedoch nicht nur die Umstände der Konferenz und legt eine vorzügliche, Protokollseite für Protokollseite präzise Interpretation des Protokolls vor, sondern stellt dies in den Kontext von Kriegsgeschehen, Entscheidungsfindung zur "Endlösung" und Realisierung des Massenmords vor allem 1941/42.
Longerich macht noch einmal deutlich, dass die "Entfernung der Juden" aus Deutschland zu den zentralen Zielen Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung seit ihren Anfängen gehörte. Die Regierungsübernahme 1933 bot die Möglichkeit, dieses Ziel durch Diskriminierung, Entrechtung und Einschüchterung zu realisieren und den Auswanderungsdruck auf die deutschen Juden stetig zu erhöhen. Nach Kriegsbeginn wurden 1939/40 "territoriale Lösungen" mit Zwangsaustreibungen und Deportationen diskutiert. "Judenreservate" im besetzten Polen, in Madagaskar oder später in der Sowjetunion sollten entstehen. Der Angriff auf die Sowjetunion bot dann die Möglichkeit, von der Vertreibungspolitik zum kalkulierten und geplanten Massenmord überzugehen. Zuerst wurden jüdische Männer, spätestens ab September 1941 auch Frauen und Kinder in hundertausendfacher Zahl exekutiert.
Gleichzeitig entstanden im Herbst 1941 konkrete Pläne für den Bau von Vernichtungsstätten im besetzten Polen, die später unter den Namen Belzec, Sobibor und Treblinka bekannt wurden. Zur selben Zeit wurden die Deportationen der deutschen Juden vorbereitet, zuerst auch gedacht als Antwort gegenüber der von Stalin durchgeführten Deportation der Wolgadeutschen, später als Druckmittel gegenüber einem möglichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Christian Gerlach hat vor knapp 20 Jahren deutlich gemacht, dass Hitler seine Entscheidung zu der von ihm mehrfach auch öffentlich angekündigten "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" am 12. Dezember 1941 hohen und höchsten NS-Führern gegenüber verkündet hat. Damit hätte sich der Stellenwert der Wannsee-Konferenz, die ursprünglich für den 9. Dezember zur Koordination der Deportationen von Deutschen und von Juden aus den besetzen Gebieten gedacht war, gewandelt.
Peter Longerich kommt zu einer etwas anderen, sehr plausibel begründeten Einschätzung. Er sieht den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, hier neben Hitler und Himmler als zentralen Akteur, der den bereits begonnenen Massenmord mit dem Gesamtplan einer "großen Deportationslösung mit dem Ziel der besetzten Gebiete" verknüpft habe. "Hinausgelaufen wäre es darauf, elf Millionen europäische Juden an die Peripherie des neuen deutschen Imperiums zu deportieren und sie durch eine Mischung aus erschöpfender Zwangsarbeit, katastrophalen Lebensbedingungen in Lagern und direkten Mordaktionen (bei gleichzeitiger Verhinderung von Geburten) in einem wohl noch nicht bestimmten Zeitraum auszulöschen."
Diese Planung sei jedoch durch die Entscheidungen Hitlers über die Deportationen aus dem Reichsgebiet und die Position Himmlers, den "in bestimmten Schlüsselzonen in Gang gekommenen Mordprozess mit allen Mitteln" weiter voranzutreiben, teilweise überholt gewesen. So wurde auf der Wannsee-Konferenz selbst eine Weichenstellung eingeleitet, "in deren Verlauf das Wann, das Wie und das Wo der ,Endlösung' neu bestimmt" worden sei. Jetzt nicht mehr nach dem Krieg, sondern im Krieg; nicht mehr in der Sowjetunion, sondern im besetzten Polen, nicht mehr durch Massenexekutionen, sondern mit verschiedenen Technologien des Gasmordes. Doch - so Longerich - die Realisierung und konkrete Durchführung der "Endlösung" habe dann erst im Mai und Juni 1942 konkrete Gestalt angenommen. Die neue Eskalation der Vernichtungspolitik lief darauf hinaus, "in möglichst kurzer Zeit, in jedem Fall vor Ende des Krieges, alle in deutscher Reichweite befindlichen Juden Europas unterschiedslos zu ermorden".
In einer Zeit, in der die Lehre über den Nationalsozialismus und den Holocaust an den deutschen Universitäten - wie jüngst eine Studie zeigte - immer mehr an Bedeutung verliert, kommt Longerichs Buch zur rechten Zeit. Es gehört in die Hand jeder Lehrerin und jedes Lehrers, die im Unterricht die mörderische Politik des nationalsozialistischen Deutschlands verständlich machen wollen. Dieser Band verbindet exzellente Detailkenntnisse mit der Fähigkeit, die unterschiedlichen Strömungen an der Spitze des nationalsozialistischen Staates so zu analysieren, dass die Einigkeit im Ziel des Massenmords ebenso erkennbar bleibt wie die unterschiedlichen Strategien dazu und die endgültige Entwicklung im Frühjahr 1942.
JOHANNES TUCHEL
Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur "Endlösung". Pantheon Verlag, München 2016. 221 S., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der historische Ort der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942
Peter Longerich hat nach großen Biographien zu Goebbels, Hitler und Himmler und Studien zur Geschichte des Holocausts sich jetzt - 75 Jahre nach dem historischen Datum - noch einmal in herausragender Art und Weise der "Wannsee-Konferenz" vom 20. Januar 1942 zugewandt. Nur eines von ursprünglich 30 Exemplaren des Konferenzprotokolls überstand in den Akten des Auswärtigen Amts die NS-Zeit und wurde schon bald darauf von Robert M. W. Kempner entdeckt. Seither gehört es zu den zentralen Dokumenten des Massenmords an den Juden Europas. Longerich schildert jedoch nicht nur die Umstände der Konferenz und legt eine vorzügliche, Protokollseite für Protokollseite präzise Interpretation des Protokolls vor, sondern stellt dies in den Kontext von Kriegsgeschehen, Entscheidungsfindung zur "Endlösung" und Realisierung des Massenmords vor allem 1941/42.
Longerich macht noch einmal deutlich, dass die "Entfernung der Juden" aus Deutschland zu den zentralen Zielen Hitlers und der nationalsozialistischen Bewegung seit ihren Anfängen gehörte. Die Regierungsübernahme 1933 bot die Möglichkeit, dieses Ziel durch Diskriminierung, Entrechtung und Einschüchterung zu realisieren und den Auswanderungsdruck auf die deutschen Juden stetig zu erhöhen. Nach Kriegsbeginn wurden 1939/40 "territoriale Lösungen" mit Zwangsaustreibungen und Deportationen diskutiert. "Judenreservate" im besetzten Polen, in Madagaskar oder später in der Sowjetunion sollten entstehen. Der Angriff auf die Sowjetunion bot dann die Möglichkeit, von der Vertreibungspolitik zum kalkulierten und geplanten Massenmord überzugehen. Zuerst wurden jüdische Männer, spätestens ab September 1941 auch Frauen und Kinder in hundertausendfacher Zahl exekutiert.
Gleichzeitig entstanden im Herbst 1941 konkrete Pläne für den Bau von Vernichtungsstätten im besetzten Polen, die später unter den Namen Belzec, Sobibor und Treblinka bekannt wurden. Zur selben Zeit wurden die Deportationen der deutschen Juden vorbereitet, zuerst auch gedacht als Antwort gegenüber der von Stalin durchgeführten Deportation der Wolgadeutschen, später als Druckmittel gegenüber einem möglichen Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Christian Gerlach hat vor knapp 20 Jahren deutlich gemacht, dass Hitler seine Entscheidung zu der von ihm mehrfach auch öffentlich angekündigten "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" am 12. Dezember 1941 hohen und höchsten NS-Führern gegenüber verkündet hat. Damit hätte sich der Stellenwert der Wannsee-Konferenz, die ursprünglich für den 9. Dezember zur Koordination der Deportationen von Deutschen und von Juden aus den besetzen Gebieten gedacht war, gewandelt.
Peter Longerich kommt zu einer etwas anderen, sehr plausibel begründeten Einschätzung. Er sieht den Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, hier neben Hitler und Himmler als zentralen Akteur, der den bereits begonnenen Massenmord mit dem Gesamtplan einer "großen Deportationslösung mit dem Ziel der besetzten Gebiete" verknüpft habe. "Hinausgelaufen wäre es darauf, elf Millionen europäische Juden an die Peripherie des neuen deutschen Imperiums zu deportieren und sie durch eine Mischung aus erschöpfender Zwangsarbeit, katastrophalen Lebensbedingungen in Lagern und direkten Mordaktionen (bei gleichzeitiger Verhinderung von Geburten) in einem wohl noch nicht bestimmten Zeitraum auszulöschen."
Diese Planung sei jedoch durch die Entscheidungen Hitlers über die Deportationen aus dem Reichsgebiet und die Position Himmlers, den "in bestimmten Schlüsselzonen in Gang gekommenen Mordprozess mit allen Mitteln" weiter voranzutreiben, teilweise überholt gewesen. So wurde auf der Wannsee-Konferenz selbst eine Weichenstellung eingeleitet, "in deren Verlauf das Wann, das Wie und das Wo der ,Endlösung' neu bestimmt" worden sei. Jetzt nicht mehr nach dem Krieg, sondern im Krieg; nicht mehr in der Sowjetunion, sondern im besetzten Polen, nicht mehr durch Massenexekutionen, sondern mit verschiedenen Technologien des Gasmordes. Doch - so Longerich - die Realisierung und konkrete Durchführung der "Endlösung" habe dann erst im Mai und Juni 1942 konkrete Gestalt angenommen. Die neue Eskalation der Vernichtungspolitik lief darauf hinaus, "in möglichst kurzer Zeit, in jedem Fall vor Ende des Krieges, alle in deutscher Reichweite befindlichen Juden Europas unterschiedslos zu ermorden".
In einer Zeit, in der die Lehre über den Nationalsozialismus und den Holocaust an den deutschen Universitäten - wie jüngst eine Studie zeigte - immer mehr an Bedeutung verliert, kommt Longerichs Buch zur rechten Zeit. Es gehört in die Hand jeder Lehrerin und jedes Lehrers, die im Unterricht die mörderische Politik des nationalsozialistischen Deutschlands verständlich machen wollen. Dieser Band verbindet exzellente Detailkenntnisse mit der Fähigkeit, die unterschiedlichen Strömungen an der Spitze des nationalsozialistischen Staates so zu analysieren, dass die Einigkeit im Ziel des Massenmords ebenso erkennbar bleibt wie die unterschiedlichen Strategien dazu und die endgültige Entwicklung im Frühjahr 1942.
JOHANNES TUCHEL
Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur "Endlösung". Pantheon Verlag, München 2016. 221 S., 14,99 [Euro].
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»Bewundernswert gelungen. Es ist aber auch fesselnd geschrieben - und das ist kein kleines Lob für ein wissenschaftliches Werk über ein so grauenvolles Thema.« Frank Vollmer in der Rheinischen Post