Kreuzlingen am Schweizer Ufer des Bodensees und Scharbeutz an der Ostsee geben diesem Buch nicht nur einen geographischen, sondern auch einen kulturgeschichtlichen Ort. Der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg, Begründer einer bildwissenschaftlichen Ikonologie, führte dort wegweisende Gespräche mit zwei herausragenden Zeitgenossen: in Kreuzlingen im Jahr 1924 mit demPhilosophen Ernst Cassirer und gut vier Jahre später in Scharbeutz mit dem Physiker Albert Einstein. Warburg, soeben von langwieriger Krankheit genesen, suchte den Austausch mit Gleichgesinnten, nachdem er zurückgezogen im Sanatorium über verschiedene kulturgeschichtliche Themen nachgedacht hatte. Ihn beschäftigten vor allem der Astronom Johannes Kepler und die Frage nach dem Aufbau des Kosmos. Wie entstand das moderne Weltbild? In den Begegnungen Warburgs mit Cassirer und Einstein kommen Kunstgeschichte, Philosophie und Naturwissenschaften zusammen und erhellen sich wechselseitig, mit großem Gewinn für den Leser. Ein besonders sprechendes Zeugnis des Treffens in Scharbeutz ist eine soeben gefundene Skizze Einsteins, mit deren Hilfe er Keplers Berechnungen für Warburg erläuterte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2015Albert Einstein konnte ihm nicht folgen
Elliptisch: Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl kennen die Wege des Kunsthistorikers Aby Warburg in die Astrologie
Anfang September 1928 besuchte Aby Warburg gemeinsam mit seiner Frau Mary den im Ostseebad Scharbeutz kurenden Albert Einstein. "Wir fuhren zu Einstein", so berichtete Warburg wenig später an den Philosophen und Freund Ernst Cassirer, "dem ich schon längst einmal die Wucht der bildhaften astrischen Symbolik als Urschicht seiner eigenen Gedankenbildung hatte vorführen wollen." Cassirer wusste, worum es ging, die Formulierung konnte ihn nicht verwundern. Einstein allerdings, darauf deutet ein Dankschreiben an Warburg hin, scheint bei aller freundlichen Neugier das zentrale Anliegen seines Besuchers aus Hamburg nicht ganz eingeleuchtet zu haben.
Was der eigenwillige Kulturwissenschaftler dem berühmten Physiker damals präsentierte, muss nicht aufwendig erschlossen werden. Es ging um eine für Warburg zentrale Verlaufsfigur, die von der Astrologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit zur modernen Astronomie und Physik führt: vom Glauben an die Wirkkraft der auf den Sternhimmel projizierten Bilder und ihrer Personifikationen hin zur rechenhaften Beherrschung der Phänomene.
Die Heldenfigur dieses Übergangs war für Warburg Johannes Kepler. An ihm war zu sehen, wie ein tief in pythagoreisch-platonischen Traditionen stehender Astronom, der auch mit der Astrologie vertraut war, unter dem Eindruck einer winzigen, aber nicht zu beseitigenden empirischen Unstimmigkeit den zentralen Artikel ebendieser Traditionen verwarf, nämlich die Kreisform himmlischer Bewegung. Als "Übergangstype" zeigte Kepler für Warburg, wie sich solcher Sinn für empirische Passung und genaue Berechnung aus den alten Denkweisen und Bildwelten herausarbeitete - aus der "bildhaften astrischen Symbolik" eben, deren abgesunkenes Erbe er Einstein vor Augen führte wollte.
Zu Warburgs Bild von Kepler ist Neues zwar kaum mehr beizubringen, und auch dem Besuch bei Einstein hat Horst Bredekamp bereits vor einigen Jahren einen Aufsatz gewidmet. Nun aber hat der Berliner Kunsthistoriker gemeinsam mit Claudia Wedepohl, Archivleiterin des Londoner Warburg Institute, Warburgs Auseinandersetzung mit Kepler noch einmal zum Gegenstand einer bündigen Darstellung gemacht. Die Geschichte von Warburgs Beschäftigung mit Astrologie und Himmelsbildern wird dabei zurückverfolgt bis zur Entschlüsselung des astrologisch unterlegten Bildprogramms der Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara.
Dort ging es um die "Restitution des Olymp", also um einen ersten Schritt der Relativierung astrologischer Schicksalsmächte durch Rückgriff auf wiederbelebte antike Sphärenmodelle. Von diesen Modellen führte ein kurzer Weg zum Gebrauch, den Kepler von ihnen machte (F.A.Z. vom 23. Juli 2014), und damit zu ihrer Zerstörung durch die Einführung der elliptischen Bahnen. Dass er mit der "Ellipsenentdeckung als Markscheide der Kulturepochen" etwas traf, bestätigten ihm Gespräche mit Ernst Cassirer, der Warburg im Frühjahr 1924 im Sanatorium in Kreuzlingen besuchte und dabei zum ersten Mal persönlich kennenlernte.
Zeugnis der Begegnung mit Einstein vier Jahre später geben nicht nur Warburgs Berichte, sondern auch eine von Bredekamp ausführlich interpretierte Zeichnung, mit der Einstein wohl für Warburg skizzierte, wie Kepler die von Tycho Brahe vermessenen Marspositionen zur Bestimmung der Erdbahn nutzte. Bei Warburgs Hinweisen, welche Rolle Astrologisches in Keplers Entwicklung gespielt habe, blieb Einstein allerdings harthörig. An den Rand seiner brieflichen Bemerkung, dass Kepler sich wohl geschämt haben müsse, mit dem "plumpen Spiel" der Astrologie Geld zu verdienen, notierte Warburg deshalb ein "doch so!" - und lag damit, trotz aller Ironie, die Kepler über einfach gestrickte astrologische Berechnungen und Deutungen ausgegossen hat, durchaus nicht falsch.
HELMUT MAYER.
Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl: "Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch". Kepler als Schlüssel der Moderne.
Wagenbach Verlag, Berlin 2015. 112 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elliptisch: Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl kennen die Wege des Kunsthistorikers Aby Warburg in die Astrologie
Anfang September 1928 besuchte Aby Warburg gemeinsam mit seiner Frau Mary den im Ostseebad Scharbeutz kurenden Albert Einstein. "Wir fuhren zu Einstein", so berichtete Warburg wenig später an den Philosophen und Freund Ernst Cassirer, "dem ich schon längst einmal die Wucht der bildhaften astrischen Symbolik als Urschicht seiner eigenen Gedankenbildung hatte vorführen wollen." Cassirer wusste, worum es ging, die Formulierung konnte ihn nicht verwundern. Einstein allerdings, darauf deutet ein Dankschreiben an Warburg hin, scheint bei aller freundlichen Neugier das zentrale Anliegen seines Besuchers aus Hamburg nicht ganz eingeleuchtet zu haben.
Was der eigenwillige Kulturwissenschaftler dem berühmten Physiker damals präsentierte, muss nicht aufwendig erschlossen werden. Es ging um eine für Warburg zentrale Verlaufsfigur, die von der Astrologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit zur modernen Astronomie und Physik führt: vom Glauben an die Wirkkraft der auf den Sternhimmel projizierten Bilder und ihrer Personifikationen hin zur rechenhaften Beherrschung der Phänomene.
Die Heldenfigur dieses Übergangs war für Warburg Johannes Kepler. An ihm war zu sehen, wie ein tief in pythagoreisch-platonischen Traditionen stehender Astronom, der auch mit der Astrologie vertraut war, unter dem Eindruck einer winzigen, aber nicht zu beseitigenden empirischen Unstimmigkeit den zentralen Artikel ebendieser Traditionen verwarf, nämlich die Kreisform himmlischer Bewegung. Als "Übergangstype" zeigte Kepler für Warburg, wie sich solcher Sinn für empirische Passung und genaue Berechnung aus den alten Denkweisen und Bildwelten herausarbeitete - aus der "bildhaften astrischen Symbolik" eben, deren abgesunkenes Erbe er Einstein vor Augen führte wollte.
Zu Warburgs Bild von Kepler ist Neues zwar kaum mehr beizubringen, und auch dem Besuch bei Einstein hat Horst Bredekamp bereits vor einigen Jahren einen Aufsatz gewidmet. Nun aber hat der Berliner Kunsthistoriker gemeinsam mit Claudia Wedepohl, Archivleiterin des Londoner Warburg Institute, Warburgs Auseinandersetzung mit Kepler noch einmal zum Gegenstand einer bündigen Darstellung gemacht. Die Geschichte von Warburgs Beschäftigung mit Astrologie und Himmelsbildern wird dabei zurückverfolgt bis zur Entschlüsselung des astrologisch unterlegten Bildprogramms der Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara.
Dort ging es um die "Restitution des Olymp", also um einen ersten Schritt der Relativierung astrologischer Schicksalsmächte durch Rückgriff auf wiederbelebte antike Sphärenmodelle. Von diesen Modellen führte ein kurzer Weg zum Gebrauch, den Kepler von ihnen machte (F.A.Z. vom 23. Juli 2014), und damit zu ihrer Zerstörung durch die Einführung der elliptischen Bahnen. Dass er mit der "Ellipsenentdeckung als Markscheide der Kulturepochen" etwas traf, bestätigten ihm Gespräche mit Ernst Cassirer, der Warburg im Frühjahr 1924 im Sanatorium in Kreuzlingen besuchte und dabei zum ersten Mal persönlich kennenlernte.
Zeugnis der Begegnung mit Einstein vier Jahre später geben nicht nur Warburgs Berichte, sondern auch eine von Bredekamp ausführlich interpretierte Zeichnung, mit der Einstein wohl für Warburg skizzierte, wie Kepler die von Tycho Brahe vermessenen Marspositionen zur Bestimmung der Erdbahn nutzte. Bei Warburgs Hinweisen, welche Rolle Astrologisches in Keplers Entwicklung gespielt habe, blieb Einstein allerdings harthörig. An den Rand seiner brieflichen Bemerkung, dass Kepler sich wohl geschämt haben müsse, mit dem "plumpen Spiel" der Astrologie Geld zu verdienen, notierte Warburg deshalb ein "doch so!" - und lag damit, trotz aller Ironie, die Kepler über einfach gestrickte astrologische Berechnungen und Deutungen ausgegossen hat, durchaus nicht falsch.
HELMUT MAYER.
Horst Bredekamp und Claudia Wedepohl: "Warburg, Cassirer und Einstein im Gespräch". Kepler als Schlüssel der Moderne.
Wagenbach Verlag, Berlin 2015. 112 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
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