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Ihre Mutter Helena, das ist Elisabeths ganze Familie, sonst gibt es keine Verwandten. Und Helena ist nicht wie andere Mütter. Sie kommt von "dort", und hier, in Tel Aviv, im gerade entstandenen Staat Israel, versucht sie für sich und ihre Tochter ein neues Leben aufzubauen. Doch die Vergangenheit wirkt untergründig fort: Helena malt für ihre Tochter ein Bild, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. "Landarbeit" lautet das gestellte Thema, und während sich auf den Bildern der anderen Kinder Pioniere und Zitrusfrüchte tummeln, wachsen bei Helena nur Grabsteine in den Himmel. In einer Folge von…mehr

Produktbeschreibung
Ihre Mutter Helena, das ist Elisabeths ganze Familie, sonst gibt es keine Verwandten. Und Helena ist nicht wie andere Mütter. Sie kommt von "dort", und hier, in Tel Aviv, im gerade entstandenen Staat Israel, versucht sie für sich und ihre Tochter ein neues Leben aufzubauen. Doch die Vergangenheit wirkt untergründig fort: Helena malt für ihre Tochter ein Bild, um ihr bei den Hausaufgaben zu helfen. "Landarbeit" lautet das gestellte Thema, und während sich auf den Bildern der anderen Kinder Pioniere und Zitrusfrüchte tummeln, wachsen bei Helena nur Grabsteine in den Himmel. In einer Folge von eindringlichen, zum Teil aberwitzigen Episoden erinnert sich Elisabeth an ihre Mutter: eine Überlebende der Shoah, eine mutige und kämpferische Frau, entschieden auf ihre Würde bedacht, die sie mit Witz und Einfallsreichtum zu wahren weiß. Es ist die Gegenwart von Mutter und Tochter, von der Lizzie Doron erzählt, lakonisch und liebevoll - aus der Sicht des Kindes, das aufwächst mit den Ängsten
und der Trauer der Mutter, inmitten einer neuen Welt, die davon wenig wissen will und Menschen wie Helena allenfalls fragt: Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?

Autorenporträt
Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv. 2003 wurde ihr Roman 'Ruhige Zeiten' mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. 2007 erhielt sie den Jeanette Schocken Preis -Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.2005

Die Fernwirkung des Leidens
Lizzie Dorons Mutter-Tochter-Geschichte im Schatten der Schoa

Wie beschreibt man ein Buch, in dem durch ein brillantes Erzählmanöver das Tragische nur in der komischen Verzerrung der langen Schatten dargestellt wird, die es auf den Alltag wirft, und gerade dadurch an Schrecken, Tiefe und Würde gewinnt?

Klug und mit großer emotionaler Selbstdisziplin erzählt Lizzie Dorons Erinnerungsbuch vom Leben mit ihrer Mutter Helena in Tel Aviv in der Straße des Sieges/Ecke Straße des Heldentums zwischen den Jahren 1960 und 1990. Ihr Manöver besteht darin, daß die Erzählperspektive konsequent auf die Sicht des 1953 geborenen Kindes beschränkt bleibt. Die Tochter weiß nichts von der Geschichte der Mutter. Biographische Informationen werden spärlich und nur en passant offeriert. Doch sind sie die unersetzlichen Schlüssel zur Interpretation ihres Verhaltens. Helena, obgleich in einem kleinen polnischen Dorf geboren, war Teil einer großen, bürgerlichen, an die deutsche Kultur assimilierten Familie in Krakau. Sie allein überlebte die Nazi-Zeit.

Wie die Ideen in Platos Höhlengleichnis nicht direkt, sondern nur als Schatten wahrgenommen werden können, so liegen auch die biographischen Determinanten der Mutter außerhalb des Wahrnehmungsbereichs ihrer Tochter. Elisabeth sieht nur die Folgen, das verquere Verhalten der Mutter, ihre Verrückung in der Gegenwart, die Helenas Erfahrung in der nicht unmittelbar zugänglichen Vergangenheit entspricht (deren Details Lesern natürlich aus andern Quellen bekannt sind). Und da nur die Verrückung dargestellt ist, sind die erzählten Situationen oft auch unerbittlich komisch.

Da ist etwa der Kaffeeklatsch in Helenas Wohnung, zu dem sich alle zwei Wochen um fünf Uhr vier Damen einstellen. Soscha, Fanny, Itta und Guta sind Überlebende wie Helena. Die Türen und Läden werden geschlossen; eine trübe Glühbirne und ein Seelenlicht beleuchten die sich nun entfaltende bizarre Sinfonie des Wütens und Klagens. "Cholera, Kurves (Huren), Chasres (Schweine)!" schreit Itta. Soscha schneuzt in Berge von Taschentüchern. Fanny schaut in den Spiegel, nicht um die Lippen nachzuziehen, sondern weil sie nachsehen muß, ob sie noch existiert. Dann ist der Kaffee vorbei. Die Mutter notiert auf dem Kalender das nächste Treffen. Zur Tochter sagt sie nur: "Was weißt du? Was verstehst du von allem, was du siehst?"

Elisabeth versteht nicht viel. Sie versteht nicht, warum die Mutter eine so brutale "Selektion" ihrer schönen Bar-Mitzva-Geschenke vornimmt: "Das hierhin, das dorthin, das hierhin, das dorthin." Sie wirft die aussortierten Geschenke durchs Fenster auf den Hof. Ein Junge kommt jeden Tag und untersucht die toten Geschenke. Er will einmal Archäologe werden. Er schreibt einen Abschlußbericht, dessen letzter Satz ihm Helenas Umarmung einbringt: "Die einzige Gemeinsamkeit, die ich festgestellt habe, ist, daß auf allen Gegenständen stand: ,Made in Germany'."

Dann folgt man Helenas so pikaresker wie vergeblicher Suche nach überlebenden Verwandten in Israel, ihrem Rechten mit Gott, wenn sie ihm am Yom Kippur öffentlich die Leviten liest, indem sie ihn an die Namen der Toten in ihrer Familie erinnert. Beim Besuch an der Klagemauer nach dem Sechstagekrieg schreibt sie einen Zettel an Gott, "was nur auf deutsch ging", und erbricht sich dann. Der Tochter erklärt sie: "Wenn du groß bist, wirst du verstehen, daß das ein Fehler war, denn Gott akzeptiert schon lange keine Bitten von Juden auf deutsch." Die Mitbringsel und Souvenirs von Onkel Oded, einem Marineoffizier, begräbt Helena in der Nähe einer Kloake, als er eine Deutsche heiratet.

Nebenbei liefert Lizzie Doron in ihrem kühlen, konzentrierten und doch von tiefen Leidenschaften bewegten Buch die Lebensatmosphäre in Israel mit, vor allem in den sechziger Jahren: die Intensität und Verwirrung der Gefühle, die der Eichmann-Prozeß auslöste, die Glücks- und Freiheitsgefühle nach dem Sechstagekrieg, die Aggressivität der Gerüchteküche und der nachbarschaftlichen Einmischung in die privatesten Angelegenheiten, die kulturelle Kluft zwischen Nachkriegsimmigranten und Mandatszeitpionieren mit Karrieren in Irgun, Palmach und Haganah. "Warum ist deine Tochter so blaß und dünn?" wirft ein Zionist Helena an den Kopf. "Und was soll diese Diaspora-Kleidung? Und warum, sag mir, bist du nicht vor dem Krieg gekommen?"

Die Antwort wird diesem Höhlenbewohner nie faßlich sein, und sie wird in diesem Buch auch nicht versucht, denn sie liegt im Bereich des Unzugänglichen, dem vielleicht die Historiker sich in direkter Kontemplation zu nähern vermögen. Dem Zionisten und der Tochter bleiben die verzerrten Schatten, das verrückte Verhalten der Mutter. Es ist Lizzie Dorons großes Verdienst, in einem anklagelosen, von Mirjam Pressler wunderbar aus dem Hebräischen übertragenen Buch dieser schwierigen Mutter einen strahlenden Gedenkstein gesetzt zu haben.

SUSANNE KLINGENSTEIN

Lizzie Doron: "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?" Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 131 S., geb., 16,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein "wunderbares Buch" mit "großem Feingefühl und Gespür für stille, bittere Komik" erblickt Rezensent Carsten Hueck in Lizzie Dorons Erinnerungen an ihre Mutter Helena, eine Überlebende des Holocaust, die nach dem Krieg nach Israel einwanderte. In zwanzig Episoden aus dem israelischem Alltag zwischen 1960 und 1990 schildere die Ich-Erzählerin, ihre Tochter Elisabeth, die autobiografische Stimme Lizzie Dorons, "so einprägsam wie unaufdringlich" die "bizarre Existenz" der Shoah-Überlebenden: soziale Isolation, Fremdheit in Israel, Einsamkeit, Schweigen. Doron gelinge es, dem "Unsagbaren Klang und Form", der "Mutter Würde und Individualität" zu geben. Hueck charakterisiert das Buch als Geschichtsbuch und Biografie, verfasst mit Mitteln fiktionaler Prosa. Er würdigt die literarische Subtilität, die zarte, zurückgenommene Stimme, und die Sachlichkeit, mit der die Autorin aus Fragmenten und Leerstellen das Porträt ihrer Mutter formt. Es gelinge ihr, so der Rezensent, "das Schweigen der Mutter zum Reden zu bringen, Kohärenz herzustellen, wo herkömmliche Logik fehlt".

© Perlentaucher Medien GmbH
Wunderbar, traurig und ergreifend. A. Sauer fachbuchkritik.de 20170203