Die Demokratie steckt in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Menschen sehnen sich seit jeher nach Lichtgestalten. Passt das heute noch in unser aufgeklärtes Weltbild? Ja, sagt Dieter Thomä. Er wendet sich gegen diejenigen, die sich in einer postheroischen Gesellschaft einrichten, und zeigt, wie leblos eine Demokratie ist, in der alle gleich sind. Thomä erklärt, warum heute Menschen gefragt sind, die über sich hinauswachsen und andere motivieren, es ihnen gleich zu tun. Die Demokratie tut gut daran, das Heldentum nicht denen zu überlassen, die autoritär oder fundamentalistisch denken. Denn sie wird nicht nur von Institutionen zusammengehalten, sondern auch von Individuen, die sich für eine Sache einsetzen, die größer ist als sie selbst. Sie machen aus der Kampfeslust eine Tugend und wagen neue Wege. In der Suche nach den richtigen Helden - und im Streit um sie - schärft eine demokratische Gesellschaft ihr Profil. Gerade in Zeiten, in denen sie unter Druck steht, ist dies unverzichtbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Einer für uns
Dieter Thomä sucht einen Platz für Helden in demokratischen Gesellschaften.
Von Birte Förster
Helden sind irgendwie en vogue. Der "Stern" setzte kürzlich vier bunt zusammengewürfelte Heldenfiguren auf sein Titelbild, ganze Sonderforschungsbereiche beschäftigen sich damit, und nun meint Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, Demokratien bräuchten Helden. Ziel seines Buches ist es, den "Platz von Helden in der Gesellschaft" zu finden. Um den sei es wegen all der Intellektuellen, die sich im postheroischen Zeitalter wähnen, aber schlecht bestellt.
Der demokratische Held Thomäscher Prägung ist ein amorphes Wesen und damit irgendwie alles. Er ist zugleich "einer für uns" und einsam, er stellt sich der Gefahr, er widmet sich einer Sache, die größer ist als er selbst, und wir schauen zu ihm auf. Plattitüden wie "Demokratische Helden werden, was sie sind" helfen bei der Definition nicht weiter. Streiche "Demokratische", und der Satz stimmt noch immer. Das Werden des Helden ist stets Teil seiner Erzählung, zu der ein Übermaß an Pflichterfüllung und Überwindung (im Sinne zivilen Ungehorsams) gehört, Staatsform hin oder her. Frauen sind zwar im "geschlechtlich offenen" Heldentum mitgemeint, als Heldinnen haben sie aber irgendwie Pech, es sei denn, sie sind Wonder Woman. Ganz im Stile Heinrich von Treitschkes werden Frauen der Vergangenheit mehrheitlich zu passiven Heldinnen erklärt. Ausgerechnet die Marquise von O. aber ist eine echte Heldin, weil sie den Vater ihres Kindes und zugleich ihren Vergewaltiger sucht (und findet).
Am Ende hat man sich durch allerlei Interessantes gelesen, aber eine Antwort auf die Notwendigkeit des Heldentums für die Demokratie hat man nicht gefunden. Mehrfach zu wiederholen, dass Helden sich für eine Sache engagieren, die größer ist als sie selbst, macht die Beziehung von Held zu Demokratie auch nicht deutlicher. Dabei gäbe es über die Demokratie vieles zu sagen. Über die Herausforderungen des Gleichheitsversprechens in den Niederungen der Sachpolitik, über jene eines partizipativen Gesellschaftsmodells, über die Durchsetzung und den Schutz individueller Freiheit und deren Austarierung mit dem Kollektiv.
Die Demokratie selbst ist schon die große Sache, für die sich Thomäs neue Helden einsetzen sollen, denn das Versprechen von Mitbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist größer als alle Demokraten. Das Versprechen bleibt unerfüllt, aber es sind nicht Helden, sondern vielmehr die Arbeiter im Weinberg, die für seine Erfüllung kämpfen, die eine demokratische Verfassung im Alltag mit Leben füllen, sie verändern und garantieren. Demokratie braucht keine Einzelhelden, sie braucht viele, die sie fordern, nutzen und verteidigen. Damit sich Pflege- und Betreuungsarbeit gerechter, also demokratischer verteilt, braucht man eben keinen Heldenvater, der auf dem Weg zur Kita noch zwei fremde Kinder im Straßenverkehr rettet, sondern viele Arbeitnehmer und Chefs, die ein halbes oder ganzes Jahr Elternzeit von Vätern zur Norm statt zur Ausnahme machen. Anders als Thomä behauptet, bedarf die Demokratie deshalb auch in Notzeiten keiner Helden, sondern der vielen, die für sie einstehen. Wer sie bewahren und weiterentwickeln will, muss sich ihre Ausgrenzungsmechanismen vorknöpfen.
Zudem: Wer hat denn Demokratie positiv weiterentwickelt, mehr von ihr gewagt? Das waren im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Kollektive, die Gesellschaft reformieren und zum Besseren hin verändern wollten, nicht einzelne Helden. Die bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung der Jahrhundertwende, die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten, die neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und heute vermutlich die globale Bewegung für Klimagerechtigkeit.
Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik vor dem schwedischen Parlament diese weltweiten Proteste ausgelöst hat, will aber gerade keine Heldin sein. Was den erwachsenen Politikerinnen und Politikern eigentlich einfallen würde, sie in die Rolle der Klimaretterin zu drängen, weil sie selbst ihre Arbeit nicht machten, schleuderte sie beim Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York ihrem Publikum entgegen: "How dare you?"
Warum nur hat für all das kein Essay gereicht, über den man trefflich hätte streiten können? Etwas ratlos lässt die Lektüre zurück. Am Ende kommt der Begriff der Zivilcourage, die Thomä als Einstehen für die Verfassung beschreibt, jenem seines demokratischen Heldentums gefährlich nah, und so fragt man sich, wieso das Buch nicht heißt "Warum Demokratie keine Helden, sondern Staatsbürgerinnen braucht". So furchtbar postmodern ist das doch gar nicht.
Dieter Thomä: "Warum Demokratien Helden brauchen". Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Thomä sucht einen Platz für Helden in demokratischen Gesellschaften.
Von Birte Förster
Helden sind irgendwie en vogue. Der "Stern" setzte kürzlich vier bunt zusammengewürfelte Heldenfiguren auf sein Titelbild, ganze Sonderforschungsbereiche beschäftigen sich damit, und nun meint Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, Demokratien bräuchten Helden. Ziel seines Buches ist es, den "Platz von Helden in der Gesellschaft" zu finden. Um den sei es wegen all der Intellektuellen, die sich im postheroischen Zeitalter wähnen, aber schlecht bestellt.
Der demokratische Held Thomäscher Prägung ist ein amorphes Wesen und damit irgendwie alles. Er ist zugleich "einer für uns" und einsam, er stellt sich der Gefahr, er widmet sich einer Sache, die größer ist als er selbst, und wir schauen zu ihm auf. Plattitüden wie "Demokratische Helden werden, was sie sind" helfen bei der Definition nicht weiter. Streiche "Demokratische", und der Satz stimmt noch immer. Das Werden des Helden ist stets Teil seiner Erzählung, zu der ein Übermaß an Pflichterfüllung und Überwindung (im Sinne zivilen Ungehorsams) gehört, Staatsform hin oder her. Frauen sind zwar im "geschlechtlich offenen" Heldentum mitgemeint, als Heldinnen haben sie aber irgendwie Pech, es sei denn, sie sind Wonder Woman. Ganz im Stile Heinrich von Treitschkes werden Frauen der Vergangenheit mehrheitlich zu passiven Heldinnen erklärt. Ausgerechnet die Marquise von O. aber ist eine echte Heldin, weil sie den Vater ihres Kindes und zugleich ihren Vergewaltiger sucht (und findet).
Am Ende hat man sich durch allerlei Interessantes gelesen, aber eine Antwort auf die Notwendigkeit des Heldentums für die Demokratie hat man nicht gefunden. Mehrfach zu wiederholen, dass Helden sich für eine Sache engagieren, die größer ist als sie selbst, macht die Beziehung von Held zu Demokratie auch nicht deutlicher. Dabei gäbe es über die Demokratie vieles zu sagen. Über die Herausforderungen des Gleichheitsversprechens in den Niederungen der Sachpolitik, über jene eines partizipativen Gesellschaftsmodells, über die Durchsetzung und den Schutz individueller Freiheit und deren Austarierung mit dem Kollektiv.
Die Demokratie selbst ist schon die große Sache, für die sich Thomäs neue Helden einsetzen sollen, denn das Versprechen von Mitbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist größer als alle Demokraten. Das Versprechen bleibt unerfüllt, aber es sind nicht Helden, sondern vielmehr die Arbeiter im Weinberg, die für seine Erfüllung kämpfen, die eine demokratische Verfassung im Alltag mit Leben füllen, sie verändern und garantieren. Demokratie braucht keine Einzelhelden, sie braucht viele, die sie fordern, nutzen und verteidigen. Damit sich Pflege- und Betreuungsarbeit gerechter, also demokratischer verteilt, braucht man eben keinen Heldenvater, der auf dem Weg zur Kita noch zwei fremde Kinder im Straßenverkehr rettet, sondern viele Arbeitnehmer und Chefs, die ein halbes oder ganzes Jahr Elternzeit von Vätern zur Norm statt zur Ausnahme machen. Anders als Thomä behauptet, bedarf die Demokratie deshalb auch in Notzeiten keiner Helden, sondern der vielen, die für sie einstehen. Wer sie bewahren und weiterentwickeln will, muss sich ihre Ausgrenzungsmechanismen vorknöpfen.
Zudem: Wer hat denn Demokratie positiv weiterentwickelt, mehr von ihr gewagt? Das waren im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Kollektive, die Gesellschaft reformieren und zum Besseren hin verändern wollten, nicht einzelne Helden. Die bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung der Jahrhundertwende, die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten, die neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und heute vermutlich die globale Bewegung für Klimagerechtigkeit.
Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik vor dem schwedischen Parlament diese weltweiten Proteste ausgelöst hat, will aber gerade keine Heldin sein. Was den erwachsenen Politikerinnen und Politikern eigentlich einfallen würde, sie in die Rolle der Klimaretterin zu drängen, weil sie selbst ihre Arbeit nicht machten, schleuderte sie beim Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York ihrem Publikum entgegen: "How dare you?"
Warum nur hat für all das kein Essay gereicht, über den man trefflich hätte streiten können? Etwas ratlos lässt die Lektüre zurück. Am Ende kommt der Begriff der Zivilcourage, die Thomä als Einstehen für die Verfassung beschreibt, jenem seines demokratischen Heldentums gefährlich nah, und so fragt man sich, wieso das Buch nicht heißt "Warum Demokratie keine Helden, sondern Staatsbürgerinnen braucht". So furchtbar postmodern ist das doch gar nicht.
Dieter Thomä: "Warum Demokratien Helden brauchen". Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2019Unter parzellierten Seelen
Der Philosoph Dieter Thomä erklärt, warum auch Demokratien Helden brauchen
Der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä hat in seinem Leben mehr gesehen als das Innere von deutschen Hörsälen. Zum Beispiel hat er Häuser besetzt, ein Studium abgebrochen und wiederaufgenommen, als Journalist gearbeitet und eine Gastdozentur an der New School of Social Research innegehabt. Die in diesem Lebenslauf erworbene innere Weite und Interessiertheit ist seinen Büchern zugute gekommen und spiegelt sich in ihren fast provokatorisch unakademischen Themen: Vaterlosigkeit, Glück, Selbst, Selbsterzählung, Lebensgeschichte. Seine letzten beiden Bücher entwickeln eine philosophische Anthropologie des Eigensinns: „Puer robustus“ brachte 2016 die politischen Qualitäten des Neinsagers und destruktiven Charakters zur Geltung. Das neue Buch „Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus“ stellt eine schon fast vergessene Figur der alteuropäischen Kulturgeschichte ins Scheinwerferlicht modernen Räsonnements und auf den Prüfstand demokratischer Tugendvirtuosität.
Dass es auch demokratisches Heldentum gibt und dass es gebraucht wird, ist eine starke Intuition und kulturgeschichtlich tief verankert. Eine schwarzweiße Fernsehserie nach John F. Kennedys Klassiker „Profiles of Courage“ in den frühen sechziger Jahren gehört zu den intensivsten Erinnerungen des Dreizehnjährigen. Ihre konventionellen Bilder wurden später überblendet durch Gary Coopers Hut, Weste, Revolver, Gesicht in Fred Zinnemanns „High Noon“. Und sie stiegen wieder auf in der kollektiven Erinnerung meiner Generation, als Lech Wałęsa 1980 auf den Schultern seiner Kollegen über die Lenin-Werft getragen und Nelson Mandela 1994 zum Präsidenten Südafrikas gewählt wurde.
Politischer Eigensinn hatte in diesen Heldenbiographien die Massen einfacher polnischer und südafrikanischer Mitmenschen ergriffen und war von ihnen zum Sieg über Rassen- und Klassentotalitarismen getragen worden. Nun konnten die Mühen der demokratischen Ebene beginnen. Wie der undemokratische (der kriegerische) Held ist der demokratische eine Figur der Souveränität, der einsamen Dezision, der inneren Unabhängigkeit, des Selbstopfers für andere und des unabsehbaren Risikos.
Thomä muss viel Raum, Beredsamkeit und Scharfsinn aufwenden, um Möglichkeit und Legitimität demokratischen Heldentums gegen vorab zu Recht erwartete Einwände und Angriffe von liberaler und linker Seite zu verteidigen. Er präpariert die heroischen Charakterzüge sorgfältig aus ihrem ursprünglichen – dem martialischen – Kontext heraus. Eigensinn, Uneigennützigkeit, Memorabilität, Risikobereitschaft, Weitsicht, Resilienz, Hilfsbereitschaft erweisen sich, zivil umkodiert und sozusagen„säkularisiert“, als unverzichtbar für Demokratien. Denn diese sind stabil-instabile, von Beginn an experimentelle Gesellschaften, zu denen Krisen und Entscheidungssituationen per definitionem gehören.
Mit seinem dekonstruierenden Verfahren erweist sich Dieter Thomä als Schüler Max Webers. „Der Held betritt als Gegenspieler der Bürokratie die Bühne“, schreibt er und zitiert den Bürokratietheoretiker, der 1909 dafür plädierte, dem von „Ordnungsmenschen“ bewirtschafteten stählernen Gehäuse der verwalteten Welt heroische Dispositionen entgegenzusetzen „um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“.
In einer der überzeugendsten Passagen seines Buchs zitiert Thomä die zahllosen, einander zum Teil konträr widersprechenden Deutungen und Umdeutungen der Heldengestalt des Odysseus als Beleg für die Plastizität und Universalität dessen, was wir das Heldische nennen und auf das weder Moderne noch liberale Gesellschaft verzichten können.
Thomä ist auch eine bildungssoziologisch interessante Gestalt. Er verkörpert in der Gegenwart einen Typus des publikumsfreundlichen, aber fachlich bewährten und bewanderten philosophischen Schriftstellers, der mit Ralph Waldo Emerson (den Thomä in seinem Heldenbuch oft und zustimmend zitiert) in den USA des frühen neunzehnten Jahrhunderts die Bühne betrat, in den frühen Jahren des zwanzigsten in Deutschland im vergessenen kulturkritischen Werk Walther Rathenaus wiederauftauchte und in den Achtzigern mit dem Frühwerk Peter Sloterdijks, den kleinen politischen Schriften von Jürgen Habermas und einigen wohlplatzierten Provokationen Niklas Luhmanns publikumswirksam wurde. Dieser Schriftstellertypus scheint aufzutreten, wenn lang herrschende Ideen verteidigt oder neu betrachtet werden müssen: der sensualistische Empirizismus der „Harvard Divinity School“ im Amerika der 1830er Jahre, der 68er-Impuls um 1980 herum. Und heute ist es die Idee des Liberalismus selber, die von mächtigen politischen und intellektuellen Bewegungen unter Beschuss genommen wird. Wenn es, wie Thomä plausibel machen kann, die Aufgabe des Helden ist, eine gefährdete Ordnung durch eine risikoreiche Intervention zu befestigen oder weiterzuentwickeln, dann hat „Warum Demokratien Helden brauchen“ durchaus selber einen heroischen Aspekt.
STEPHAN WACKWITZ
Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 Seiten, 20 Euro.
Es gilt, eine gefährdete Ordnung
durch risikoreiche Intervention
zu befestigen und voranzutreiben
Ein ziviler Nachfolger des kriegerischen Heroismus: Der Arbeiterführer Lech Wałęsa in Danzig 1980, der zehn Jahre später Präsident Polens wurde.
Foto: SZ Foto
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Philosoph Dieter Thomä erklärt, warum auch Demokratien Helden brauchen
Der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä hat in seinem Leben mehr gesehen als das Innere von deutschen Hörsälen. Zum Beispiel hat er Häuser besetzt, ein Studium abgebrochen und wiederaufgenommen, als Journalist gearbeitet und eine Gastdozentur an der New School of Social Research innegehabt. Die in diesem Lebenslauf erworbene innere Weite und Interessiertheit ist seinen Büchern zugute gekommen und spiegelt sich in ihren fast provokatorisch unakademischen Themen: Vaterlosigkeit, Glück, Selbst, Selbsterzählung, Lebensgeschichte. Seine letzten beiden Bücher entwickeln eine philosophische Anthropologie des Eigensinns: „Puer robustus“ brachte 2016 die politischen Qualitäten des Neinsagers und destruktiven Charakters zur Geltung. Das neue Buch „Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus“ stellt eine schon fast vergessene Figur der alteuropäischen Kulturgeschichte ins Scheinwerferlicht modernen Räsonnements und auf den Prüfstand demokratischer Tugendvirtuosität.
Dass es auch demokratisches Heldentum gibt und dass es gebraucht wird, ist eine starke Intuition und kulturgeschichtlich tief verankert. Eine schwarzweiße Fernsehserie nach John F. Kennedys Klassiker „Profiles of Courage“ in den frühen sechziger Jahren gehört zu den intensivsten Erinnerungen des Dreizehnjährigen. Ihre konventionellen Bilder wurden später überblendet durch Gary Coopers Hut, Weste, Revolver, Gesicht in Fred Zinnemanns „High Noon“. Und sie stiegen wieder auf in der kollektiven Erinnerung meiner Generation, als Lech Wałęsa 1980 auf den Schultern seiner Kollegen über die Lenin-Werft getragen und Nelson Mandela 1994 zum Präsidenten Südafrikas gewählt wurde.
Politischer Eigensinn hatte in diesen Heldenbiographien die Massen einfacher polnischer und südafrikanischer Mitmenschen ergriffen und war von ihnen zum Sieg über Rassen- und Klassentotalitarismen getragen worden. Nun konnten die Mühen der demokratischen Ebene beginnen. Wie der undemokratische (der kriegerische) Held ist der demokratische eine Figur der Souveränität, der einsamen Dezision, der inneren Unabhängigkeit, des Selbstopfers für andere und des unabsehbaren Risikos.
Thomä muss viel Raum, Beredsamkeit und Scharfsinn aufwenden, um Möglichkeit und Legitimität demokratischen Heldentums gegen vorab zu Recht erwartete Einwände und Angriffe von liberaler und linker Seite zu verteidigen. Er präpariert die heroischen Charakterzüge sorgfältig aus ihrem ursprünglichen – dem martialischen – Kontext heraus. Eigensinn, Uneigennützigkeit, Memorabilität, Risikobereitschaft, Weitsicht, Resilienz, Hilfsbereitschaft erweisen sich, zivil umkodiert und sozusagen„säkularisiert“, als unverzichtbar für Demokratien. Denn diese sind stabil-instabile, von Beginn an experimentelle Gesellschaften, zu denen Krisen und Entscheidungssituationen per definitionem gehören.
Mit seinem dekonstruierenden Verfahren erweist sich Dieter Thomä als Schüler Max Webers. „Der Held betritt als Gegenspieler der Bürokratie die Bühne“, schreibt er und zitiert den Bürokratietheoretiker, der 1909 dafür plädierte, dem von „Ordnungsmenschen“ bewirtschafteten stählernen Gehäuse der verwalteten Welt heroische Dispositionen entgegenzusetzen „um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale“.
In einer der überzeugendsten Passagen seines Buchs zitiert Thomä die zahllosen, einander zum Teil konträr widersprechenden Deutungen und Umdeutungen der Heldengestalt des Odysseus als Beleg für die Plastizität und Universalität dessen, was wir das Heldische nennen und auf das weder Moderne noch liberale Gesellschaft verzichten können.
Thomä ist auch eine bildungssoziologisch interessante Gestalt. Er verkörpert in der Gegenwart einen Typus des publikumsfreundlichen, aber fachlich bewährten und bewanderten philosophischen Schriftstellers, der mit Ralph Waldo Emerson (den Thomä in seinem Heldenbuch oft und zustimmend zitiert) in den USA des frühen neunzehnten Jahrhunderts die Bühne betrat, in den frühen Jahren des zwanzigsten in Deutschland im vergessenen kulturkritischen Werk Walther Rathenaus wiederauftauchte und in den Achtzigern mit dem Frühwerk Peter Sloterdijks, den kleinen politischen Schriften von Jürgen Habermas und einigen wohlplatzierten Provokationen Niklas Luhmanns publikumswirksam wurde. Dieser Schriftstellertypus scheint aufzutreten, wenn lang herrschende Ideen verteidigt oder neu betrachtet werden müssen: der sensualistische Empirizismus der „Harvard Divinity School“ im Amerika der 1830er Jahre, der 68er-Impuls um 1980 herum. Und heute ist es die Idee des Liberalismus selber, die von mächtigen politischen und intellektuellen Bewegungen unter Beschuss genommen wird. Wenn es, wie Thomä plausibel machen kann, die Aufgabe des Helden ist, eine gefährdete Ordnung durch eine risikoreiche Intervention zu befestigen oder weiterzuentwickeln, dann hat „Warum Demokratien Helden brauchen“ durchaus selber einen heroischen Aspekt.
STEPHAN WACKWITZ
Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 Seiten, 20 Euro.
Es gilt, eine gefährdete Ordnung
durch risikoreiche Intervention
zu befestigen und voranzutreiben
Ein ziviler Nachfolger des kriegerischen Heroismus: Der Arbeiterführer Lech Wałęsa in Danzig 1980, der zehn Jahre später Präsident Polens wurde.
Foto: SZ Foto
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Einer für uns
Dieter Thomä sucht einen Platz für Helden in demokratischen Gesellschaften.
Von Birte Förster
Helden sind irgendwie en vogue. Der "Stern" setzte kürzlich vier bunt zusammengewürfelte Heldenfiguren auf sein Titelbild, ganze Sonderforschungsbereiche beschäftigen sich damit, und nun meint Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, Demokratien bräuchten Helden. Ziel seines Buches ist es, den "Platz von Helden in der Gesellschaft" zu finden. Um den sei es wegen all der Intellektuellen, die sich im postheroischen Zeitalter wähnen, aber schlecht bestellt.
Der demokratische Held Thomäscher Prägung ist ein amorphes Wesen und damit irgendwie alles. Er ist zugleich "einer für uns" und einsam, er stellt sich der Gefahr, er widmet sich einer Sache, die größer ist als er selbst, und wir schauen zu ihm auf. Plattitüden wie "Demokratische Helden werden, was sie sind" helfen bei der Definition nicht weiter. Streiche "Demokratische", und der Satz stimmt noch immer. Das Werden des Helden ist stets Teil seiner Erzählung, zu der ein Übermaß an Pflichterfüllung und Überwindung (im Sinne zivilen Ungehorsams) gehört, Staatsform hin oder her. Frauen sind zwar im "geschlechtlich offenen" Heldentum mitgemeint, als Heldinnen haben sie aber irgendwie Pech, es sei denn, sie sind Wonder Woman. Ganz im Stile Heinrich von Treitschkes werden Frauen der Vergangenheit mehrheitlich zu passiven Heldinnen erklärt. Ausgerechnet die Marquise von O. aber ist eine echte Heldin, weil sie den Vater ihres Kindes und zugleich ihren Vergewaltiger sucht (und findet).
Am Ende hat man sich durch allerlei Interessantes gelesen, aber eine Antwort auf die Notwendigkeit des Heldentums für die Demokratie hat man nicht gefunden. Mehrfach zu wiederholen, dass Helden sich für eine Sache engagieren, die größer ist als sie selbst, macht die Beziehung von Held zu Demokratie auch nicht deutlicher. Dabei gäbe es über die Demokratie vieles zu sagen. Über die Herausforderungen des Gleichheitsversprechens in den Niederungen der Sachpolitik, über jene eines partizipativen Gesellschaftsmodells, über die Durchsetzung und den Schutz individueller Freiheit und deren Austarierung mit dem Kollektiv.
Die Demokratie selbst ist schon die große Sache, für die sich Thomäs neue Helden einsetzen sollen, denn das Versprechen von Mitbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist größer als alle Demokraten. Das Versprechen bleibt unerfüllt, aber es sind nicht Helden, sondern vielmehr die Arbeiter im Weinberg, die für seine Erfüllung kämpfen, die eine demokratische Verfassung im Alltag mit Leben füllen, sie verändern und garantieren. Demokratie braucht keine Einzelhelden, sie braucht viele, die sie fordern, nutzen und verteidigen. Damit sich Pflege- und Betreuungsarbeit gerechter, also demokratischer verteilt, braucht man eben keinen Heldenvater, der auf dem Weg zur Kita noch zwei fremde Kinder im Straßenverkehr rettet, sondern viele Arbeitnehmer und Chefs, die ein halbes oder ganzes Jahr Elternzeit von Vätern zur Norm statt zur Ausnahme machen. Anders als Thomä behauptet, bedarf die Demokratie deshalb auch in Notzeiten keiner Helden, sondern der vielen, die für sie einstehen. Wer sie bewahren und weiterentwickeln will, muss sich ihre Ausgrenzungsmechanismen vorknöpfen.
Zudem: Wer hat denn Demokratie positiv weiterentwickelt, mehr von ihr gewagt? Das waren im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Kollektive, die Gesellschaft reformieren und zum Besseren hin verändern wollten, nicht einzelne Helden. Die bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung der Jahrhundertwende, die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten, die neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und heute vermutlich die globale Bewegung für Klimagerechtigkeit.
Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik vor dem schwedischen Parlament diese weltweiten Proteste ausgelöst hat, will aber gerade keine Heldin sein. Was den erwachsenen Politikerinnen und Politikern eigentlich einfallen würde, sie in die Rolle der Klimaretterin zu drängen, weil sie selbst ihre Arbeit nicht machten, schleuderte sie beim Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York ihrem Publikum entgegen: "How dare you?"
Warum nur hat für all das kein Essay gereicht, über den man trefflich hätte streiten können? Etwas ratlos lässt die Lektüre zurück. Am Ende kommt der Begriff der Zivilcourage, die Thomä als Einstehen für die Verfassung beschreibt, jenem seines demokratischen Heldentums gefährlich nah, und so fragt man sich, wieso das Buch nicht heißt "Warum Demokratie keine Helden, sondern Staatsbürgerinnen braucht". So furchtbar postmodern ist das doch gar nicht.
Dieter Thomä: "Warum Demokratien Helden brauchen". Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Thomä sucht einen Platz für Helden in demokratischen Gesellschaften.
Von Birte Förster
Helden sind irgendwie en vogue. Der "Stern" setzte kürzlich vier bunt zusammengewürfelte Heldenfiguren auf sein Titelbild, ganze Sonderforschungsbereiche beschäftigen sich damit, und nun meint Dieter Thomä, Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen, Demokratien bräuchten Helden. Ziel seines Buches ist es, den "Platz von Helden in der Gesellschaft" zu finden. Um den sei es wegen all der Intellektuellen, die sich im postheroischen Zeitalter wähnen, aber schlecht bestellt.
Der demokratische Held Thomäscher Prägung ist ein amorphes Wesen und damit irgendwie alles. Er ist zugleich "einer für uns" und einsam, er stellt sich der Gefahr, er widmet sich einer Sache, die größer ist als er selbst, und wir schauen zu ihm auf. Plattitüden wie "Demokratische Helden werden, was sie sind" helfen bei der Definition nicht weiter. Streiche "Demokratische", und der Satz stimmt noch immer. Das Werden des Helden ist stets Teil seiner Erzählung, zu der ein Übermaß an Pflichterfüllung und Überwindung (im Sinne zivilen Ungehorsams) gehört, Staatsform hin oder her. Frauen sind zwar im "geschlechtlich offenen" Heldentum mitgemeint, als Heldinnen haben sie aber irgendwie Pech, es sei denn, sie sind Wonder Woman. Ganz im Stile Heinrich von Treitschkes werden Frauen der Vergangenheit mehrheitlich zu passiven Heldinnen erklärt. Ausgerechnet die Marquise von O. aber ist eine echte Heldin, weil sie den Vater ihres Kindes und zugleich ihren Vergewaltiger sucht (und findet).
Am Ende hat man sich durch allerlei Interessantes gelesen, aber eine Antwort auf die Notwendigkeit des Heldentums für die Demokratie hat man nicht gefunden. Mehrfach zu wiederholen, dass Helden sich für eine Sache engagieren, die größer ist als sie selbst, macht die Beziehung von Held zu Demokratie auch nicht deutlicher. Dabei gäbe es über die Demokratie vieles zu sagen. Über die Herausforderungen des Gleichheitsversprechens in den Niederungen der Sachpolitik, über jene eines partizipativen Gesellschaftsmodells, über die Durchsetzung und den Schutz individueller Freiheit und deren Austarierung mit dem Kollektiv.
Die Demokratie selbst ist schon die große Sache, für die sich Thomäs neue Helden einsetzen sollen, denn das Versprechen von Mitbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit ist größer als alle Demokraten. Das Versprechen bleibt unerfüllt, aber es sind nicht Helden, sondern vielmehr die Arbeiter im Weinberg, die für seine Erfüllung kämpfen, die eine demokratische Verfassung im Alltag mit Leben füllen, sie verändern und garantieren. Demokratie braucht keine Einzelhelden, sie braucht viele, die sie fordern, nutzen und verteidigen. Damit sich Pflege- und Betreuungsarbeit gerechter, also demokratischer verteilt, braucht man eben keinen Heldenvater, der auf dem Weg zur Kita noch zwei fremde Kinder im Straßenverkehr rettet, sondern viele Arbeitnehmer und Chefs, die ein halbes oder ganzes Jahr Elternzeit von Vätern zur Norm statt zur Ausnahme machen. Anders als Thomä behauptet, bedarf die Demokratie deshalb auch in Notzeiten keiner Helden, sondern der vielen, die für sie einstehen. Wer sie bewahren und weiterentwickeln will, muss sich ihre Ausgrenzungsmechanismen vorknöpfen.
Zudem: Wer hat denn Demokratie positiv weiterentwickelt, mehr von ihr gewagt? Das waren im zwanzigsten Jahrhundert vor allem Kollektive, die Gesellschaft reformieren und zum Besseren hin verändern wollten, nicht einzelne Helden. Die bürgerliche und sozialistische Frauenbewegung der Jahrhundertwende, die schwarze Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten, die neuen sozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und heute vermutlich die globale Bewegung für Klimagerechtigkeit.
Greta Thunberg, die mit ihrem Schulstreik vor dem schwedischen Parlament diese weltweiten Proteste ausgelöst hat, will aber gerade keine Heldin sein. Was den erwachsenen Politikerinnen und Politikern eigentlich einfallen würde, sie in die Rolle der Klimaretterin zu drängen, weil sie selbst ihre Arbeit nicht machten, schleuderte sie beim Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York ihrem Publikum entgegen: "How dare you?"
Warum nur hat für all das kein Essay gereicht, über den man trefflich hätte streiten können? Etwas ratlos lässt die Lektüre zurück. Am Ende kommt der Begriff der Zivilcourage, die Thomä als Einstehen für die Verfassung beschreibt, jenem seines demokratischen Heldentums gefährlich nah, und so fragt man sich, wieso das Buch nicht heißt "Warum Demokratie keine Helden, sondern Staatsbürgerinnen braucht". So furchtbar postmodern ist das doch gar nicht.
Dieter Thomä: "Warum Demokratien Helden brauchen". Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus.
Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main