»Bewegt und verwundert taucht man wieder auf aus einem Roman, dessen Schönheit in seiner Schlichtheit liegt.« Leïla Slimani --- In der Normandie regnet es tote Vögel vom Himmel, doch in Paris nimmt man kaum Notiz davon. Nur ein promotionsmüder Student will unbedingt erfahren, was sich da - unter anderem in seinem Heimatort - ereignet hat. Er versucht allerdings ausgerechnet auf einem Vergnügungsdampfer dorthin zu gelangen. Als (weitaus) jüngster Passagier auf der Seine Princess verliebt und schlägt er sich auf diesem 'trunkenen Schiff' mit einem Matrosen um die Herzdame ... Aber ist seine Reise nicht vor allem ein Versuch, die Familie wiederzufinden und ein wenig Ordnung in seine Notizen und sein Leben bringen? --- »Elegant, lässig, witzig, geschickt ... der Jungfernflug eines wahren Schriftstellers.« Le Figaro Magazine
Diese Reise ist wie der Sturz von einem Hochhaus
Wenn der Verstand sich langsam auflöst: Auf der Fahrt nach Rouen gerät der Held von Victor Pouchets Debüt "Warum die Vögel sterben" an seine Grenzen.
Félix-Archimède Pouchet (1800bis 1872) ist ein vergessener Naturforscher des 19. Jahrhunderts: In der berühmten Debatte über die Spontanzeugung stellte Pouchet sich Louis Pasteur entgegen; er verteidigte die Vorstellung, dass Leben aus organischer Materie auch im keimfreien Milieu entstehen könne. Pasteur bestritt dies vehement, entdeckte Kleinstorganismen, begründete die Mikrobiologie und ging in die Geschichte ein. Pouchet hingegen ist heute vor allem Wissenschaftshistorikern ein Begriff - und Literaturwissenschaftlern, denn er war ein Schüler von Gustave Flauberts Vater, dem Chirurgen; der Romancier wiederum war Pouchets Schüler und Freund seines Sohnes Georges. Wer Flaubert sagt, sagt Rouen, kurz: Wir sind in der Normandie.
Und dort fallen die Vögel vom Himmel. Das ist der Grund, warum der Held, ein Doktorand von knapp 29 Jahren, eines diesigen Novembermorgens in Paris an Bord der "Seine Princess" geht und stromabwärts reist. Er will herausfinden, warum bei Rouen mehrere Schauer toter Vögel vom Himmel gestürzt sind, Hunderte Tiere in je wenigen Minuten, ohne ersichtlichen Grund. Diese eigenartige Geschichte, die mal lächerlich-absurd, mal unheimlich wirkt, öffnet den Zugang zur verschrobenen, ja verkorksten Person des Erzählers.
Pouchet, denn so heißen Autor und Held, wenn eine Verwandtschaft des Letzteren mit dem dritten Pouchet, dem Forscher, auch unwahrscheinlich ist, der fiktive Pouchet also schiebt eine unvollendete Promotion und tonnenschwere Trübsal vor sich her; seine Freundin hat ihn deswegen verlassen. Das Vogelsterben ist zunächst eine Herausforderung wie jede andere für den Drifter, der wie das Spiegelbild von Frédéric Moreau in Flauberts "Erziehung des Herzens" auf einem Seine-Schiff aufbricht - nur fährt Pouchet flussabwärts, ist nicht mehr jung und hat kaum Frédérics lebensfrohe Hoffnungen. Das Resümee der Reise fasst seine Haltung wunderbar zusammen: "Weiter wurde im Text erklärt: ,Zwischen Paris und dem Meer verliert der Fluss 26 Höhenmeter.' Sehr langsam würden wir im Verlauf dieser kleinen Kreuzfahrt von einem zehnstöckigen Gebäude stürzen."
Hinter der Beliebigkeit seiner Reise tun sich familiäre und persönliche Abgründe auf. Denn die erste Vogelschar ist in Bonsecours niedergegangen, einer Kleinstadt von 7000 Seelen, in welcher Pouchet aufgewachsen ist; sein Vater lebt dort. Mit den Kindheitserinnerungen steigen eigenartige Vogelerlebnisse hoch, unter denen Hitchcocks "Die Vögel" einen prominenten Platz einnimmt. Vor allem geht Pouchet einem Wiedersehen mit dem Vater entgegen, den er fünf Jahren lang gemieden hat. Pouchet senior ist ein Misanthrop: "Er war als Großbürger geboren, hatte sich für Lenin gehalten und war schließlich als belesener, kleiner Beamter wieder zu Bewusstsein gekommen, gefangen in einer Familie, die er nicht lieben konnte." Freilich verbindet Vater und Sohn mehr, als dem Junior lieb sein kann, vorneweg chronische Unzufriedenheit und die Unfähigkeit, Projekte abzuschließen.
Die Vogel-Recherche auf der Seine geht Pouchet so ernsthaft an, wie das bei einem völlig unspezifischen Phänomen geht: Er stellt fest, welche Rolle "vom Himmel regnende Tiere" in der Bibel haben - "Meist handelte es sich um göttliche Strafen" -, und liest fleißig, etwa die Schriften des Parawissenschaftlers Charles Hoy Fort oder Plinius' "Naturkunde". Sein Tafelnachbar Jean-Pierre, ein pensionierter Ingenieur der Rüstungsindustrie, bringt ihm die Details des amerikanischen "Project Pigeon" näher, das 1942 Tauben zum Lenken von Marschflugkörpern einsetzen wollte. Pouchet lernt außerdem den exzentrischen Pianisten Cheval Blanc kennen, der nichts von einem Grand Cru hat, sowie die Zweite Offizierin Clarisse, mit der er ungeschickt eine Affäre beginnt.
Dem Autor Victor Pouchet, der selbst ein junger Literaturdozent ist, gelingt es, zwischen den lustigen oder lästigen Bagatellen und den großen Fragen des Lebens souverän zu navigieren. Der Held seines Erstlings, der in Frankreich enthusiastisch aufgenommen wurde, stolpert von einer Situation in die nächste, mal mit Stil, mal ohne. Man weiß nie recht, welches Register der Autor ziehen wird: "Ich war an Bord gegangen, wie man sich auf ein großes Abenteuer wagt, das sich in eine kleine Nichtigkeit verwandelt hatte und sich vielleicht wieder in ein großes Abenteuer zurückverwandeln würde, wer weiß." Seinen Vater jedenfalls trifft der Held nicht an, schlüssige Antworten bleiben aus, und das Kreuzfahrtschiff fährt ohne ihn weiter.
Nebenbei breitet der Autor eine Menge mehr oder weniger relevantes Wissen aus, vorneweg die Biographie seines Namensvetters, auf den der Erzähler im Naturkundemuseum von Rouen stößt. In ihm erkennt er vor allem einen Ahnen im Geiste, "einen schlechten Verlierer der Biologie", "einen brillanten, schwärmerischen Versager". Wir sind nicht weit von der wenig schmeichelhaften Beschreibung, die ihm seine Ex-Freundin Anastasie Pouchet zum Abschied vermacht hat: "Ich hasse, in was du dich gerade verwandelst. Die Flucht ist für dich zum Motor geworden. Du erinnerst mich an Platonow, den Tschechow-Helden. Weniger ein Held als ein brillanter Versager, ein kleiner, unglücklicher Lehrer, der von einem Leben als Literat und Mann von Welt träumt und in der Verführungskunst die unmögliche Vergeltung für seine Misserfolge sucht."
Als Resultat seiner Forschungen bringt Pouchets "sich auflösender Verstand" nur ein Notizheft voll disparater Aufzeichnungen zusammen - es hat sein Gegenstück in der Architektur des Romans, der lose erzählt ist. Erst am Ende spitzt sich das Vogel-Phänomen apokalyptisch zu; die Krise steht freilich im Kontrast zur Stimmung des Protagonisten, der seinen Lebensfluss entspannter hinunterschippert. "Warum die Vögel sterben" endet gelassen am Strand von Le Havre: Ein schönes Ende für ein gelungenes Debüt.
NIKLAS BENDER
Victor Pouchet: "Warum die Vögel sterben". Roman.
Aus dem Französischen von Yvonne Eglinger. Berlin Verlag, Berlin 2019. 192 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn der Verstand sich langsam auflöst: Auf der Fahrt nach Rouen gerät der Held von Victor Pouchets Debüt "Warum die Vögel sterben" an seine Grenzen.
Félix-Archimède Pouchet (1800bis 1872) ist ein vergessener Naturforscher des 19. Jahrhunderts: In der berühmten Debatte über die Spontanzeugung stellte Pouchet sich Louis Pasteur entgegen; er verteidigte die Vorstellung, dass Leben aus organischer Materie auch im keimfreien Milieu entstehen könne. Pasteur bestritt dies vehement, entdeckte Kleinstorganismen, begründete die Mikrobiologie und ging in die Geschichte ein. Pouchet hingegen ist heute vor allem Wissenschaftshistorikern ein Begriff - und Literaturwissenschaftlern, denn er war ein Schüler von Gustave Flauberts Vater, dem Chirurgen; der Romancier wiederum war Pouchets Schüler und Freund seines Sohnes Georges. Wer Flaubert sagt, sagt Rouen, kurz: Wir sind in der Normandie.
Und dort fallen die Vögel vom Himmel. Das ist der Grund, warum der Held, ein Doktorand von knapp 29 Jahren, eines diesigen Novembermorgens in Paris an Bord der "Seine Princess" geht und stromabwärts reist. Er will herausfinden, warum bei Rouen mehrere Schauer toter Vögel vom Himmel gestürzt sind, Hunderte Tiere in je wenigen Minuten, ohne ersichtlichen Grund. Diese eigenartige Geschichte, die mal lächerlich-absurd, mal unheimlich wirkt, öffnet den Zugang zur verschrobenen, ja verkorksten Person des Erzählers.
Pouchet, denn so heißen Autor und Held, wenn eine Verwandtschaft des Letzteren mit dem dritten Pouchet, dem Forscher, auch unwahrscheinlich ist, der fiktive Pouchet also schiebt eine unvollendete Promotion und tonnenschwere Trübsal vor sich her; seine Freundin hat ihn deswegen verlassen. Das Vogelsterben ist zunächst eine Herausforderung wie jede andere für den Drifter, der wie das Spiegelbild von Frédéric Moreau in Flauberts "Erziehung des Herzens" auf einem Seine-Schiff aufbricht - nur fährt Pouchet flussabwärts, ist nicht mehr jung und hat kaum Frédérics lebensfrohe Hoffnungen. Das Resümee der Reise fasst seine Haltung wunderbar zusammen: "Weiter wurde im Text erklärt: ,Zwischen Paris und dem Meer verliert der Fluss 26 Höhenmeter.' Sehr langsam würden wir im Verlauf dieser kleinen Kreuzfahrt von einem zehnstöckigen Gebäude stürzen."
Hinter der Beliebigkeit seiner Reise tun sich familiäre und persönliche Abgründe auf. Denn die erste Vogelschar ist in Bonsecours niedergegangen, einer Kleinstadt von 7000 Seelen, in welcher Pouchet aufgewachsen ist; sein Vater lebt dort. Mit den Kindheitserinnerungen steigen eigenartige Vogelerlebnisse hoch, unter denen Hitchcocks "Die Vögel" einen prominenten Platz einnimmt. Vor allem geht Pouchet einem Wiedersehen mit dem Vater entgegen, den er fünf Jahren lang gemieden hat. Pouchet senior ist ein Misanthrop: "Er war als Großbürger geboren, hatte sich für Lenin gehalten und war schließlich als belesener, kleiner Beamter wieder zu Bewusstsein gekommen, gefangen in einer Familie, die er nicht lieben konnte." Freilich verbindet Vater und Sohn mehr, als dem Junior lieb sein kann, vorneweg chronische Unzufriedenheit und die Unfähigkeit, Projekte abzuschließen.
Die Vogel-Recherche auf der Seine geht Pouchet so ernsthaft an, wie das bei einem völlig unspezifischen Phänomen geht: Er stellt fest, welche Rolle "vom Himmel regnende Tiere" in der Bibel haben - "Meist handelte es sich um göttliche Strafen" -, und liest fleißig, etwa die Schriften des Parawissenschaftlers Charles Hoy Fort oder Plinius' "Naturkunde". Sein Tafelnachbar Jean-Pierre, ein pensionierter Ingenieur der Rüstungsindustrie, bringt ihm die Details des amerikanischen "Project Pigeon" näher, das 1942 Tauben zum Lenken von Marschflugkörpern einsetzen wollte. Pouchet lernt außerdem den exzentrischen Pianisten Cheval Blanc kennen, der nichts von einem Grand Cru hat, sowie die Zweite Offizierin Clarisse, mit der er ungeschickt eine Affäre beginnt.
Dem Autor Victor Pouchet, der selbst ein junger Literaturdozent ist, gelingt es, zwischen den lustigen oder lästigen Bagatellen und den großen Fragen des Lebens souverän zu navigieren. Der Held seines Erstlings, der in Frankreich enthusiastisch aufgenommen wurde, stolpert von einer Situation in die nächste, mal mit Stil, mal ohne. Man weiß nie recht, welches Register der Autor ziehen wird: "Ich war an Bord gegangen, wie man sich auf ein großes Abenteuer wagt, das sich in eine kleine Nichtigkeit verwandelt hatte und sich vielleicht wieder in ein großes Abenteuer zurückverwandeln würde, wer weiß." Seinen Vater jedenfalls trifft der Held nicht an, schlüssige Antworten bleiben aus, und das Kreuzfahrtschiff fährt ohne ihn weiter.
Nebenbei breitet der Autor eine Menge mehr oder weniger relevantes Wissen aus, vorneweg die Biographie seines Namensvetters, auf den der Erzähler im Naturkundemuseum von Rouen stößt. In ihm erkennt er vor allem einen Ahnen im Geiste, "einen schlechten Verlierer der Biologie", "einen brillanten, schwärmerischen Versager". Wir sind nicht weit von der wenig schmeichelhaften Beschreibung, die ihm seine Ex-Freundin Anastasie Pouchet zum Abschied vermacht hat: "Ich hasse, in was du dich gerade verwandelst. Die Flucht ist für dich zum Motor geworden. Du erinnerst mich an Platonow, den Tschechow-Helden. Weniger ein Held als ein brillanter Versager, ein kleiner, unglücklicher Lehrer, der von einem Leben als Literat und Mann von Welt träumt und in der Verführungskunst die unmögliche Vergeltung für seine Misserfolge sucht."
Als Resultat seiner Forschungen bringt Pouchets "sich auflösender Verstand" nur ein Notizheft voll disparater Aufzeichnungen zusammen - es hat sein Gegenstück in der Architektur des Romans, der lose erzählt ist. Erst am Ende spitzt sich das Vogel-Phänomen apokalyptisch zu; die Krise steht freilich im Kontrast zur Stimmung des Protagonisten, der seinen Lebensfluss entspannter hinunterschippert. "Warum die Vögel sterben" endet gelassen am Strand von Le Havre: Ein schönes Ende für ein gelungenes Debüt.
NIKLAS BENDER
Victor Pouchet: "Warum die Vögel sterben". Roman.
Aus dem Französischen von Yvonne Eglinger. Berlin Verlag, Berlin 2019. 192 S., geb., 22,- [Euro].
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