Unsere Kultur verklärt die Zeit der Jugend mehr, als Peter Pan zu träumen gewagt hätte. Und alles, was danach kommt, erscheint als unaufhaltsamer Niedergang. Doch schon Kant wusste, dass Unmündigkeit einfacher ist - für den Einzelnen, vor allem aber für staatliche Obrigkeiten, denen infantilisierte Konsumenten lieber sind als selbstdenkende Bürger. Susan Neiman wendet sich gegen diese resignative Sicht auf das Erwachsensein. Sie liest die Philosophen neu und plädiert mit Rousseau und Kant: Nehmen wir uns die Freiheit, etwas vom Leben zu verlangen! Denn Reife bedeutet nicht das Ende aller Träume, sondern ein subversives Ideal: das Leben in seiner Widersprüchlichkeit zu ergreifen und glücken zu lassen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerd Schrader findet zwar sehr schön, wie Susan Neiman in "Warum erwachsen werden?" Immanuel Kant aus der Schublade des Stoizismus herausholt und ihn als Vordenker einer "Kritik der Warenästhetik" beschreibt, die in der Verweigerung von "materiellen und geistigen Moden" ein Ziel der Schärfung des Intellekts erblickt, aber der Rezensent bezweifelt dann doch, inwiefern die Anrufung von Mündigkeit und Autonomie in einer Gesellschaft, die sich die Selbstbestimmung ohnehin auf die Fahnen geschrieben hat, wirklich die erhoffte subversive Wirkung erzielt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2015Schluss mit der Sandkasten-Romantik!
Ein Loblied auf Reife und Erfahrung: Die Philosophin Susan Neiman ermutigt zum Erwachsenwerden
Schon seit jeher sinnen Literatur und Kunst der Kindheit nach. Wir werden sentimental, wenn wir die romantischen Sehnsuchtsgesänge aus dem 19. Jahrhundert über die liebliche Unschuld der Jugendjahre lesen. Und wem die Rührseligkeit dann doch zu viel des Guten ist, der hält sich an die starken Helden unserer frühen Bettlektüren – bewundert Pippi Langstrumpfs Kampf um Autonomie, erobert mit Erich Kästners Emil das hektische Berlin oder denkt sich in die schlitzohrige Welt von Max und Moritz hinein. Angesichts dieses bunten Treibens kann es wohl einfach nur deprimierend sein, irgendwann auf die dreißig zuzulaufen. Dass die amerikanische Autorin Susan Neiman in ihrem Essay „Warum erwachsen werden?“ dennoch eine Ehrenrettung für Reife, Erfahrung und Altern versucht, ist daher durchaus ambitioniert. Liest man sich aber durch die 240 Seiten Auslegung von David Hume bis Hannah Arendt, mag der überzeugende Funke jedoch kaum überspringen.
Am Anfang ist zunächst einmal Nüchternheit gefragt. Wie so vieles im Leben, beginnt auch dieses Buch mit der Aufklärung – nämlich mit dem frühen Reformpädagogen und dem preußischen Gedankenkaliber schlechthin: Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Obwohl der französische Autor hinter dem Erziehungsschlager „Emile oder über die Erziehung“ (1762) und der pedantische Begründer des Rationalismus zumindest in der Lebensführung nichts einte, waren sie sich im Ziel einig, den abendländischen Menschen aus seiner Unmündigkeit hinauszuführen. Nicht das Kind, sondern der zur Persönlichkeit Gewordene steht in Neimans Deutung der Denkerschriften im Lichte des freien Geistes.
Doch dafür zahlen wir unseren Preis: Auf Arendts „Wunder der Geburt“ folgt im Laufe der Dekaden das Bewusstsein des Risses. Erkennen wir immer mehr die „Diskrepanz zwischen Sein und Sollen“, Hoffen und Scheitern der Weltverbesserungswünsche, ist es aus mit den wilden Träumereien. Anlass zur Schwermut muss dies aber keineswegs sein. Vielmehr sieht die Autorin darin die Spannung, die eine gelingende Existenz ausmachen kann: „Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines aufzugeben.“ Aus der Empörung und Enttäuschung geht bestenfalls die Vita activa hervor, das Leben als stete, nie zu vollendende Annäherung an die große Leibniz’sche Vorstellung von der besten aller Welten.
Aber die Argumentation verwirrt sich in allerlei rhetorischem Sprach- und Ideengerümpel. Mal manövriert uns die 1955 in Atlanta geborene Philosophin und aktuelle Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam in die Tiefen der Auslegung von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), mal streift sie eher en passant das wichtige Referenzwerk „Kindheit und Gesellschaft“ von Erik H. Erikson, um im Anschluss daran in populärphilosophisches Gewässer über Reisen und Arbeit vorzudringen.
Neben großen Sätzen – „In den Industrienationen ist Arbeit die Domäne der Erwachsenen, ja sogar die paradigmatische Tätigkeit des Erwachsenenalters“ – versammelt sich dort eine Menge kulturkritischen Treibguts: E-Mail-Sucht, Verführung durch Werbung, Wachstumsideologie und überhaupt die Geister des Neoliberalismus gehören zum gesellschaftspolitischen Spuk in dieser in weiten Teilen überfrachteten und ausschweifenden Kolportage.
Eine Welt am Rande des Abgrunds kann nur abschreckende Wirkung für die älteren Generationen von morgen mit sich bringen. „Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend.“ Susan Neiman geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie dahinter sogar ein systematisches Kalkül vermutet. Statt die Menschen zu aufgeklärten Weltbürgern zu erziehen, übten sich globale Unternehmen und Diktaturen an der Verklärung der Kindheit.
Welch Balsam für Verschwörungstheoretiker! Von der Infantilisierung als Mittel zur Repression zu sprechen, ist Sophismus vom Feinsten und geht an der Wirklichkeit wie auch der Kulturgeschichte dennoch vorbei. Oder haben wir manches nur übersehen? Etwa, dass Eichendorff und Rilke mit ihren lieblichen Würdigungen der Kindheit vielleicht verkappte Vordenker von Staatsautoritarismus und Bewusstseinskapitalismus waren?
Geradezu karikaturistisch mutet in diesem Zusammenhang übrigens Neimans Rhetorik an: Denn während sie abseits ihres streckenweise zur Nebensache geratenden Plädoyers für das Erwachsenwerden so munter Hiebe auf die Ausbeutungsökonomie verteilt, lesen sich ihre Ratschläge wie das Skript von Unternehmenscoachings und Erfolgsgurus: „Die Fähigkeit, Ihr Leben als Ganzes zu sehen, das es gewesen ist, gibt Ihnen die Möglichkeit, die Stärken zu erkennen, mit denen Sie es gelebt haben, und ein Gespür für Ihren eigenen Charakter zu entwickeln.“ Wüssten wir es nicht besser, hätte solcherlei Sermon auch von Apple-Chef Tim Cook auf einem Wochenendseminar zur Motivation ermüdeter Stammmitarbeiter verzapft werden können.
Zweifelsohne ist das Ja zum Älterwerden in einer Gesellschaft, welche derzeit erst allmählich die Konsequenzen des demografischen Wandels zu spüren beginnt, ein anerkennenswertes und sicherlich sogar überfälliges Projekt. Urteilskraft, Autonomie und Reflektiertheit zeichnen uns mit jedem neuen Jahr mehr aus und sollten uns zu einer neuen Wertschätzung des Erwachsenseins einladen. Von diesen in Neimans Text zu kurz gekommenen Impulsen hätte man sich am Ende mehr gewünscht.
Aber das Leben ist nun einmal, wie uns die mit der Zeit gekommenen Erfahrungen lehren, kein Ponyhof und Literaturkritik kein Streichelzoo: Darum, liebe Erwachsene und alle, die es noch werden müssen, sei euch gesagt: Die große, weite Welt der Bücher bietet Besseres, woran man reifen kann.
BJÖRN HAYER
Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Hanser Berlin, Berlin 2015. 240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Spannung zischen Sein und
Soll auszuhalten gehört zu einer
gelingenden Existenz
Mit jedem Jahr können wir an
Urteilskraft, Autonomie
und Reflektiertheit gewinnen
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Loblied auf Reife und Erfahrung: Die Philosophin Susan Neiman ermutigt zum Erwachsenwerden
Schon seit jeher sinnen Literatur und Kunst der Kindheit nach. Wir werden sentimental, wenn wir die romantischen Sehnsuchtsgesänge aus dem 19. Jahrhundert über die liebliche Unschuld der Jugendjahre lesen. Und wem die Rührseligkeit dann doch zu viel des Guten ist, der hält sich an die starken Helden unserer frühen Bettlektüren – bewundert Pippi Langstrumpfs Kampf um Autonomie, erobert mit Erich Kästners Emil das hektische Berlin oder denkt sich in die schlitzohrige Welt von Max und Moritz hinein. Angesichts dieses bunten Treibens kann es wohl einfach nur deprimierend sein, irgendwann auf die dreißig zuzulaufen. Dass die amerikanische Autorin Susan Neiman in ihrem Essay „Warum erwachsen werden?“ dennoch eine Ehrenrettung für Reife, Erfahrung und Altern versucht, ist daher durchaus ambitioniert. Liest man sich aber durch die 240 Seiten Auslegung von David Hume bis Hannah Arendt, mag der überzeugende Funke jedoch kaum überspringen.
Am Anfang ist zunächst einmal Nüchternheit gefragt. Wie so vieles im Leben, beginnt auch dieses Buch mit der Aufklärung – nämlich mit dem frühen Reformpädagogen und dem preußischen Gedankenkaliber schlechthin: Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Obwohl der französische Autor hinter dem Erziehungsschlager „Emile oder über die Erziehung“ (1762) und der pedantische Begründer des Rationalismus zumindest in der Lebensführung nichts einte, waren sie sich im Ziel einig, den abendländischen Menschen aus seiner Unmündigkeit hinauszuführen. Nicht das Kind, sondern der zur Persönlichkeit Gewordene steht in Neimans Deutung der Denkerschriften im Lichte des freien Geistes.
Doch dafür zahlen wir unseren Preis: Auf Arendts „Wunder der Geburt“ folgt im Laufe der Dekaden das Bewusstsein des Risses. Erkennen wir immer mehr die „Diskrepanz zwischen Sein und Sollen“, Hoffen und Scheitern der Weltverbesserungswünsche, ist es aus mit den wilden Träumereien. Anlass zur Schwermut muss dies aber keineswegs sein. Vielmehr sieht die Autorin darin die Spannung, die eine gelingende Existenz ausmachen kann: „Ideale der Vernunft sagen uns, wie die Welt sein sollte; die Erfahrung sagt uns, dass sie so ist. Erwachsenwerden verlangt, sich der Kluft zwischen beidem zu stellen, ohne eines aufzugeben.“ Aus der Empörung und Enttäuschung geht bestenfalls die Vita activa hervor, das Leben als stete, nie zu vollendende Annäherung an die große Leibniz’sche Vorstellung von der besten aller Welten.
Aber die Argumentation verwirrt sich in allerlei rhetorischem Sprach- und Ideengerümpel. Mal manövriert uns die 1955 in Atlanta geborene Philosophin und aktuelle Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam in die Tiefen der Auslegung von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), mal streift sie eher en passant das wichtige Referenzwerk „Kindheit und Gesellschaft“ von Erik H. Erikson, um im Anschluss daran in populärphilosophisches Gewässer über Reisen und Arbeit vorzudringen.
Neben großen Sätzen – „In den Industrienationen ist Arbeit die Domäne der Erwachsenen, ja sogar die paradigmatische Tätigkeit des Erwachsenenalters“ – versammelt sich dort eine Menge kulturkritischen Treibguts: E-Mail-Sucht, Verführung durch Werbung, Wachstumsideologie und überhaupt die Geister des Neoliberalismus gehören zum gesellschaftspolitischen Spuk in dieser in weiten Teilen überfrachteten und ausschweifenden Kolportage.
Eine Welt am Rande des Abgrunds kann nur abschreckende Wirkung für die älteren Generationen von morgen mit sich bringen. „Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend.“ Susan Neiman geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie dahinter sogar ein systematisches Kalkül vermutet. Statt die Menschen zu aufgeklärten Weltbürgern zu erziehen, übten sich globale Unternehmen und Diktaturen an der Verklärung der Kindheit.
Welch Balsam für Verschwörungstheoretiker! Von der Infantilisierung als Mittel zur Repression zu sprechen, ist Sophismus vom Feinsten und geht an der Wirklichkeit wie auch der Kulturgeschichte dennoch vorbei. Oder haben wir manches nur übersehen? Etwa, dass Eichendorff und Rilke mit ihren lieblichen Würdigungen der Kindheit vielleicht verkappte Vordenker von Staatsautoritarismus und Bewusstseinskapitalismus waren?
Geradezu karikaturistisch mutet in diesem Zusammenhang übrigens Neimans Rhetorik an: Denn während sie abseits ihres streckenweise zur Nebensache geratenden Plädoyers für das Erwachsenwerden so munter Hiebe auf die Ausbeutungsökonomie verteilt, lesen sich ihre Ratschläge wie das Skript von Unternehmenscoachings und Erfolgsgurus: „Die Fähigkeit, Ihr Leben als Ganzes zu sehen, das es gewesen ist, gibt Ihnen die Möglichkeit, die Stärken zu erkennen, mit denen Sie es gelebt haben, und ein Gespür für Ihren eigenen Charakter zu entwickeln.“ Wüssten wir es nicht besser, hätte solcherlei Sermon auch von Apple-Chef Tim Cook auf einem Wochenendseminar zur Motivation ermüdeter Stammmitarbeiter verzapft werden können.
Zweifelsohne ist das Ja zum Älterwerden in einer Gesellschaft, welche derzeit erst allmählich die Konsequenzen des demografischen Wandels zu spüren beginnt, ein anerkennenswertes und sicherlich sogar überfälliges Projekt. Urteilskraft, Autonomie und Reflektiertheit zeichnen uns mit jedem neuen Jahr mehr aus und sollten uns zu einer neuen Wertschätzung des Erwachsenseins einladen. Von diesen in Neimans Text zu kurz gekommenen Impulsen hätte man sich am Ende mehr gewünscht.
Aber das Leben ist nun einmal, wie uns die mit der Zeit gekommenen Erfahrungen lehren, kein Ponyhof und Literaturkritik kein Streichelzoo: Darum, liebe Erwachsene und alle, die es noch werden müssen, sei euch gesagt: Die große, weite Welt der Bücher bietet Besseres, woran man reifen kann.
BJÖRN HAYER
Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Hanser Berlin, Berlin 2015. 240 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Die Spannung zischen Sein und
Soll auszuhalten gehört zu einer
gelingenden Existenz
Mit jedem Jahr können wir an
Urteilskraft, Autonomie
und Reflektiertheit gewinnen
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2015Vernünftige Aufforderung
Weniger Spielzeug: Susan Neiman ermutigt mit Kant
Als Ratgeber zu Fragen der Lebenskunst wird Immanuel Kant nur selten gerühmt. Zu schroff war sein Verdikt, Verhaltensregeln seien rein subjektiv, würdiger Gegenstand der Philosophie dagegen die moralischen Pflichten, die zu erfüllen die Ehrfurcht vor dem inneren Sittengesetz gebiete. So mag es überraschen, dass die heute ihren sechzigsten Geburtstag begehende amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums Susan Neiman Kant zur Leitfigur einer normativen Philosophie erklärt, die nicht Pflichten und Tugenden beschwört, sondern lehrt, den richtigen Glücksversprechen zu folgen. Kant steht für Neiman trotz mancher Gerüchte in Kreisen der Philosophiehistoriker nicht in der Tradition des Stoizismus. Die Weigerung, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, sei vielmehr, so Neiman mit kantischer Emphase, "ein unausrottbares Erfordernis unserer Vernunft".
Die Spannung zwischen Sein und Sollen auszuhalten ist für Neiman Kennzeichen eines erwachsenen Umgangs mit den Beschränktheiten des Intellekts und mehr noch der Willensstärke. Erwachsen werden bedeute, einen Mittelweg zu finden zwischen kindlich-naivem Vertrauen in technischen, kulturellen und sozialen Fortschritt und dem grenzenlosen Misstrauen des Jugendlichen, der permanent zwischen Hochgefühl und Enttäuschung schwanke. Noch immer gelte Kants Formel, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, selbstverschuldet weniger wegen mangelnden Wissens als wegen Feigheit.
Mündigkeit verlange Mut, nicht mehr wie ehedem vor Fürstenthronen, eher die Bereitschaft, sich dem zu verweigern, was auf dem Markt der materiellen und geistigen Moden jeweils angesagt sei. Anders als totalitäre Regime, die früher oder später Rebellion provozierten, appellierten liberale Gesellschaften an intellektuelle Faulheit, indem sie unser Leben bequemer gestalteten. Die Möglichkeit, zwischen immer mehr und immer raffinierteren technischen Spielzeugen wählen zu können, verberge, dass es bei der Gestaltung des politischen Zusammenlebens keine echten Wahlmöglichkeiten zu geben scheine.
Diese Klage über die Versuchungen des Konsums und die infantile Jagd nach dem jeweils Allerneuesten erinnert an die vor allem aus den siebziger Jahren bekannte Kritik der Warenästhetik, die damals noch im marxistischem Gewande daherkam. Susan Neimans Diagnose und mehr noch ihre Therapievorschläge sind trotz linker Bekenntnisse eher kulturkonservativ, manchmal auch trivial. Sicherlich, gegen den Rat, den Intellekt auch an der Lektüre philosophischer und literarischer Klassiker zu schulen, ist nichts einzuwenden. Und richtig ist ebenso die Feststellung, ein fremdes Land könne man nicht als Pauschaltourist kennenlerne. Aber fraglich bleibt, ob das Bekenntnis zu Mündigkeit und Autonomie tatsächlich, wie von der Autorin erhofft, subversive Kraft in einer Gesellschaft entfalten kann, die längst Selbstbestimmung und Kreativität zu obersten Maximen erhoben hat.
GERD SCHRADER
Susan Neiman: "Warum erwachsen werden?" Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weniger Spielzeug: Susan Neiman ermutigt mit Kant
Als Ratgeber zu Fragen der Lebenskunst wird Immanuel Kant nur selten gerühmt. Zu schroff war sein Verdikt, Verhaltensregeln seien rein subjektiv, würdiger Gegenstand der Philosophie dagegen die moralischen Pflichten, die zu erfüllen die Ehrfurcht vor dem inneren Sittengesetz gebiete. So mag es überraschen, dass die heute ihren sechzigsten Geburtstag begehende amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums Susan Neiman Kant zur Leitfigur einer normativen Philosophie erklärt, die nicht Pflichten und Tugenden beschwört, sondern lehrt, den richtigen Glücksversprechen zu folgen. Kant steht für Neiman trotz mancher Gerüchte in Kreisen der Philosophiehistoriker nicht in der Tradition des Stoizismus. Die Weigerung, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, sei vielmehr, so Neiman mit kantischer Emphase, "ein unausrottbares Erfordernis unserer Vernunft".
Die Spannung zwischen Sein und Sollen auszuhalten ist für Neiman Kennzeichen eines erwachsenen Umgangs mit den Beschränktheiten des Intellekts und mehr noch der Willensstärke. Erwachsen werden bedeute, einen Mittelweg zu finden zwischen kindlich-naivem Vertrauen in technischen, kulturellen und sozialen Fortschritt und dem grenzenlosen Misstrauen des Jugendlichen, der permanent zwischen Hochgefühl und Enttäuschung schwanke. Noch immer gelte Kants Formel, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, selbstverschuldet weniger wegen mangelnden Wissens als wegen Feigheit.
Mündigkeit verlange Mut, nicht mehr wie ehedem vor Fürstenthronen, eher die Bereitschaft, sich dem zu verweigern, was auf dem Markt der materiellen und geistigen Moden jeweils angesagt sei. Anders als totalitäre Regime, die früher oder später Rebellion provozierten, appellierten liberale Gesellschaften an intellektuelle Faulheit, indem sie unser Leben bequemer gestalteten. Die Möglichkeit, zwischen immer mehr und immer raffinierteren technischen Spielzeugen wählen zu können, verberge, dass es bei der Gestaltung des politischen Zusammenlebens keine echten Wahlmöglichkeiten zu geben scheine.
Diese Klage über die Versuchungen des Konsums und die infantile Jagd nach dem jeweils Allerneuesten erinnert an die vor allem aus den siebziger Jahren bekannte Kritik der Warenästhetik, die damals noch im marxistischem Gewande daherkam. Susan Neimans Diagnose und mehr noch ihre Therapievorschläge sind trotz linker Bekenntnisse eher kulturkonservativ, manchmal auch trivial. Sicherlich, gegen den Rat, den Intellekt auch an der Lektüre philosophischer und literarischer Klassiker zu schulen, ist nichts einzuwenden. Und richtig ist ebenso die Feststellung, ein fremdes Land könne man nicht als Pauschaltourist kennenlerne. Aber fraglich bleibt, ob das Bekenntnis zu Mündigkeit und Autonomie tatsächlich, wie von der Autorin erhofft, subversive Kraft in einer Gesellschaft entfalten kann, die längst Selbstbestimmung und Kreativität zu obersten Maximen erhoben hat.
GERD SCHRADER
Susan Neiman: "Warum erwachsen werden?" Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Noch vor der philosophischen Ermutigung ist ihr Buch als Warnruf gemeint. Den braucht es dringend in einem von Fernsehserien überschwemmten, immer mehr überwachten Alltag, in welchem die Passivität, nach Kant einer der schlimmsten menschlichen Triebe, überhandnimmt." Anja Hirsch, Deutschlandfunk, 15.02.16
"Ein Lob der Reife, so gelehrt wie temperamentvoll verfasst" Ursula März, Die Zeit, 28.05.2015
"Das alles liest sich ganz wunderbar und anregend und macht sogar Lust, sich irgendwann doch noch mal an Kant zu versuchen." Katharina Granzin, Die Tageszeitung, 25.04.15
"Philosophisch und gut lesbar. ... Ein Buch, dass zum Weiterdenken anregt." René Aguigah, ZDF Das blaue Sofa, 13.03.15
"Wie Susan Neiman das kantianische Erwachsenwerden beschreibt, ein Weg, der nie zu Ende geht, hat etwas Subversives, das einen fast wieder jung macht. Man könnte es ruhig einmal versuchen." Peter Praschl, Die Welt, 21.02.15
"Ein Lob der Reife, so gelehrt wie temperamentvoll verfasst" Ursula März, Die Zeit, 28.05.2015
"Das alles liest sich ganz wunderbar und anregend und macht sogar Lust, sich irgendwann doch noch mal an Kant zu versuchen." Katharina Granzin, Die Tageszeitung, 25.04.15
"Philosophisch und gut lesbar. ... Ein Buch, dass zum Weiterdenken anregt." René Aguigah, ZDF Das blaue Sofa, 13.03.15
"Wie Susan Neiman das kantianische Erwachsenwerden beschreibt, ein Weg, der nie zu Ende geht, hat etwas Subversives, das einen fast wieder jung macht. Man könnte es ruhig einmal versuchen." Peter Praschl, Die Welt, 21.02.15