Unsere Kultur verklärt die Zeit der Jugend mehr, als Peter Pan zu träumen gewagt hätte. Und alles, was danach kommt, erscheint als unaufhaltsamer Niedergang. Doch schon Kant wusste, dass Unmündigkeit einfacher ist - für den Einzelnen, vor allem aber für staatliche Obrigkeiten, denen infantilisierte Konsumenten lieber sind als selbstdenkende Bürger. Susan Neiman wendet sich gegen diese resignative Sicht auf das Erwachsensein. Sie liest die Philosophen neu und plädiert mit Rousseau und Kant: Nehmen wir uns die Freiheit, etwas vom Leben zu verlangen! Denn Reife bedeutet nicht das Ende aller Träume, sondern ein subversives Ideal: das Leben in seiner Widersprüchlichkeit zu ergreifen und glücken zu lassen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerd Schrader findet zwar sehr schön, wie Susan Neiman in "Warum erwachsen werden?" Immanuel Kant aus der Schublade des Stoizismus herausholt und ihn als Vordenker einer "Kritik der Warenästhetik" beschreibt, die in der Verweigerung von "materiellen und geistigen Moden" ein Ziel der Schärfung des Intellekts erblickt, aber der Rezensent bezweifelt dann doch, inwiefern die Anrufung von Mündigkeit und Autonomie in einer Gesellschaft, die sich die Selbstbestimmung ohnehin auf die Fahnen geschrieben hat, wirklich die erhoffte subversive Wirkung erzielt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2015Vernünftige Aufforderung
Weniger Spielzeug: Susan Neiman ermutigt mit Kant
Als Ratgeber zu Fragen der Lebenskunst wird Immanuel Kant nur selten gerühmt. Zu schroff war sein Verdikt, Verhaltensregeln seien rein subjektiv, würdiger Gegenstand der Philosophie dagegen die moralischen Pflichten, die zu erfüllen die Ehrfurcht vor dem inneren Sittengesetz gebiete. So mag es überraschen, dass die heute ihren sechzigsten Geburtstag begehende amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums Susan Neiman Kant zur Leitfigur einer normativen Philosophie erklärt, die nicht Pflichten und Tugenden beschwört, sondern lehrt, den richtigen Glücksversprechen zu folgen. Kant steht für Neiman trotz mancher Gerüchte in Kreisen der Philosophiehistoriker nicht in der Tradition des Stoizismus. Die Weigerung, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, sei vielmehr, so Neiman mit kantischer Emphase, "ein unausrottbares Erfordernis unserer Vernunft".
Die Spannung zwischen Sein und Sollen auszuhalten ist für Neiman Kennzeichen eines erwachsenen Umgangs mit den Beschränktheiten des Intellekts und mehr noch der Willensstärke. Erwachsen werden bedeute, einen Mittelweg zu finden zwischen kindlich-naivem Vertrauen in technischen, kulturellen und sozialen Fortschritt und dem grenzenlosen Misstrauen des Jugendlichen, der permanent zwischen Hochgefühl und Enttäuschung schwanke. Noch immer gelte Kants Formel, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, selbstverschuldet weniger wegen mangelnden Wissens als wegen Feigheit.
Mündigkeit verlange Mut, nicht mehr wie ehedem vor Fürstenthronen, eher die Bereitschaft, sich dem zu verweigern, was auf dem Markt der materiellen und geistigen Moden jeweils angesagt sei. Anders als totalitäre Regime, die früher oder später Rebellion provozierten, appellierten liberale Gesellschaften an intellektuelle Faulheit, indem sie unser Leben bequemer gestalteten. Die Möglichkeit, zwischen immer mehr und immer raffinierteren technischen Spielzeugen wählen zu können, verberge, dass es bei der Gestaltung des politischen Zusammenlebens keine echten Wahlmöglichkeiten zu geben scheine.
Diese Klage über die Versuchungen des Konsums und die infantile Jagd nach dem jeweils Allerneuesten erinnert an die vor allem aus den siebziger Jahren bekannte Kritik der Warenästhetik, die damals noch im marxistischem Gewande daherkam. Susan Neimans Diagnose und mehr noch ihre Therapievorschläge sind trotz linker Bekenntnisse eher kulturkonservativ, manchmal auch trivial. Sicherlich, gegen den Rat, den Intellekt auch an der Lektüre philosophischer und literarischer Klassiker zu schulen, ist nichts einzuwenden. Und richtig ist ebenso die Feststellung, ein fremdes Land könne man nicht als Pauschaltourist kennenlerne. Aber fraglich bleibt, ob das Bekenntnis zu Mündigkeit und Autonomie tatsächlich, wie von der Autorin erhofft, subversive Kraft in einer Gesellschaft entfalten kann, die längst Selbstbestimmung und Kreativität zu obersten Maximen erhoben hat.
GERD SCHRADER
Susan Neiman: "Warum erwachsen werden?" Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weniger Spielzeug: Susan Neiman ermutigt mit Kant
Als Ratgeber zu Fragen der Lebenskunst wird Immanuel Kant nur selten gerühmt. Zu schroff war sein Verdikt, Verhaltensregeln seien rein subjektiv, würdiger Gegenstand der Philosophie dagegen die moralischen Pflichten, die zu erfüllen die Ehrfurcht vor dem inneren Sittengesetz gebiete. So mag es überraschen, dass die heute ihren sechzigsten Geburtstag begehende amerikanische Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums Susan Neiman Kant zur Leitfigur einer normativen Philosophie erklärt, die nicht Pflichten und Tugenden beschwört, sondern lehrt, den richtigen Glücksversprechen zu folgen. Kant steht für Neiman trotz mancher Gerüchte in Kreisen der Philosophiehistoriker nicht in der Tradition des Stoizismus. Die Weigerung, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist, sei vielmehr, so Neiman mit kantischer Emphase, "ein unausrottbares Erfordernis unserer Vernunft".
Die Spannung zwischen Sein und Sollen auszuhalten ist für Neiman Kennzeichen eines erwachsenen Umgangs mit den Beschränktheiten des Intellekts und mehr noch der Willensstärke. Erwachsen werden bedeute, einen Mittelweg zu finden zwischen kindlich-naivem Vertrauen in technischen, kulturellen und sozialen Fortschritt und dem grenzenlosen Misstrauen des Jugendlichen, der permanent zwischen Hochgefühl und Enttäuschung schwanke. Noch immer gelte Kants Formel, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, selbstverschuldet weniger wegen mangelnden Wissens als wegen Feigheit.
Mündigkeit verlange Mut, nicht mehr wie ehedem vor Fürstenthronen, eher die Bereitschaft, sich dem zu verweigern, was auf dem Markt der materiellen und geistigen Moden jeweils angesagt sei. Anders als totalitäre Regime, die früher oder später Rebellion provozierten, appellierten liberale Gesellschaften an intellektuelle Faulheit, indem sie unser Leben bequemer gestalteten. Die Möglichkeit, zwischen immer mehr und immer raffinierteren technischen Spielzeugen wählen zu können, verberge, dass es bei der Gestaltung des politischen Zusammenlebens keine echten Wahlmöglichkeiten zu geben scheine.
Diese Klage über die Versuchungen des Konsums und die infantile Jagd nach dem jeweils Allerneuesten erinnert an die vor allem aus den siebziger Jahren bekannte Kritik der Warenästhetik, die damals noch im marxistischem Gewande daherkam. Susan Neimans Diagnose und mehr noch ihre Therapievorschläge sind trotz linker Bekenntnisse eher kulturkonservativ, manchmal auch trivial. Sicherlich, gegen den Rat, den Intellekt auch an der Lektüre philosophischer und literarischer Klassiker zu schulen, ist nichts einzuwenden. Und richtig ist ebenso die Feststellung, ein fremdes Land könne man nicht als Pauschaltourist kennenlerne. Aber fraglich bleibt, ob das Bekenntnis zu Mündigkeit und Autonomie tatsächlich, wie von der Autorin erhofft, subversive Kraft in einer Gesellschaft entfalten kann, die längst Selbstbestimmung und Kreativität zu obersten Maximen erhoben hat.
GERD SCHRADER
Susan Neiman: "Warum erwachsen werden?" Eine philosophische Ermutigung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2015. 238 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Noch vor der philosophischen Ermutigung ist ihr Buch als Warnruf gemeint. Den braucht es dringend in einem von Fernsehserien überschwemmten, immer mehr überwachten Alltag, in welchem die Passivität, nach Kant einer der schlimmsten menschlichen Triebe, überhandnimmt." Anja Hirsch, Deutschlandfunk, 15.02.16
"Ein Lob der Reife, so gelehrt wie temperamentvoll verfasst" Ursula März, Die Zeit, 28.05.2015
"Das alles liest sich ganz wunderbar und anregend und macht sogar Lust, sich irgendwann doch noch mal an Kant zu versuchen." Katharina Granzin, Die Tageszeitung, 25.04.15
"Philosophisch und gut lesbar. ... Ein Buch, dass zum Weiterdenken anregt." René Aguigah, ZDF Das blaue Sofa, 13.03.15
"Wie Susan Neiman das kantianische Erwachsenwerden beschreibt, ein Weg, der nie zu Ende geht, hat etwas Subversives, das einen fast wieder jung macht. Man könnte es ruhig einmal versuchen." Peter Praschl, Die Welt, 21.02.15
"Ein Lob der Reife, so gelehrt wie temperamentvoll verfasst" Ursula März, Die Zeit, 28.05.2015
"Das alles liest sich ganz wunderbar und anregend und macht sogar Lust, sich irgendwann doch noch mal an Kant zu versuchen." Katharina Granzin, Die Tageszeitung, 25.04.15
"Philosophisch und gut lesbar. ... Ein Buch, dass zum Weiterdenken anregt." René Aguigah, ZDF Das blaue Sofa, 13.03.15
"Wie Susan Neiman das kantianische Erwachsenwerden beschreibt, ein Weg, der nie zu Ende geht, hat etwas Subversives, das einen fast wieder jung macht. Man könnte es ruhig einmal versuchen." Peter Praschl, Die Welt, 21.02.15