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Die Osterweiterung der EU stellt erneut die Frage nach der Genese Europas als eines Kulturraums historisch gewachsener Gemeinsamkeiten. In verschiedenen Wissenschaften - Geschichte, Soziologie, "area studies" u.a. - wird das Problem des "europäischen Sonderwegs" und seiner bedingenden Faktoren seit Jahrzehnten diskutiert. Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht - insbesondere mit dem islamischen Raum und China. Abweichend von den derzeit dominanten Lösungsangeboten des Problems führt sein Weg zu Wurzeln, die weit ins…mehr

Produktbeschreibung
Die Osterweiterung der EU stellt erneut die Frage nach der Genese Europas als eines Kulturraums historisch gewachsener Gemeinsamkeiten. In verschiedenen Wissenschaften - Geschichte, Soziologie, "area studies" u.a. - wird das Problem des "europäischen Sonderwegs" und seiner bedingenden Faktoren seit Jahrzehnten diskutiert. Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht - insbesondere mit dem islamischen Raum und China. Abweichend von den derzeit dominanten Lösungsangeboten des Problems führt sein Weg zu Wurzeln, die weit ins Mittelalter zurückreichen. Das Problem der europäischen Sonderentwicklung beschäftigt die Wissenschaft schon seit vielen Jahrzehnten. Warum ist es gerade in diesem Kulturraum zur Industriellen Revolution gekommen? Warum haben sich hier Kapitalismus und Kolonialismus entwickelt? Warum wurden gerade hier parlamentarisch-demokratische Systeme begründet? Das vorliegende Buch greift diese klassischen Fragen nach den Wurzeln des spezifisch Europäischen auf und beantwortet sie in neuer Weise. Von einem breiten Spektrum europäischer Besonderheiten ausgehend wird im interkulturellen Vergleich - vor allem mit dem islamischen Raum und China - nach bedingenden Faktoren gesucht. Dabei ergeben sich eine Reihe neuer Erklärungsansätze in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: In der Landwirtschaft, im Familiensystem, in der Wehrverfassung, in spezifischen Organisationsformen der Religionsgemeinschaften. Aus der Wechselwirkung dieser Bedingungen läßt sich die besondere Eigenart, aber auch die besondere Dynamik der europäischen Gesellschafts- und Kulturentwicklung verständlich machen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2003

Reis statt Roggen
Michael Mitterauers Europa-Buch reißt Perspektiven auf

Große Bücher müssen nicht dick sein; und Michael Mitterauer, der Wiener Mediävist, hat ein großes Buch geschrieben. Es macht ernst mit Max Webers beiläufiger Frage, welche "Verkettung von Umständen" die "okzidentale Sonderentwicklung" möglich gemacht habe, und schärft seinen und seiner Leser Blick durch Perspektiven, die Jared Diamond in seinem fulminanten Klassiker "Arm und Reich" eröffnet hatte. Ebendieser Blick läßt ihn dichte Bündel kultureller "Umstände" und deren Vernetzungen nach innen und außen erkennen, die gewöhnlich unbeachtet bleiben, obgleich sie vielfältigste und nachhaltigste Wirkungen zeitigten.

Welcher Historiker hätte schon Europas grandiosen Aufstieg und seine technischen Revolutionen an "Roggen und Hafer", die Grundnahrungsmittel für Mensch und Pferd seit dem früheren Mittelalter, rückgekoppelt? Welcher Chinas seit derselben Epoche einsetzende Rückschrittlichkeit an seinen so erfolgreichen Reisanbau? Reis statt Roggen bedeutete eine kulturelle Weichenstellung, deren Folgen heute weltweit und auf vielen Ebenen, nicht zuletzt in der Politik, zu greifen sind. Mitterauer lehrt selbst den erfahrenen Historiker sehen. "Warum Europa?" wird auf diese Weise ein Buch, das weit über Europa hinaus Grundprobleme der Globalisierung erörtert; und manch ein Politiker von heute wäre klug beraten, dieses Buch zur Hand zu nehmen und es gründlich zu studieren.

In sieben "kulturellen Netzwerkanalysen" (wie man das Programm eines jeden der sieben Kapitel des Buches charakterisieren könnte) behandelt es die Agrarrevolution des Frühmittelalters und ihre fernreichenden Wirkungen, die grundherrschaftlichen Wurzeln der europäischen Sozialformen der Moderne, die europäischen Verwandtschaftssysteme und ihre Rolle für die räumliche, soziale und geistige Mobilisierung der Gesellschaft, den Sonderweg des europäischen Feudalismus, die weltgestaltende Wirkung der durch Papsttum und religiöse Orden geprägten Religionsgemeinschaft, die an Wirtschaftsleistungen und Fernhandel gekoppelten Frühformen des europäischen Expansionismus in Kreuzzügen und beginnendem Kolonialismus, endlich Predigt und Buchdruck als Hinweis auf die Effekte der Literalisierung einer vorwiegend an Mündlichkeit orientierten Gesellschaft und als Vorformen von Massenkommunikation.

Der das gesamte Buch durchziehende Vergleich gleichartiger Phänomene in der islamischen Welt und in China zur nämlichen Zeit läßt die Eigenart der europäischen Entwicklung und ihre spezifische Leistungskraft klar und scharf hervortreten. Auch der Blick auf Byzanz wird nicht gescheut; und ebensowenig bleiben innereuropäische Differenzierungen (etwa im Hinblick auf Heiratsverhalten) außer Betracht. Bereits das erste Kapitel "Roggen und Hafer", das sich der landwirtschaftlichen Revolutionswelle durch die gesamte Alte Welt während des früheren "Mittelalters" widmet, führt zur Gegenüberstellung der Kulturen auch auf technologischem Gebiet. Denn keineswegs bloß die genannten Nahrungsmittel waren betroffen. Während im Westen eine Phase der Vergetreidung heraufzog, wandte sich die islamische Welt vornehmlich dem Gartenbau zu, liebte beispielsweise das Zuckerrohr und setzte sich in China der Anbau des Champa-Reises durch, der im Naßfeld angebaut wird.

Der Anbau von Getreide bringt eine Fülle weiterer Aktivitäten mit sich. So erfordert und vereint er unter anderem Ackerbau, Zugtierhaltung (Rind und Pferd), Dreifelderwirtschaft, Wassermühle, Waldwirtschaft, Transportmittel wie Lastwagen und Straße und anderes mehr. Der Gartenbau bedarf vor allem einer ausgedehnten Bewässerungstechnik und keiner Mühle; er kann auf den Lastwagen verzichten, sich mit Esel und Kamel begnügen, zeitigt mithin eine völlig andere Infrastruktur.

Auch der Reis bedarf keiner Mühlen. Obwohl in China die Wassermühle längst vor ihrer Verbreitung in Europa bekannt war, wurde sie überflüssig und verschwand tatsächlich mehr oder weniger. Der leichte Reisanbau im Naßfeld (mit Wasserbüffeln) erübrigte nicht nur die Zugtierhaltung, zumal das Pferd; es verschwand ein Stimulus der Agrartechnik (wie Kummet und Wendepflug) und der Militärrevolution (von den schwerbewaffneten Panzerreitern bis hin zur Kavallerie). Mit dem Bedarf an Mühlen aber verlor sich ein entscheidendes Moment des technologischen Fortschritts: vertikales Mühlrad, Nockenwelle, Antriebskraft für Getreide-, Öl-, Loh-, Gips-, Farben-, Papier-, Pulver- oder Erzmühle, für die Entwässerungsanlagen im Montanwesen, für Stampf-, Walk- oder Sägemühle, für Hammerwerke und vieles mehr. Die technischen Innovationen des späteren Mittelalters, die Bedingungen für den Aufbruch der Neuzeit, die Globalisierung der Interessen sind so an die scheinbar harmlose Agrarrevolution des frühen Mittelalters rückgekoppelt, die ein neues Massennahrungsmittel bereitstellten.

Auch die weiteren "Umstände", die Mitterauer in analoger Weise betrachtet, rücken altbekannte Phänomene in neues Licht. So wird etwa die Bedeutung der gattenzentrierten Kleinfamilie und des die soziale Mobilität fördernden Gesindewesens ins rechte Licht gerückt. Doch muß der Leser auf das Buch verwiesen werden, um die ganze Fülle der Anregungen aufgreifen zu können.

Gewiß, auch dieses Buch kennt Schwächen und Lücken. So verdient der Europa-Begriff eine stärkere Historisierung, als Mitterauer ihm angedeihen läßt. Die kulturellen Netzwerke, die den Sonderweg Europas ermöglichten und die bereits das Mittelalter flocht, sind tatsächlich noch viel dichter, als sie hier beschrieben werden. Die kulturschöpferische Potenz des früh- und hochmittelalterlichen Gedenk- und Stiftungswesens, das beispielsweise Klöster, Dome, Universitäten hervorbrachte, sollte angesprochen werden. Die Ausführungen über die "Konstantinische Schenkung" und den "Dictatus papae" Gregors VII. hätte man sich genauer gewünscht. Die eigentümliche Dialektik von Zerstörung und Aufbau, wie sie den Normannen eignete und auf die August Nitschke einst hinwies, könnte eine Brücke von den Wikingern des früheren Mittelalters zum modernen Staat schlagen. Der Expansionismus der Katalanen sieht sich zuwenig beachtet, obgleich er zuletzt, nach der Vereinigung der Krone Aragon mit Kastilien, über den Atlantik führte und in das spanische Weltreich mündete. So ließe sich manches ergänzen.

Zumal der Historiker des Wissens, der Bildung und der Schule wird bedauern, daß sein Gegenstand nur randseitig angesprochen wurde. Die Einführung des Buchdrucks indessen unterlag dem Druck eines seit dem frühen Mittelalter anschwellenden Wissens- und Bildungshungers und eines Buchbedarfs, der sich seit den Zeiten eines Karls des Großen kontinuierlich verbesserte, nämlich effizientere Methoden der Buchproduktion und der Buchverbreitung hervorbrachte, wie sie weder die islamische Welt noch China, noch die Antike kannten. Die serielle Speicherung und Vervielfältigung des Wissens durch den Druck war nur die vorläufig letzte Konsequenz dieses allverschlingenden Hungers.

Indes, Mitterauers Buch verdient kein Kritteln und Beckmessern. Es lebt von den Perspektiven, die es aufreißt, nicht von der Vollständigkeit; von dem interaktiven Zusammenspiel divergierender Phänomene, das es darstellt, nicht von irgendwelchen Einzelheiten; von dem ihm eigenen Sinn für die durch Jahrhunderte anhaltende systemische Wirkung selbst kleinster Impulse, die der Welt mit der Zeit eine Gestalt verleihen, die kein Neuerer ahnte, nicht von den Beschreibungen des Augenblicks; vom interkulturellen Vergleich und nicht vom Europa-Zentrismus. Kurzum, es ist, so schmal der Band sich ausnimmt, ein großes Buch.

JOHANNES FRIED

Michael Mitterauer: "Warum Europa?" Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Verlag C.H. Beck. München 2003, 352 S., 2 Karten, geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Geärgert hat sich Michael Borgolte bei der Lektüre von Michael Mitterauers Studie "Warum Europa?" Ausgehend von Max Webers Frage nach den Wurzeln des europäischen Sonderwegs, habe sich der Wiener Sozialhistoriker daran gemacht, "einen unbezweifelten historischen Sachverhalt zu illustrieren". Frei von jeglichen "Überraschungsmomenten" erarbeite Mitterauer dabei die Erfolgsgeschichte Europas an zahlreichen "universalhistorischen Vergleichen", die den Blick auf den "Eigenwert des Fremden" versperren. Sehr zum Leid des Werkes, kommentiert der Rezensent, stoße doch der Autor selbst immer wieder auf Widersprüche und Unstimmigkeiten in der europäischen Geschichte und erkennt ein "Kern-" und "Randeuropa". Eine Einsicht, zu der sich Borgolte eine eigene Studie gewünscht hätte. Da sich derlei Entdeckungen jedoch nicht in den Ansatz Mitterauers integrieren ließen, mussten sie wohl oder übel übergangen werden. Die Folge sei, so Borgolte, eine Reduktion europäischer Vielschichtigkeit.

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Stimme aus dem Verlag
„Wie wurde Europa zu dem, was es heute ist? Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht. Die F.A.Z.schreibt dazu ‚Kurzum, es ist, so schmal sich das Buch ausnimmt, ein großes Buch.‘"
(Presseabteilung, Verlag C.H. Beck)