Die Osterweiterung der EU stellt erneut die Frage nach der Genese Europas als eines Kulturraums historisch gewachsener Gemeinsamkeiten. In verschiedenen Wissenschaften - Geschichte, Soziologie, "area studies" u.a. - wird das Problem des "europäischen Sonderwegs" und seiner bedingenden Faktoren seit Jahrzehnten diskutiert. Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht - insbesondere mit dem islamischen Raum und China. Abweichend von den derzeit dominanten Lösungsangeboten des Problems führt sein Weg zu Wurzeln, die weit ins Mittelalter zurückreichen. Das Problem der europäischen Sonderentwicklung beschäftigt die Wissenschaft schon seit vielen Jahrzehnten. Warum ist es gerade in diesem Kulturraum zur Industriellen Revolution gekommen? Warum haben sich hier Kapitalismus und Kolonialismus entwickelt? Warum wurden gerade hier parlamentarisch-demokratische Systeme begründet? Das vorliegende Buch greift diese klassischen Fragen nach den Wurzeln des spezifisch Europäischen auf und beantwortet sie in neuer Weise. Von einem breiten Spektrum europäischer Besonderheiten ausgehend wird im interkulturellen Vergleich - vor allem mit dem islamischen Raum und China - nach bedingenden Faktoren gesucht. Dabei ergeben sich eine Reihe neuer Erklärungsansätze in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen: In der Landwirtschaft, im Familiensystem, in der Wehrverfassung, in spezifischen Organisationsformen der Religionsgemeinschaften. Aus der Wechselwirkung dieser Bedingungen läßt sich die besondere Eigenart, aber auch die besondere Dynamik der europäischen Gesellschafts- und Kulturentwicklung verständlich machen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2003Europas Gretchenfrage
Michael Mitterauer über den Aufstieg des Okzidents
Mitte der neunziger Jahre konstatierte ein prominenter Historiker das Ende aller deutschen Sonderwege, des antiwestlichen des Deutschen Reiches, des postnationalen der alten Bundesrepublik und des internationalistischen der DDR; erstmals seit der Wende von 1989/90 sei ganz Deutschland ein demokratischer, fest in den Westen integrierter Nationalstaat geworden. Es hat nur kurze Zeit gedauert, bis ein deutscher Bundeskanzler diese Diagnose unterlief und wieder einen besonderen deutschen Weg suchte. Es hat nur kurze Zeit gedauert, bis ein amerikanischer Präsident die Europäer mit der Frage nach ihrem Sonderweg in der internationalen Politik konfrontierte. Da mag ein Buch zur rechten Zeit auf den Markt gekommen sein, das eine Antwort parat zu haben scheint; sein Autor, der Wiener Sozialhistoriker Michael Mitterauer, hält einen europäischen Sonderweg in der Weltgeschichte für gewiss und findet dessen Grundlagen im Mittelalter.
Allerdings laufe der Sonderweg nicht gegen den Westen, sondern habe hier gerade seinen Anfang genommen. Mitterauers These ist nicht neu, und es geht ihm auch nur darum, einen unbezweifelten historischen Sachverhalt zu illustrieren; vor allem im frühen und hohen Mittelalter sucht er eine neue Antwort auf die Frage Max Webers: „Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?”
Erfolg seit 1000 Jahren
Weber und nach ihm Otto Hintze haben die Frage zu lösen versucht, indem sie den europäischen Westen mit anderen Kulturen verglichen. Das diente vor allem der Profilierung des Okzidents, weniger der Erkenntnis von Gemeinsamkeiten. Den gleichen Weg schlägt jetzt auch Mitterauer ein – das nimmt seinen Untersuchungen jedes Überraschungsmoment. Statt einen transkulturellen Vergleich zu wagen, bei dem der Eigenwert des Fremden hervortreten könnte, beruft er sich auf den außerordentlichen Erfolg Europas seit rund tausend Jahren. Im undurchdringlichen Gemenge historischer Kräfte sucht er die Faktoren zu isolieren, die – in Verkettung mit anderen – seit vermeintlichen mittelalterlichen Revolutionen die Moderne hervorgebracht haben.
Weil sein Geschichtsbild teleologisch angelegt ist, kann er dem historischen Wandel keinen Raum lassen, der nicht nur das Gewordene im wechselnden Umfeld verändert, sondern auch – und das ist entscheidend – die Faktoren der Veränderung selbst. Rätselhaft bleibt, dass sich der Autor mehrfach gegen die Unterstellung wehrt, er wolle der okzidentalen Entwicklungsdynamik auch für die Zukunft das Wort reden und keine Besonderheiten europäischer Kultur ausgrenzen; hier hätte er schon erläutern müssen, weshalb gerade jetzt abbrechen sollte, was sich, seiner Auffassung nach, über Jahrhunderte hin entfaltet hat.
Wie Mitterauers universalhistorische Vergleiche Europas Komplexität reduzieren, zeigt sich schon an der ersten Studie seines Buches; in der Tradition sozialgeschichtlicher Forschung seit den sechziger Jahren ist sie einem Aspekt der Agrarwirtschaft, also der materiellen Kultur, gewidmet. Der Autor stellt eine „Agrarrevolution” des europäischen Frühmittelalters einer gleichzeitigen „Arab Agrarian Revolution” sowie einer „Green Revolution” unter der chinesischen Song-Dynastie (960-1279) gegenüber.
Anders als herkömmliche Untersuchungen rückt er dabei nicht die Innovation von landwirtschaftlichen Techniken oder von Anbaumethoden, sondern neue Kulturpflanzen in den Mittelpunkt. In Europa seien dies Roggen und Hafer gewesen, im muslimischen Bereich südasiatische Gewächse wie Hartweizen, Baumwolle, Orange und Wassermelone, in China der Champa-Reis, der im Nassfeldbau angesetzt werden konnte. Keineswegs habe der Okzident sogleich die stärkste Dynamik entbunden, die arabische Bewässerungstechnik habe nämlich die Produktivität der muslimischen Agrarwirtschaft zunächst mehr gesteigert. Doch habe sich der abendländische Ansatz auf Dauer als erfolgreicher erwiesen, weil er zu technologischen Neuerungen und einer Gewerbedifferenzierung von weitreichender Wirkung führte.
Als im 12. Jahrhundert die Wirtschaften der islamischen Welt zu stagnieren begannen, habe die Agrarrevolution des Okzidents erst erfolgreich auf die Kolonisationsgebiete im Osten Europas übergegriffen. In China habe der Nassfeldbau hingegen geradezu zu einer Retardation der Gesamtentwicklung geführt, weil man dafür weder die Technik der Wassermühlen noch die Kultivierung von Zugtieren (besonders Ochsen in Nordwesteuropa) oder von Tragtieren (Kamele bei den Arabern) benötigte.
So eindrucksvoll Mitterauer den langfristigen Erfolg der mittelalterlichen Landwirtschaft herausarbeitet, so vermag er doch die Differenzen in der Geschichte Europas in sein Geschichtsbild nicht zu integrieren. Zurecht weist er darauf hin, dass sich keineswegs überall der Roggen- und Haferanbau durchgesetzt hat; das gilt vor allem für die mediterranen Länder und Byzanz, aber auch für Irland oder für Russland. Dabei hätte er hinzufügen müssen, dass der muslimische Pflanzenanbau mit seiner fortschrittlichen Bewässerungstechnik auch Spanien, also einen Teil Europas, erfasst hatte. In anderen Zusammenhängen ist Mitterauer ebenfalls auf einen Gegensatz zwischen dem innovationsfreudigen „Kerneuropa” und einem verhaltenen „Randeuropa” gestoßen, zu denen keltische Länder wie Irland, Schottland und Wales, ferner Ostslawen, Byzantiner und die Mauren in Spanien (oder Sizilien) gehörten, unter Umständen noch die Bewohner Skandinaviens. Das Potential dieser Erkenntnis, die sich in vielen anderen Bereichen der Geschichte bestätigen lässt, musste er aber aufgrund seines Ansatzes übergehen: Es gab demnach neben dem karolingisch geprägten, lateineuropäischen Raum zweifellos stärkster sozialer und wirtschaftlicher Dynamik ein multikulturell geprägtes zweites Europa, zusammengesetzt aus spät christianisierten Völkern, aus Ländern griechisch-orthodoxen Glaubens, aus muslimisch beherrschten und aus keltisch besiedelten Regionen. Wie „Kern” und „Ränder” je für sich und auch untereinander kommunizierten und ein spannungsreiches Miteinander entwickelten, könnte als Weg Europas in seiner Geschichte für die Gegenwart lehrreicher sein, als ein angeblich determinierter Geschichtsverlauf vom Mittelalter zur Moderne.
MICHAEL BORGOLTE
MICHAEL MITTERAUER: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Verlag C. H. Beck, München 2003. 348 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Michael Mitterauer über den Aufstieg des Okzidents
Mitte der neunziger Jahre konstatierte ein prominenter Historiker das Ende aller deutschen Sonderwege, des antiwestlichen des Deutschen Reiches, des postnationalen der alten Bundesrepublik und des internationalistischen der DDR; erstmals seit der Wende von 1989/90 sei ganz Deutschland ein demokratischer, fest in den Westen integrierter Nationalstaat geworden. Es hat nur kurze Zeit gedauert, bis ein deutscher Bundeskanzler diese Diagnose unterlief und wieder einen besonderen deutschen Weg suchte. Es hat nur kurze Zeit gedauert, bis ein amerikanischer Präsident die Europäer mit der Frage nach ihrem Sonderweg in der internationalen Politik konfrontierte. Da mag ein Buch zur rechten Zeit auf den Markt gekommen sein, das eine Antwort parat zu haben scheint; sein Autor, der Wiener Sozialhistoriker Michael Mitterauer, hält einen europäischen Sonderweg in der Weltgeschichte für gewiss und findet dessen Grundlagen im Mittelalter.
Allerdings laufe der Sonderweg nicht gegen den Westen, sondern habe hier gerade seinen Anfang genommen. Mitterauers These ist nicht neu, und es geht ihm auch nur darum, einen unbezweifelten historischen Sachverhalt zu illustrieren; vor allem im frühen und hohen Mittelalter sucht er eine neue Antwort auf die Frage Max Webers: „Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?”
Erfolg seit 1000 Jahren
Weber und nach ihm Otto Hintze haben die Frage zu lösen versucht, indem sie den europäischen Westen mit anderen Kulturen verglichen. Das diente vor allem der Profilierung des Okzidents, weniger der Erkenntnis von Gemeinsamkeiten. Den gleichen Weg schlägt jetzt auch Mitterauer ein – das nimmt seinen Untersuchungen jedes Überraschungsmoment. Statt einen transkulturellen Vergleich zu wagen, bei dem der Eigenwert des Fremden hervortreten könnte, beruft er sich auf den außerordentlichen Erfolg Europas seit rund tausend Jahren. Im undurchdringlichen Gemenge historischer Kräfte sucht er die Faktoren zu isolieren, die – in Verkettung mit anderen – seit vermeintlichen mittelalterlichen Revolutionen die Moderne hervorgebracht haben.
Weil sein Geschichtsbild teleologisch angelegt ist, kann er dem historischen Wandel keinen Raum lassen, der nicht nur das Gewordene im wechselnden Umfeld verändert, sondern auch – und das ist entscheidend – die Faktoren der Veränderung selbst. Rätselhaft bleibt, dass sich der Autor mehrfach gegen die Unterstellung wehrt, er wolle der okzidentalen Entwicklungsdynamik auch für die Zukunft das Wort reden und keine Besonderheiten europäischer Kultur ausgrenzen; hier hätte er schon erläutern müssen, weshalb gerade jetzt abbrechen sollte, was sich, seiner Auffassung nach, über Jahrhunderte hin entfaltet hat.
Wie Mitterauers universalhistorische Vergleiche Europas Komplexität reduzieren, zeigt sich schon an der ersten Studie seines Buches; in der Tradition sozialgeschichtlicher Forschung seit den sechziger Jahren ist sie einem Aspekt der Agrarwirtschaft, also der materiellen Kultur, gewidmet. Der Autor stellt eine „Agrarrevolution” des europäischen Frühmittelalters einer gleichzeitigen „Arab Agrarian Revolution” sowie einer „Green Revolution” unter der chinesischen Song-Dynastie (960-1279) gegenüber.
Anders als herkömmliche Untersuchungen rückt er dabei nicht die Innovation von landwirtschaftlichen Techniken oder von Anbaumethoden, sondern neue Kulturpflanzen in den Mittelpunkt. In Europa seien dies Roggen und Hafer gewesen, im muslimischen Bereich südasiatische Gewächse wie Hartweizen, Baumwolle, Orange und Wassermelone, in China der Champa-Reis, der im Nassfeldbau angesetzt werden konnte. Keineswegs habe der Okzident sogleich die stärkste Dynamik entbunden, die arabische Bewässerungstechnik habe nämlich die Produktivität der muslimischen Agrarwirtschaft zunächst mehr gesteigert. Doch habe sich der abendländische Ansatz auf Dauer als erfolgreicher erwiesen, weil er zu technologischen Neuerungen und einer Gewerbedifferenzierung von weitreichender Wirkung führte.
Als im 12. Jahrhundert die Wirtschaften der islamischen Welt zu stagnieren begannen, habe die Agrarrevolution des Okzidents erst erfolgreich auf die Kolonisationsgebiete im Osten Europas übergegriffen. In China habe der Nassfeldbau hingegen geradezu zu einer Retardation der Gesamtentwicklung geführt, weil man dafür weder die Technik der Wassermühlen noch die Kultivierung von Zugtieren (besonders Ochsen in Nordwesteuropa) oder von Tragtieren (Kamele bei den Arabern) benötigte.
So eindrucksvoll Mitterauer den langfristigen Erfolg der mittelalterlichen Landwirtschaft herausarbeitet, so vermag er doch die Differenzen in der Geschichte Europas in sein Geschichtsbild nicht zu integrieren. Zurecht weist er darauf hin, dass sich keineswegs überall der Roggen- und Haferanbau durchgesetzt hat; das gilt vor allem für die mediterranen Länder und Byzanz, aber auch für Irland oder für Russland. Dabei hätte er hinzufügen müssen, dass der muslimische Pflanzenanbau mit seiner fortschrittlichen Bewässerungstechnik auch Spanien, also einen Teil Europas, erfasst hatte. In anderen Zusammenhängen ist Mitterauer ebenfalls auf einen Gegensatz zwischen dem innovationsfreudigen „Kerneuropa” und einem verhaltenen „Randeuropa” gestoßen, zu denen keltische Länder wie Irland, Schottland und Wales, ferner Ostslawen, Byzantiner und die Mauren in Spanien (oder Sizilien) gehörten, unter Umständen noch die Bewohner Skandinaviens. Das Potential dieser Erkenntnis, die sich in vielen anderen Bereichen der Geschichte bestätigen lässt, musste er aber aufgrund seines Ansatzes übergehen: Es gab demnach neben dem karolingisch geprägten, lateineuropäischen Raum zweifellos stärkster sozialer und wirtschaftlicher Dynamik ein multikulturell geprägtes zweites Europa, zusammengesetzt aus spät christianisierten Völkern, aus Ländern griechisch-orthodoxen Glaubens, aus muslimisch beherrschten und aus keltisch besiedelten Regionen. Wie „Kern” und „Ränder” je für sich und auch untereinander kommunizierten und ein spannungsreiches Miteinander entwickelten, könnte als Weg Europas in seiner Geschichte für die Gegenwart lehrreicher sein, als ein angeblich determinierter Geschichtsverlauf vom Mittelalter zur Moderne.
MICHAEL BORGOLTE
MICHAEL MITTERAUER: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Verlag C. H. Beck, München 2003. 348 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.06.2003Reis statt Roggen
Michael Mitterauers Europa-Buch reißt Perspektiven auf
Große Bücher müssen nicht dick sein; und Michael Mitterauer, der Wiener Mediävist, hat ein großes Buch geschrieben. Es macht ernst mit Max Webers beiläufiger Frage, welche "Verkettung von Umständen" die "okzidentale Sonderentwicklung" möglich gemacht habe, und schärft seinen und seiner Leser Blick durch Perspektiven, die Jared Diamond in seinem fulminanten Klassiker "Arm und Reich" eröffnet hatte. Ebendieser Blick läßt ihn dichte Bündel kultureller "Umstände" und deren Vernetzungen nach innen und außen erkennen, die gewöhnlich unbeachtet bleiben, obgleich sie vielfältigste und nachhaltigste Wirkungen zeitigten.
Welcher Historiker hätte schon Europas grandiosen Aufstieg und seine technischen Revolutionen an "Roggen und Hafer", die Grundnahrungsmittel für Mensch und Pferd seit dem früheren Mittelalter, rückgekoppelt? Welcher Chinas seit derselben Epoche einsetzende Rückschrittlichkeit an seinen so erfolgreichen Reisanbau? Reis statt Roggen bedeutete eine kulturelle Weichenstellung, deren Folgen heute weltweit und auf vielen Ebenen, nicht zuletzt in der Politik, zu greifen sind. Mitterauer lehrt selbst den erfahrenen Historiker sehen. "Warum Europa?" wird auf diese Weise ein Buch, das weit über Europa hinaus Grundprobleme der Globalisierung erörtert; und manch ein Politiker von heute wäre klug beraten, dieses Buch zur Hand zu nehmen und es gründlich zu studieren.
In sieben "kulturellen Netzwerkanalysen" (wie man das Programm eines jeden der sieben Kapitel des Buches charakterisieren könnte) behandelt es die Agrarrevolution des Frühmittelalters und ihre fernreichenden Wirkungen, die grundherrschaftlichen Wurzeln der europäischen Sozialformen der Moderne, die europäischen Verwandtschaftssysteme und ihre Rolle für die räumliche, soziale und geistige Mobilisierung der Gesellschaft, den Sonderweg des europäischen Feudalismus, die weltgestaltende Wirkung der durch Papsttum und religiöse Orden geprägten Religionsgemeinschaft, die an Wirtschaftsleistungen und Fernhandel gekoppelten Frühformen des europäischen Expansionismus in Kreuzzügen und beginnendem Kolonialismus, endlich Predigt und Buchdruck als Hinweis auf die Effekte der Literalisierung einer vorwiegend an Mündlichkeit orientierten Gesellschaft und als Vorformen von Massenkommunikation.
Der das gesamte Buch durchziehende Vergleich gleichartiger Phänomene in der islamischen Welt und in China zur nämlichen Zeit läßt die Eigenart der europäischen Entwicklung und ihre spezifische Leistungskraft klar und scharf hervortreten. Auch der Blick auf Byzanz wird nicht gescheut; und ebensowenig bleiben innereuropäische Differenzierungen (etwa im Hinblick auf Heiratsverhalten) außer Betracht. Bereits das erste Kapitel "Roggen und Hafer", das sich der landwirtschaftlichen Revolutionswelle durch die gesamte Alte Welt während des früheren "Mittelalters" widmet, führt zur Gegenüberstellung der Kulturen auch auf technologischem Gebiet. Denn keineswegs bloß die genannten Nahrungsmittel waren betroffen. Während im Westen eine Phase der Vergetreidung heraufzog, wandte sich die islamische Welt vornehmlich dem Gartenbau zu, liebte beispielsweise das Zuckerrohr und setzte sich in China der Anbau des Champa-Reises durch, der im Naßfeld angebaut wird.
Der Anbau von Getreide bringt eine Fülle weiterer Aktivitäten mit sich. So erfordert und vereint er unter anderem Ackerbau, Zugtierhaltung (Rind und Pferd), Dreifelderwirtschaft, Wassermühle, Waldwirtschaft, Transportmittel wie Lastwagen und Straße und anderes mehr. Der Gartenbau bedarf vor allem einer ausgedehnten Bewässerungstechnik und keiner Mühle; er kann auf den Lastwagen verzichten, sich mit Esel und Kamel begnügen, zeitigt mithin eine völlig andere Infrastruktur.
Auch der Reis bedarf keiner Mühlen. Obwohl in China die Wassermühle längst vor ihrer Verbreitung in Europa bekannt war, wurde sie überflüssig und verschwand tatsächlich mehr oder weniger. Der leichte Reisanbau im Naßfeld (mit Wasserbüffeln) erübrigte nicht nur die Zugtierhaltung, zumal das Pferd; es verschwand ein Stimulus der Agrartechnik (wie Kummet und Wendepflug) und der Militärrevolution (von den schwerbewaffneten Panzerreitern bis hin zur Kavallerie). Mit dem Bedarf an Mühlen aber verlor sich ein entscheidendes Moment des technologischen Fortschritts: vertikales Mühlrad, Nockenwelle, Antriebskraft für Getreide-, Öl-, Loh-, Gips-, Farben-, Papier-, Pulver- oder Erzmühle, für die Entwässerungsanlagen im Montanwesen, für Stampf-, Walk- oder Sägemühle, für Hammerwerke und vieles mehr. Die technischen Innovationen des späteren Mittelalters, die Bedingungen für den Aufbruch der Neuzeit, die Globalisierung der Interessen sind so an die scheinbar harmlose Agrarrevolution des frühen Mittelalters rückgekoppelt, die ein neues Massennahrungsmittel bereitstellten.
Auch die weiteren "Umstände", die Mitterauer in analoger Weise betrachtet, rücken altbekannte Phänomene in neues Licht. So wird etwa die Bedeutung der gattenzentrierten Kleinfamilie und des die soziale Mobilität fördernden Gesindewesens ins rechte Licht gerückt. Doch muß der Leser auf das Buch verwiesen werden, um die ganze Fülle der Anregungen aufgreifen zu können.
Gewiß, auch dieses Buch kennt Schwächen und Lücken. So verdient der Europa-Begriff eine stärkere Historisierung, als Mitterauer ihm angedeihen läßt. Die kulturellen Netzwerke, die den Sonderweg Europas ermöglichten und die bereits das Mittelalter flocht, sind tatsächlich noch viel dichter, als sie hier beschrieben werden. Die kulturschöpferische Potenz des früh- und hochmittelalterlichen Gedenk- und Stiftungswesens, das beispielsweise Klöster, Dome, Universitäten hervorbrachte, sollte angesprochen werden. Die Ausführungen über die "Konstantinische Schenkung" und den "Dictatus papae" Gregors VII. hätte man sich genauer gewünscht. Die eigentümliche Dialektik von Zerstörung und Aufbau, wie sie den Normannen eignete und auf die August Nitschke einst hinwies, könnte eine Brücke von den Wikingern des früheren Mittelalters zum modernen Staat schlagen. Der Expansionismus der Katalanen sieht sich zuwenig beachtet, obgleich er zuletzt, nach der Vereinigung der Krone Aragon mit Kastilien, über den Atlantik führte und in das spanische Weltreich mündete. So ließe sich manches ergänzen.
Zumal der Historiker des Wissens, der Bildung und der Schule wird bedauern, daß sein Gegenstand nur randseitig angesprochen wurde. Die Einführung des Buchdrucks indessen unterlag dem Druck eines seit dem frühen Mittelalter anschwellenden Wissens- und Bildungshungers und eines Buchbedarfs, der sich seit den Zeiten eines Karls des Großen kontinuierlich verbesserte, nämlich effizientere Methoden der Buchproduktion und der Buchverbreitung hervorbrachte, wie sie weder die islamische Welt noch China, noch die Antike kannten. Die serielle Speicherung und Vervielfältigung des Wissens durch den Druck war nur die vorläufig letzte Konsequenz dieses allverschlingenden Hungers.
Indes, Mitterauers Buch verdient kein Kritteln und Beckmessern. Es lebt von den Perspektiven, die es aufreißt, nicht von der Vollständigkeit; von dem interaktiven Zusammenspiel divergierender Phänomene, das es darstellt, nicht von irgendwelchen Einzelheiten; von dem ihm eigenen Sinn für die durch Jahrhunderte anhaltende systemische Wirkung selbst kleinster Impulse, die der Welt mit der Zeit eine Gestalt verleihen, die kein Neuerer ahnte, nicht von den Beschreibungen des Augenblicks; vom interkulturellen Vergleich und nicht vom Europa-Zentrismus. Kurzum, es ist, so schmal der Band sich ausnimmt, ein großes Buch.
JOHANNES FRIED
Michael Mitterauer: "Warum Europa?" Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Verlag C.H. Beck. München 2003, 352 S., 2 Karten, geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Mitterauers Europa-Buch reißt Perspektiven auf
Große Bücher müssen nicht dick sein; und Michael Mitterauer, der Wiener Mediävist, hat ein großes Buch geschrieben. Es macht ernst mit Max Webers beiläufiger Frage, welche "Verkettung von Umständen" die "okzidentale Sonderentwicklung" möglich gemacht habe, und schärft seinen und seiner Leser Blick durch Perspektiven, die Jared Diamond in seinem fulminanten Klassiker "Arm und Reich" eröffnet hatte. Ebendieser Blick läßt ihn dichte Bündel kultureller "Umstände" und deren Vernetzungen nach innen und außen erkennen, die gewöhnlich unbeachtet bleiben, obgleich sie vielfältigste und nachhaltigste Wirkungen zeitigten.
Welcher Historiker hätte schon Europas grandiosen Aufstieg und seine technischen Revolutionen an "Roggen und Hafer", die Grundnahrungsmittel für Mensch und Pferd seit dem früheren Mittelalter, rückgekoppelt? Welcher Chinas seit derselben Epoche einsetzende Rückschrittlichkeit an seinen so erfolgreichen Reisanbau? Reis statt Roggen bedeutete eine kulturelle Weichenstellung, deren Folgen heute weltweit und auf vielen Ebenen, nicht zuletzt in der Politik, zu greifen sind. Mitterauer lehrt selbst den erfahrenen Historiker sehen. "Warum Europa?" wird auf diese Weise ein Buch, das weit über Europa hinaus Grundprobleme der Globalisierung erörtert; und manch ein Politiker von heute wäre klug beraten, dieses Buch zur Hand zu nehmen und es gründlich zu studieren.
In sieben "kulturellen Netzwerkanalysen" (wie man das Programm eines jeden der sieben Kapitel des Buches charakterisieren könnte) behandelt es die Agrarrevolution des Frühmittelalters und ihre fernreichenden Wirkungen, die grundherrschaftlichen Wurzeln der europäischen Sozialformen der Moderne, die europäischen Verwandtschaftssysteme und ihre Rolle für die räumliche, soziale und geistige Mobilisierung der Gesellschaft, den Sonderweg des europäischen Feudalismus, die weltgestaltende Wirkung der durch Papsttum und religiöse Orden geprägten Religionsgemeinschaft, die an Wirtschaftsleistungen und Fernhandel gekoppelten Frühformen des europäischen Expansionismus in Kreuzzügen und beginnendem Kolonialismus, endlich Predigt und Buchdruck als Hinweis auf die Effekte der Literalisierung einer vorwiegend an Mündlichkeit orientierten Gesellschaft und als Vorformen von Massenkommunikation.
Der das gesamte Buch durchziehende Vergleich gleichartiger Phänomene in der islamischen Welt und in China zur nämlichen Zeit läßt die Eigenart der europäischen Entwicklung und ihre spezifische Leistungskraft klar und scharf hervortreten. Auch der Blick auf Byzanz wird nicht gescheut; und ebensowenig bleiben innereuropäische Differenzierungen (etwa im Hinblick auf Heiratsverhalten) außer Betracht. Bereits das erste Kapitel "Roggen und Hafer", das sich der landwirtschaftlichen Revolutionswelle durch die gesamte Alte Welt während des früheren "Mittelalters" widmet, führt zur Gegenüberstellung der Kulturen auch auf technologischem Gebiet. Denn keineswegs bloß die genannten Nahrungsmittel waren betroffen. Während im Westen eine Phase der Vergetreidung heraufzog, wandte sich die islamische Welt vornehmlich dem Gartenbau zu, liebte beispielsweise das Zuckerrohr und setzte sich in China der Anbau des Champa-Reises durch, der im Naßfeld angebaut wird.
Der Anbau von Getreide bringt eine Fülle weiterer Aktivitäten mit sich. So erfordert und vereint er unter anderem Ackerbau, Zugtierhaltung (Rind und Pferd), Dreifelderwirtschaft, Wassermühle, Waldwirtschaft, Transportmittel wie Lastwagen und Straße und anderes mehr. Der Gartenbau bedarf vor allem einer ausgedehnten Bewässerungstechnik und keiner Mühle; er kann auf den Lastwagen verzichten, sich mit Esel und Kamel begnügen, zeitigt mithin eine völlig andere Infrastruktur.
Auch der Reis bedarf keiner Mühlen. Obwohl in China die Wassermühle längst vor ihrer Verbreitung in Europa bekannt war, wurde sie überflüssig und verschwand tatsächlich mehr oder weniger. Der leichte Reisanbau im Naßfeld (mit Wasserbüffeln) erübrigte nicht nur die Zugtierhaltung, zumal das Pferd; es verschwand ein Stimulus der Agrartechnik (wie Kummet und Wendepflug) und der Militärrevolution (von den schwerbewaffneten Panzerreitern bis hin zur Kavallerie). Mit dem Bedarf an Mühlen aber verlor sich ein entscheidendes Moment des technologischen Fortschritts: vertikales Mühlrad, Nockenwelle, Antriebskraft für Getreide-, Öl-, Loh-, Gips-, Farben-, Papier-, Pulver- oder Erzmühle, für die Entwässerungsanlagen im Montanwesen, für Stampf-, Walk- oder Sägemühle, für Hammerwerke und vieles mehr. Die technischen Innovationen des späteren Mittelalters, die Bedingungen für den Aufbruch der Neuzeit, die Globalisierung der Interessen sind so an die scheinbar harmlose Agrarrevolution des frühen Mittelalters rückgekoppelt, die ein neues Massennahrungsmittel bereitstellten.
Auch die weiteren "Umstände", die Mitterauer in analoger Weise betrachtet, rücken altbekannte Phänomene in neues Licht. So wird etwa die Bedeutung der gattenzentrierten Kleinfamilie und des die soziale Mobilität fördernden Gesindewesens ins rechte Licht gerückt. Doch muß der Leser auf das Buch verwiesen werden, um die ganze Fülle der Anregungen aufgreifen zu können.
Gewiß, auch dieses Buch kennt Schwächen und Lücken. So verdient der Europa-Begriff eine stärkere Historisierung, als Mitterauer ihm angedeihen läßt. Die kulturellen Netzwerke, die den Sonderweg Europas ermöglichten und die bereits das Mittelalter flocht, sind tatsächlich noch viel dichter, als sie hier beschrieben werden. Die kulturschöpferische Potenz des früh- und hochmittelalterlichen Gedenk- und Stiftungswesens, das beispielsweise Klöster, Dome, Universitäten hervorbrachte, sollte angesprochen werden. Die Ausführungen über die "Konstantinische Schenkung" und den "Dictatus papae" Gregors VII. hätte man sich genauer gewünscht. Die eigentümliche Dialektik von Zerstörung und Aufbau, wie sie den Normannen eignete und auf die August Nitschke einst hinwies, könnte eine Brücke von den Wikingern des früheren Mittelalters zum modernen Staat schlagen. Der Expansionismus der Katalanen sieht sich zuwenig beachtet, obgleich er zuletzt, nach der Vereinigung der Krone Aragon mit Kastilien, über den Atlantik führte und in das spanische Weltreich mündete. So ließe sich manches ergänzen.
Zumal der Historiker des Wissens, der Bildung und der Schule wird bedauern, daß sein Gegenstand nur randseitig angesprochen wurde. Die Einführung des Buchdrucks indessen unterlag dem Druck eines seit dem frühen Mittelalter anschwellenden Wissens- und Bildungshungers und eines Buchbedarfs, der sich seit den Zeiten eines Karls des Großen kontinuierlich verbesserte, nämlich effizientere Methoden der Buchproduktion und der Buchverbreitung hervorbrachte, wie sie weder die islamische Welt noch China, noch die Antike kannten. Die serielle Speicherung und Vervielfältigung des Wissens durch den Druck war nur die vorläufig letzte Konsequenz dieses allverschlingenden Hungers.
Indes, Mitterauers Buch verdient kein Kritteln und Beckmessern. Es lebt von den Perspektiven, die es aufreißt, nicht von der Vollständigkeit; von dem interaktiven Zusammenspiel divergierender Phänomene, das es darstellt, nicht von irgendwelchen Einzelheiten; von dem ihm eigenen Sinn für die durch Jahrhunderte anhaltende systemische Wirkung selbst kleinster Impulse, die der Welt mit der Zeit eine Gestalt verleihen, die kein Neuerer ahnte, nicht von den Beschreibungen des Augenblicks; vom interkulturellen Vergleich und nicht vom Europa-Zentrismus. Kurzum, es ist, so schmal der Band sich ausnimmt, ein großes Buch.
JOHANNES FRIED
Michael Mitterauer: "Warum Europa?" Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs. Verlag C.H. Beck. München 2003, 352 S., 2 Karten, geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Geärgert hat sich Michael Borgolte bei der Lektüre von Michael Mitterauers Studie "Warum Europa?" Ausgehend von Max Webers Frage nach den Wurzeln des europäischen Sonderwegs, habe sich der Wiener Sozialhistoriker daran gemacht, "einen unbezweifelten historischen Sachverhalt zu illustrieren". Frei von jeglichen "Überraschungsmomenten" erarbeite Mitterauer dabei die Erfolgsgeschichte Europas an zahlreichen "universalhistorischen Vergleichen", die den Blick auf den "Eigenwert des Fremden" versperren. Sehr zum Leid des Werkes, kommentiert der Rezensent, stoße doch der Autor selbst immer wieder auf Widersprüche und Unstimmigkeiten in der europäischen Geschichte und erkennt ein "Kern-" und "Randeuropa". Eine Einsicht, zu der sich Borgolte eine eigene Studie gewünscht hätte. Da sich derlei Entdeckungen jedoch nicht in den Ansatz Mitterauers integrieren ließen, mussten sie wohl oder übel übergangen werden. Die Folge sei, so Borgolte, eine Reduktion europäischer Vielschichtigkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Stimme aus dem Verlag
„Wie wurde Europa zu dem, was es heute ist? Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht. Die F.A.Z.schreibt dazu ‚Kurzum, es ist, so schmal sich das Buch ausnimmt, ein großes Buch.‘"
(Presseabteilung, Verlag C.H. Beck)
„Wie wurde Europa zu dem, was es heute ist? Michael Mitterauer entwickelt eine neue und überraschende Antwort, indem er Europa mit anderen Kulturen vergleicht. Die F.A.Z.schreibt dazu ‚Kurzum, es ist, so schmal sich das Buch ausnimmt, ein großes Buch.‘"
(Presseabteilung, Verlag C.H. Beck)