Alles nur Vergangenheit? Eine Analyse der Machtmechanismen im NS-Staat aus interdisziplinärer Sicht
Warum begeisterten sich Millionen von Menschen für Adolf Hitler? Wieso konnten sie sich so verführen lassen? Alles nur Vergangenheit? Durch Interviews mit ehemaligen HJ-Funktionären, SS-Offizieren und NSDAP-Mitgliedern - 24 Männer und 19 Frauen - zeigt Stephan Marks, dass der Nationalsozialismus seine Anhänger begeisterte, indem er ihre Gefühle ansprach, sich ihre emotionale Bedürftigkeit zunutze machte - nicht ihren Verstand. Vor allem Schamgefühle, Kriegstraumata, psychische Abhängigkeiten wurden und könnten auch heute genauso instrumentalisiert werden, so die erschreckende Botschaft des Buches.
Warum begeisterten sich Millionen von Menschen für Adolf Hitler? Wieso konnten sie sich so verführen lassen? Alles nur Vergangenheit? Durch Interviews mit ehemaligen HJ-Funktionären, SS-Offizieren und NSDAP-Mitgliedern - 24 Männer und 19 Frauen - zeigt Stephan Marks, dass der Nationalsozialismus seine Anhänger begeisterte, indem er ihre Gefühle ansprach, sich ihre emotionale Bedürftigkeit zunutze machte - nicht ihren Verstand. Vor allem Schamgefühle, Kriegstraumata, psychische Abhängigkeiten wurden und könnten auch heute genauso instrumentalisiert werden, so die erschreckende Botschaft des Buches.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Eifrige Frager
Rückblicke auf die Hitler-Zeit Von Hans-Jürgen Döscher
Warum wurden Millionen von Menschen zu Anhängern Hitlers? "Was bewog diese ,ganz normalen' Männer und Frauen dazu, sich als Mitglieder von HJ, BDM, NSDAP, SA, SS oder anderen NS-Organisationen aktiv für das ,Dritte Reich' zu engagieren? Wie funktionierten die Machtmechanismen des NS-Staates?" Antworten geben will Stephan Marks, Leiter des Forschungsprojekts "Geschichte und Erinnerung" in Freiburg im Breisgau, laut Klappentext "anhand von einmaligen Quellentexten" - gemeint sind Interviews mit ehemaligen Nationalsozialisten. Seine zentrale These lautet: "Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien."
Grundlage des Projekts waren Interviews mit 19 Frauen und 24 Männern (der Jahrgänge 1906 bis 1926): "ehemalige Mitglieder oder Funktionäre" der verschiedenen NS-Organisationen. Die gebotene Differenzierung zwischen Mitgliedern und Funktionären, Altparteigenossen, "Märzgefallenen" und "Konjunkturrittern" sowie SA und SS ist ebenso wenig zu erkennen wie eine systematische Analyse des interviewten Personenkreises hinsichtlich sozialer und regionaler Herkunft, Konfession, Bildungsstatus, politischer Sozialisation, Berufsstruktur und Zeitpunkt des Parteibeitritts. Die Gleichsetzung der Wehrmacht mit "anderen NS-Organisationen" zeugt von profunder Unkenntnis. Grundsätzlich ist einzuwenden, dass aus der Zugehörigkeit zur NSDAP, zu einer ihrer Gliederungen oder den angeschlossenen Verbänden a priori noch keine politische Überzeugungstreue abzuleiten ist, vor allem nicht bei mehr oder minder zwangsrekrutierten HJ- und BDM-Angehörigen.
Aus der Befragung des quantitativ kleinen und qualitativ diffusen Kollektivs können weder repräsentative noch zuverlässige Befunde resultieren zu der zentralen Ausgangsfrage, warum so viele Menschen Hitler folgten und seiner "Gefälligkeitsdiktatur" zustimmten. Wer mehr wissen will zu diesem komplexen Thema, dem seien immer noch die einschlägigen Untersuchungen von Jürgen W. Falter ("Hitlers Wähler"), Ian Kershaw ("Der Hitler-Mythos") und Peter Reichel ("Vergangenheitsbewältigung in Deutschland") empfohlen - Autoren und Titel, die man im Literaturverzeichnis des Buches von Marks vergebens sucht. Warum die aufgezeichneten Interviews mit diesen wenigen noch lebenden ehemaligen Nationalsozialisten das Prädikat "einmalige Quellentexte" verdienen, wird nicht begründet, ebenso wenig der Verzicht auf die Auswertung anderer Quellen. Dass bei Zeitzeugenbefragungen zwangsläufig bruchstückhafte Erinnerungen, perspektivische Verschiebungen und nicht zuletzt apologetische Absichten einfließen, bleibt leider weitgehend unberücksichtigt. Von den "Machtmechanismen des NS-Staates" erfährt man nichts substantiell Neues; stattdessen umso mehr über "magisches Bewusstsein", "Scham, Schamabwehr und Nationalsozialismus" sowie "narzisstische Kollusion" und "Traumata früherer Generationen". Das Buch von Stephan Marks offenbart Möglichkeiten, aber noch deutlicher die Grenzen psychologischer Analysen zur Erinnerung an den Nationalsozialismus. Den hohen Anspruch einer "tiefgründigen Analyse der Machtmechanismen im NS-Staat" erfüllt es nicht.
Stephan Marks: "Warum folgten sie Hitler?" Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 220 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückblicke auf die Hitler-Zeit Von Hans-Jürgen Döscher
Warum wurden Millionen von Menschen zu Anhängern Hitlers? "Was bewog diese ,ganz normalen' Männer und Frauen dazu, sich als Mitglieder von HJ, BDM, NSDAP, SA, SS oder anderen NS-Organisationen aktiv für das ,Dritte Reich' zu engagieren? Wie funktionierten die Machtmechanismen des NS-Staates?" Antworten geben will Stephan Marks, Leiter des Forschungsprojekts "Geschichte und Erinnerung" in Freiburg im Breisgau, laut Klappentext "anhand von einmaligen Quellentexten" - gemeint sind Interviews mit ehemaligen Nationalsozialisten. Seine zentrale These lautet: "Der Nationalsozialismus zielte nicht darauf, die Menschen kognitiv zu überzeugen, sondern sie emotional einzubinden: Er lebte von der narzisstischen Bedürftigkeit und Abhängigkeit seiner Anhänger, von ihren Schamgefühlen, Kriegstraumata und frühkindlichen Erlösungsphantasien."
Grundlage des Projekts waren Interviews mit 19 Frauen und 24 Männern (der Jahrgänge 1906 bis 1926): "ehemalige Mitglieder oder Funktionäre" der verschiedenen NS-Organisationen. Die gebotene Differenzierung zwischen Mitgliedern und Funktionären, Altparteigenossen, "Märzgefallenen" und "Konjunkturrittern" sowie SA und SS ist ebenso wenig zu erkennen wie eine systematische Analyse des interviewten Personenkreises hinsichtlich sozialer und regionaler Herkunft, Konfession, Bildungsstatus, politischer Sozialisation, Berufsstruktur und Zeitpunkt des Parteibeitritts. Die Gleichsetzung der Wehrmacht mit "anderen NS-Organisationen" zeugt von profunder Unkenntnis. Grundsätzlich ist einzuwenden, dass aus der Zugehörigkeit zur NSDAP, zu einer ihrer Gliederungen oder den angeschlossenen Verbänden a priori noch keine politische Überzeugungstreue abzuleiten ist, vor allem nicht bei mehr oder minder zwangsrekrutierten HJ- und BDM-Angehörigen.
Aus der Befragung des quantitativ kleinen und qualitativ diffusen Kollektivs können weder repräsentative noch zuverlässige Befunde resultieren zu der zentralen Ausgangsfrage, warum so viele Menschen Hitler folgten und seiner "Gefälligkeitsdiktatur" zustimmten. Wer mehr wissen will zu diesem komplexen Thema, dem seien immer noch die einschlägigen Untersuchungen von Jürgen W. Falter ("Hitlers Wähler"), Ian Kershaw ("Der Hitler-Mythos") und Peter Reichel ("Vergangenheitsbewältigung in Deutschland") empfohlen - Autoren und Titel, die man im Literaturverzeichnis des Buches von Marks vergebens sucht. Warum die aufgezeichneten Interviews mit diesen wenigen noch lebenden ehemaligen Nationalsozialisten das Prädikat "einmalige Quellentexte" verdienen, wird nicht begründet, ebenso wenig der Verzicht auf die Auswertung anderer Quellen. Dass bei Zeitzeugenbefragungen zwangsläufig bruchstückhafte Erinnerungen, perspektivische Verschiebungen und nicht zuletzt apologetische Absichten einfließen, bleibt leider weitgehend unberücksichtigt. Von den "Machtmechanismen des NS-Staates" erfährt man nichts substantiell Neues; stattdessen umso mehr über "magisches Bewusstsein", "Scham, Schamabwehr und Nationalsozialismus" sowie "narzisstische Kollusion" und "Traumata früherer Generationen". Das Buch von Stephan Marks offenbart Möglichkeiten, aber noch deutlicher die Grenzen psychologischer Analysen zur Erinnerung an den Nationalsozialismus. Den hohen Anspruch einer "tiefgründigen Analyse der Machtmechanismen im NS-Staat" erfüllt es nicht.
Stephan Marks: "Warum folgten sie Hitler?" Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf 2007. 220 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Eindrucksvoll, wenn auch nicht immer ganz überzeugend" findet Rezensent Hansjakob Stehle die Ergebnisse dieser Studie, in welcher der Sozialwissenschaftler Stephan Marks seinen Informationen zufolge 49 Zeitzeugen des Nationalsozialismus der Jahrgänge 1906 bis 1926 über ihre Gefühle und Erinnerungen zu dieser Zeit befragt hat. Doch trotz einiger fachlicher und methodischer Einwände hält der Rezensent den Versuch Marks' insgesamt für gelungen, die Erinnerung der Zeitgenossen an das NS-Regime von ihrer "luftdichten Versiegelung" zu befreien, und nachgeborenen Lesern zugänglich zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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