Marktplatzangebote
8 Angebote ab € 5,39 €
  • Buch

Was ist eigentlich ein Klassiker? "Klassiker sind Bücher, die jedesmal um so neuer, unerwarteter, bahnbrechender wirken, wenn man sie wiederliest ..." Der das sagte, Italo Calvino, lädt in seinen Aufsätzen über Manzoni und Montale, die Odyssee und den rasenden Roland, Stendhal und Raymond Queneau ein, ihn auf einer Entdeckungsreise zu begleiten. Und wer könnte ein besserer Reisegefährte sein als dieser ebenso gelehrte wie unterhaltsame Leser?

Produktbeschreibung
Was ist eigentlich ein Klassiker? "Klassiker sind Bücher, die jedesmal um so neuer, unerwarteter, bahnbrechender wirken, wenn man sie wiederliest ..." Der das sagte, Italo Calvino, lädt in seinen Aufsätzen über Manzoni und Montale, die Odyssee und den rasenden Roland, Stendhal und Raymond Queneau ein, ihn auf einer Entdeckungsreise zu begleiten. Und wer könnte ein besserer Reisegefährte sein als dieser ebenso gelehrte wie unterhaltsame Leser?
Autorenporträt
Italo Calvino wurde 1923 in Santiago de las Vegas/Kuba geboren, wuchs in San Remo auf und kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Partisan gegen die Deutschen. Nach seinem Studium der Agrarwissenschaften, Philosophie und Literatur war er einige Jahre als Lektor bei dem italienischen Verlag Einaudi beschäftigt. Danach lebte er als freier Schriftsteller in Rom, Paris und in Siena, wo er 1985 starb. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Viele von Calvinos Büchern sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Oh, Spiegel der himmlischen Mächte
Reiseführer zur Milchstraße: Italo Calvinos glänzende Essaysammlung „Warum Klassiker lesen?”
Italo Calvinos „Warum Klassiker lesen?” ist ein bemerkenswertes Buch. Schon der acht Seiten kurze Titelessay (der in Wahrheit die Frage erörtert: Was ist ein Klassiker?) macht ganze Bücherregale zur Kanondiskussion überflüssig, von aufs Geschäft schielendem Nepp Marke Reich- Ranicki ganz zu schweigen. Tief eingeprägt ist der europäischen Kultur die Gleichsetzung des Klassischen mit dem Zeitlosen. Calvino durchschaut sie als Chimäre, ohne den Begriff des Klassischen leichthin auf den Müll der Ideengeschichte zu kippen. „Die Aktualität mag banal und demütigend sein, sie bleibt aber immer ein Punkt, der unsere Lage bestimmt, von dem wir vorwärts oder rückwärts schauen. Um die Klassiker zu lesen, muss man wohl festlegen, , von wo aus‘ man sie liest, sonst verlieren sich das Buch und der Leser in einer zeitlosen Wolke”.
Klassiker werden Werke durch Rezeption, und schon deshalb sind sie nicht zeitlos, vielmehr geladen mit Zeit und Geschichte. „Klassiker sind jene Bücher, die beladen mit den Spuren aller Leseerfahrungen daherkommen, die unserer vorausgegangen sind, und die hinter sich die Spur herziehen, die sie in der Kultur oder den Kulturen (oder einfach in der Sprache oder in den Bräuchen) hinterlassen haben, durch die sie gegangen sind.” Am Beispiel: „Wenn ich die Odyssee lese, lese ich den Text Homers, kann aber nicht all das vergessen, was Odysseus’ Abenteuer über die Jahrhunderte hinweg an Bedeutung erlangt haben, und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob diese Bedeutungen im Text enthalten waren oder Verkrustungen, Verzerrungen und Ausweitungen sind. ”
In 36 konzisen Essays pustet Calvino den Staub fort, der sich über den Begriff des Klassischen gelegt hat. Langweilige Verteidigungen des Kanons als Zitadelle der abendländischen Kultur kann er sich sparen; entgegen dem Titel der Sammlung interessiert Calvino, den Schriftsteller, das Was und Wie weit mehr als das Wozu. Die Auswahl der zwischen 1954 und 1985 erstmals veröffentlichten Stücke geht in der vorliegenden Form nicht auf den Autor zurück; sie wurde 1991 von Esther Calvino, seiner Witwe, getroffen. Was sie ausgelassen hat, vermag ich nicht zu beurteilen; jedenfalls möchte man von den Essays, die sie ausgewählt hat, keinen einzigen missen. Mögen einige auch Gelegenheitsschriften sein, stets verstand es Calvino, die Gelegenheit beim Schopf zu fassen. Seine Aufsätze und Skizzen handeln ausnahmslos von ,toten weißen Männern‘ (falls man den Perser Nizami zu den Weißen rechnet), wie das Totschlagargument der politisch Korrekten gegen die Rede von Klassikern lautet: Homer, Ovid, Plinius, Ariost, Defoe, Voltaire, Diderot, Stendhal, Balzac, Dickens, Flaubert, Tolstoj, Twain, Henry James, Conrad, Pasternak, Hemingway, Borges und Pavese sind darunter. So dürfen also auch die Deutschen, die es so besonders innig mit dem Klassischen haben, einmal am Rande mitbekommen, wie es ist, bei diesem Thema links liegengelassen zu werden.
Bildungsbürgerliches Gestikulieren auf das, was man doch eigentlich kennen muss und daher selbstverständlich voraussetzen kann, ist Calvino fremd. Die meisten seiner Essays studiert mit Gewinn, auch wer nie zuvor eine Zeile des jeweils besprochenen Autors gelesen hat. Dieser Unmittelbarkeit halber hat der Verlag auch gut daran getan, auf ein Vor- oder Nachwort zu verzichten, wie es sich einstweilen geschwätzig an nahezu alles Posthume hängt. Es bedarf keiner Einführung in Calvinos Theorie, weil er keine hat; ihm ist darum zu tun, die Texte zum Sprechen zu bringen, nicht sie als Belege für eine Doktrin vorzuführen. Sich der Theorie fernhalten heißt indes nicht, auf den Gebrauch des eigenen Kopfes verzichten. Im Gegenteil; dieser ist nötiger denn je, wenn keine Theorie das schöne Gefühl des Bescheidwissens garantiert, was in den Büchern gefälligst zu stehen hat. Für Calvino gehören Lesen und Denken zusammen. Seine Prosa wirft ein helles, klares Licht. Calvino demystifiziert die Klassiker, doch er hat es nicht nötig, sie zu entlarven. Er vermag zu staunen; Enthusiasmus ist der Antrieb seines Schreibens.
Die erschließende Kraft der Essays Calvinos mag derjenige über Ovids Metamorphosen exemplifizieren. Wie es sich für einen Essayisten schickt, folgt Calvino auch hier keiner Methode. Er sieht hin und blickt sich um. Hat je einer die genaue Entsprechung von Ovids Beschreibung der Milchstraße zur Architektur der Klassengesellschaft des Augusteischen Rom bemerkt? Dies aber gerät nicht zur soziologischen Demaskierung Ovids, sondern führt in das Kompositionsprinzip der Metamorphosen ein: „Universelle Kontiguität”, wie Calvino es nennt, eine Konstellation offener und verdeckter Zusammenhänge, welche alles mit allem verbinden. Dies unterläuft den Prinzipat der Himmlischen. „Die Durchdringung von Gott, Mensch und Natur impliziert keine eindeutige hierarchische Ordnung, sondern ein komplexes System von gegenseitigen Beziehungen, wo jede Ebene alle anderen beeinflussen kann, wenn auch in unterschiedlichem Maß.” In der Form der Metamorphosen spiegelt sich dies darin, dass die Mythen aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählt werden; hier wie sonst bietet Calvinos Einübung in die Kunst der Lektüre überraschende Einsichten in die Kunst des Schreibens. Wiewohl unpedantisch, entwickelt Calvino seine Interpretation aus genauester grammatischer Beobachtung, etwa zum Gebrauch der Tempora oder der Personalpronomina. Nur durchs Detail hindurch dringt Calvino zur allgemeinen These vor: „Ein Gesetz größtmöglicher innerer Ökonomie waltet in diesem Gedicht, in dem freilich dem Anschein nach rückhaltlose Verschwendung herrscht. Es ist die ureigenste Ökonomie der Verwandlung; sie gebietet, dass die neuen Formen so viel Material als möglich von den alten übernehmen.”
War Calvino in seiner Essaysammlung „Collezione di sabbia”, 1995 bei Hanser als „Gesammelter Sand” erschienen, in die Welt ausgeschwärmt, so versenkt er sich nun in die Bücher. Aber er findet in ihnen die Welt. Warum Calvinos Buch über die Klassiker lesen? Weil es vor seinem eigenen Maßstab des Klassischen besteht: „Klassiker nennt sich ein Buch, das sich, wie früher die Talismane, als Gegenstück des Universums gestaltet.”
ANDREAS DORSCHEL
ITALO CALVINO: Warum Klassiker lesen? Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner und Susanne Schoop. Carl Hanser Verlag, München 2003. 320 Seiten, 19, 90 Euro.
Gerade die kanonischen Werke sind gefährlich wie am ersten Tag
Foto: Regina Schmeken
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2004

Odysseus, der alte Gaukler
Warum Klassiker lesen? Italo Calvino kennt die Antwort

Im Jahre 1757 erschien in Venedig eine der vielen Abhandlungen, die Ordnung in den Irrgarten unseres Innenlebens bringen wollten. Ihr Titel: "Berechnung von Lust und Schmerz des menschlichen Lebens". Ihr Autor: Giammaria Ortes. Niemand käme auf die Idee, in diesem griesgrämigen Gottesmann einen "Klassiker" zu sehen, den man immer wieder liest - außer einem. Und auch der liest Ortes nur wegen des einen Satzes, mit dem dieser illusionslose Verfechter der Aufklärung seine Schrift beschloß: "Wer kann mir sagen, ob ich etwas vortäusche?" Damit hob er sie selbst aus den Angeln.

Ein kurioser Fall, so scheint es, und doch besagt er viel über diesen einen und das Prinzip "Italo Calvino" insgesamt. Seine Romane haben die Leser verführt, "Der Baron auf den Bäumen" etwa (deutsch 1960) oder "Die unsichtbaren Städte" (deutsch 1977), besonders sein letzter, "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (deutsch 1983). Calvinos Geschichten sind auf eine feinsinnig berechnende Weise haarsträubend. Doch sie fangen ihre Bodenlosigkeit ab, weil ihr Autor dabei ungeniert als "Gaukler oder Taschenspieler" auftritt, der auf seinem "Jahrmarktstisch" seine erzählerischen Kunststückchen vorführt, wie es in "Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen" von 1978 heißt.

Doch diese Lust zu fabulieren ist so weit von jeder "Muttersprache des Menschengeschlechts" (Herder) entfernt, wie es ein Moderner nur von Grimms Märchen sein kann. Bei Calvino ist sie vorsätzlich nach allen Regeln der Kunst stimuliert, "ein pures Willens- und Geistesprodukt" (so im "Reisenden in einer Winternacht"), Ausdruck eines "Optimisten", der, wie er sagte, glaubt, "daß alles noch schlechter gehen könnte". Woher kommt diese fatale Zuversicht? Aus der Literatur aller Zeiten und Arten. Calvino ist ein Weltbürger des Lesens. Wie bei seinem Helden Cosimo, der mit zwölf Jahren beschließt, nur noch auf Bäumen zu leben, gehört auch seine Leidenschaft der Lektüre - mit dem Unterschied allerdings, daß er viele seiner Buchbegehungen festgehalten hat: als Sammler und Bearbeiter von italienischen Fabeln; als Nacherzähler von Ariosts "Rasendem Roland" für Schüler; als Verlagslektor, Redakteur, Literaturkritiker und Herausgeber. Eine Auswahl davon ist jetzt (in der gelungenen Übersetzung von Barbara Kleiner und Susanne Schoop) in Deutsch erschienen. Sie trägt den Titel "Warum Klassiker lesen?" - und eröffnet einen Vordereingang zu seinen hintersinnigen Romanen.

Gerade Giammaria Ortes mag zeigen, warum ein Zeitgeist wie Calvino sich an Klassiker hält. Er liest ihre Werke mit der Genauigkeit des Philologen und Etymologen; zieht Literatur zu Rate, ist stets auf der Höhe der Gelehrsamkeit und bleibt doch in allen seinen 38 kritischen Nahaufnahmen, egal ob bei Homer, Xenophon, Ovid, Galilei, Ariost, Voltaire, Dickens, Montale, Borges oder Queneau, ein origineller, gewitzter, verschlingender Egoist. Der Leser wohnt einem Gastmahl bei, das ihn zum Zeugen, aber nicht eigentlich zum Teilnehmer dieser Lektüre macht. Im Grunde sagen sie ebensoviel über Calvino wie über seine Autoren aus: Er braucht die Klassiker, um sie - für seine Zwecke - zu verbrauchen. In seinem Schriftstellerherzen ist Calvino eigenwilliger Intertextualist.

Es widerspräche Calvinos Anschein der leichten Feder, sich auf einen leibhaftigen Gegner festzulegen. Spürbar wird allerdings an jeder Haltestelle seiner Lesereise eine Beunruhigung, eine tiefe Skepsis gegenüber dem menschlichen Intellekt und seinen Werken - und dies bei einem der intellektuellsten Schriftsteller. In einer längeren Auseinandersetzung mit einem seiner engsten Sprachbrüder, Jorge Luis Borges, hellt er diesen produktiven Widerspruch auf. Nach all den Modernisierungen der Kunst wäre es schuldhaft naiv, zu glauben, man könne noch naiv erzählen. Literatur hat sich vielmehr auf eine "vom Intellekt aufgebaute und beherrschte Welt" einzurichten. Doch was richtet der Autor im Normalfall aus? Einen "brodelnden Hexenkessel des Lebens", ein "unauflösliches Knäuel", wie Calvino durch Emilio Gaddas "Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana" hindurch zu verstehen gibt. Deshalb gehört der Intellekt unters Dach der Literatur. Sie ist es, die ihn nach einer "strengen Geometrie" (wie Borges), in beständigen "Liebesaffären mit der Mathematik" (wie Queneau) vorführen kann, so daß er zu phantastischen Kopfständen gerade auf seinem eigenen Gebiet, der Normalität, gezwungen (und dadurch auf seine Unnormalitäten gestoßen) wird. Das Beste, was der menschliche Esprit tun kann, ist, sich in ein lustvoll organisiertes "jeu d'esprit" zu verwandeln.

Daß dabei im Hintergrund nichts Großes, Bedeutendes, Letzthinniges aufzieht, ist beabsichtigt. Calvinos Credo hat, wie er Voltaires "Candide" unterstellt, nichts Bestimmtes im Sinn; ja ist "antifinalistisch". Deshalb hat er Klassiker (und andere) so nötig. Sie bilden geradezu den Boden, in dem die Luftwurzeln seiner Geschichten Halt finden. Unter ihnen sucht er sich geeignete Wahlverwandte, die ihn in seiner Kunst bestärken: einen jeweils anderen Standpunkt einzunehmen. Calvino, der Fabeln liebte, kehrt gleichsam die vom Hasen und vom Igel um: Er ist immer schon wieder woanders, wenn der Leser glaubt, ihn erreicht zu haben. Kein Wunder also, daß er in die Schule von Ovid, Ariost oder Plinius geht. Sie lehren ihn, sich allenfalls einem irritierenden Engagement zu verschreiben: der "Suche nach einem Labyrinth" (mit Borges zu sprechen), einem Ort also, der konsequent in die Irre führt.

Wo aber ließen sich dafür geeignetere Räume finden als in der Literatur? Der Dädalus der Moderne ist Poet und Erzähler. Ihm obliegt es, sprachliche Gebäude zu ersinnen, die den Leser in verwirrende Passagen und Parcours locken. Nur so würde er darauf gestoßen, daß alles auch immer anders sein könnte und sogar sollte. Deshalb auch ist Odysseus Calvinos Mann. Weder erkennt er seine Heimat Ithaka wieder, noch wird er wiedererkannt. Um wirklich anzukommen, darf er deshalb die Odyssee nicht vergessen. Erst die Geschichten seiner Irrfahrten geben ihm (wieder) ein Gesicht und ein Zuhause.

In diesen luftigen Bücherbäumen hat sich der Autor Calvino niedergelassen. Von dort aus konnte er als Dissident gegen blinde, gedankenlose Bodenverhaftungen vorgehen. Auf einen mythischen Rückhalt wie bei Homer, Ovid oder noch Ariost lassen seine sprachlichen Ausschweifungen allerdings nicht mehr hoffen. Sie sind gewissermaßen profaniert und damit ganz auf sich selbst angewiesen. Und hierin haben Calvinos Klassikerstudien ihren tiefen Beweggrund: In ihnen sichert er seine eigene literarische Webkunde. Sie nimmt Maß, wie er im Blick auf Galilei entwickelt, an der sprachlichen Weltformel schlechthin, dem Alphabet. Dessen unendliche Kombinatorik erfüllt ihren - paradoxen - Sinn, wenn sie unendlich weitergeht. Deshalb auch nimmt Calvinos Lesen und Schreiben Sprache nur auf, um sie in einem Karussell von Veränderungen, Wandlungen und Zeugungen um und um zu wenden.

Einem stillschweigenden Glaubenssatz - oder sollte man sagen: Zaubermittel? - scheint Calvino nicht ganz entsagen zu wollen: daß, wenn es Glück und Gelingen gäbe, es im Rang des Fabelhaften, Wunderbaren, Unerklärlichen aufgetreten wäre, also im Rücken der Vernunft. Daher versucht er - für alle Fälle, sozusagen auf gut Glück -, wie in René Magrittes Bild "Die verbotene Reproduktion" den Dingen zumindest eine Rückansicht zu sichern. Ob seine phantasievollen Geschichten recht haben oder nicht, ist Nebensache. Hauptsache, sie nehmen uns gefangen, entführen uns in "die unsichtbaren Städte" "jenseits der gewohnten Wahrnehmungsmuster und Wortschablonen". Dort kann "jedes Ding jedes beliebige andere bedeuten".

In dieser Schule der Beliebigkeit wird, gewiß, mit Witz und Raffinement das Alphabet alternativen Denkens gelehrt. Aber sie nimmt auch selbst eine problematische Rückseite in Kauf. Milan Kunderas "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins" kann einem dabei in den Sinn kommen, und man begreift gerade deshalb, warum Calvino Klassiker braucht. Sie sind geblieben, weil sie etwas bleibend verändert haben. Er aber verändert nichts, er will nur, daß Veränderung sei. An seinem Denkmal in Italien sind denn auch bereits da und dort Risse aufgetreten.

WINFRIED WEHLE

Italo Calvino: "Warum Klassiker lesen?" Essays. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner und Susanne Schoop. Carl Hanser Verlag, München 2003. 318 S., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Ein bemerkenswertes Buch. Schon der acht Seiten kurze Titelessay ... macht ganze Bücherregale zur Kanondiskussion überflüssig ... Warum Calvinos Buch über Klassiker lesen? Weil es vor seinem eigenen Maßstab des Klassischen besteht."
Andreas Dorschel, Süddeutsche Zeitung, 17.03.03

"Der italienische Erzähler und Essayist kann mit einem einzigen Buch die ganze Kanon-Debatte ad absurdum führen ..."
Literaturen, 05/03

"... der bisher anregendste Beitrag zur Debatte (kommt) aus Italien ... Mit faszinierender, gleichsam unprätentiöser Erzählkunst stellt Calvino seine bevorzugten Klassiker vor."
Daniel Jütte, Stuttgarter Zeitung, 25.04.03

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Als "gedankenreiche Auseinandersetzung mit Werken und Autoren" würdigt Rezensentin Barbara Villiger Heilig den nun vorliegenden Band "Warum Klassiker lesen?", der Italo Calvinos zu verschiedenen Anlässen verfasste literaturkritische Essays versammelt. Ob Homer, Xenophon, Ovid, Plinius, ob die französischen Ritterromane und ihre italienischen Abkömmlinge oder die philosophischen Romane des Dix-Huitieme, ob die großen Romane des 19. Jahrhundert oder die der Moderne: Calvino versteht es nach Ansicht von Heilig "wie selten einer" zum Lesen der Klassiker zu verleiten, einen Begriff, den er zu ihrer Freude "behutsam" umkreist und immer wieder neu bestimmt, etwa als Werke, die zum Wiederlesen verführen und ihm standhalten. Kein Wunder also, dass sie den Band, der ohne Herablassung, Spott, Besserwisserei auskomme, nicht nur den Liebhabern des "humorvoll-eleganten" Formulierers ans Herz legt, sondern insbesondere jenen, deren Geschäft die Literaturkritik ist.

© Perlentaucher Medien GmbH