Was ist eigentlich ein Klassiker? "Klassiker sind Bücher, die jedesmal um so neuer, unerwarteter, bahnbrechender wirken, wenn man sie wiederliest ..." Der das sagte, Italo Calvino, lädt in seinen Aufsätzen über Manzoni und Montale, die Odyssee und den rasenden Roland, Stendhal und Raymond Queneau ein, ihn auf einer Entdeckungsreise zu begleiten. Und wer könnte ein besserer Reisegefährte sein als dieser ebenso gelehrte wie unterhaltsame Leser?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.02.2004Odysseus, der alte Gaukler
Warum Klassiker lesen? Italo Calvino kennt die Antwort
Im Jahre 1757 erschien in Venedig eine der vielen Abhandlungen, die Ordnung in den Irrgarten unseres Innenlebens bringen wollten. Ihr Titel: "Berechnung von Lust und Schmerz des menschlichen Lebens". Ihr Autor: Giammaria Ortes. Niemand käme auf die Idee, in diesem griesgrämigen Gottesmann einen "Klassiker" zu sehen, den man immer wieder liest - außer einem. Und auch der liest Ortes nur wegen des einen Satzes, mit dem dieser illusionslose Verfechter der Aufklärung seine Schrift beschloß: "Wer kann mir sagen, ob ich etwas vortäusche?" Damit hob er sie selbst aus den Angeln.
Ein kurioser Fall, so scheint es, und doch besagt er viel über diesen einen und das Prinzip "Italo Calvino" insgesamt. Seine Romane haben die Leser verführt, "Der Baron auf den Bäumen" etwa (deutsch 1960) oder "Die unsichtbaren Städte" (deutsch 1977), besonders sein letzter, "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (deutsch 1983). Calvinos Geschichten sind auf eine feinsinnig berechnende Weise haarsträubend. Doch sie fangen ihre Bodenlosigkeit ab, weil ihr Autor dabei ungeniert als "Gaukler oder Taschenspieler" auftritt, der auf seinem "Jahrmarktstisch" seine erzählerischen Kunststückchen vorführt, wie es in "Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen" von 1978 heißt.
Doch diese Lust zu fabulieren ist so weit von jeder "Muttersprache des Menschengeschlechts" (Herder) entfernt, wie es ein Moderner nur von Grimms Märchen sein kann. Bei Calvino ist sie vorsätzlich nach allen Regeln der Kunst stimuliert, "ein pures Willens- und Geistesprodukt" (so im "Reisenden in einer Winternacht"), Ausdruck eines "Optimisten", der, wie er sagte, glaubt, "daß alles noch schlechter gehen könnte". Woher kommt diese fatale Zuversicht? Aus der Literatur aller Zeiten und Arten. Calvino ist ein Weltbürger des Lesens. Wie bei seinem Helden Cosimo, der mit zwölf Jahren beschließt, nur noch auf Bäumen zu leben, gehört auch seine Leidenschaft der Lektüre - mit dem Unterschied allerdings, daß er viele seiner Buchbegehungen festgehalten hat: als Sammler und Bearbeiter von italienischen Fabeln; als Nacherzähler von Ariosts "Rasendem Roland" für Schüler; als Verlagslektor, Redakteur, Literaturkritiker und Herausgeber. Eine Auswahl davon ist jetzt (in der gelungenen Übersetzung von Barbara Kleiner und Susanne Schoop) in Deutsch erschienen. Sie trägt den Titel "Warum Klassiker lesen?" - und eröffnet einen Vordereingang zu seinen hintersinnigen Romanen.
Gerade Giammaria Ortes mag zeigen, warum ein Zeitgeist wie Calvino sich an Klassiker hält. Er liest ihre Werke mit der Genauigkeit des Philologen und Etymologen; zieht Literatur zu Rate, ist stets auf der Höhe der Gelehrsamkeit und bleibt doch in allen seinen 38 kritischen Nahaufnahmen, egal ob bei Homer, Xenophon, Ovid, Galilei, Ariost, Voltaire, Dickens, Montale, Borges oder Queneau, ein origineller, gewitzter, verschlingender Egoist. Der Leser wohnt einem Gastmahl bei, das ihn zum Zeugen, aber nicht eigentlich zum Teilnehmer dieser Lektüre macht. Im Grunde sagen sie ebensoviel über Calvino wie über seine Autoren aus: Er braucht die Klassiker, um sie - für seine Zwecke - zu verbrauchen. In seinem Schriftstellerherzen ist Calvino eigenwilliger Intertextualist.
Es widerspräche Calvinos Anschein der leichten Feder, sich auf einen leibhaftigen Gegner festzulegen. Spürbar wird allerdings an jeder Haltestelle seiner Lesereise eine Beunruhigung, eine tiefe Skepsis gegenüber dem menschlichen Intellekt und seinen Werken - und dies bei einem der intellektuellsten Schriftsteller. In einer längeren Auseinandersetzung mit einem seiner engsten Sprachbrüder, Jorge Luis Borges, hellt er diesen produktiven Widerspruch auf. Nach all den Modernisierungen der Kunst wäre es schuldhaft naiv, zu glauben, man könne noch naiv erzählen. Literatur hat sich vielmehr auf eine "vom Intellekt aufgebaute und beherrschte Welt" einzurichten. Doch was richtet der Autor im Normalfall aus? Einen "brodelnden Hexenkessel des Lebens", ein "unauflösliches Knäuel", wie Calvino durch Emilio Gaddas "Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana" hindurch zu verstehen gibt. Deshalb gehört der Intellekt unters Dach der Literatur. Sie ist es, die ihn nach einer "strengen Geometrie" (wie Borges), in beständigen "Liebesaffären mit der Mathematik" (wie Queneau) vorführen kann, so daß er zu phantastischen Kopfständen gerade auf seinem eigenen Gebiet, der Normalität, gezwungen (und dadurch auf seine Unnormalitäten gestoßen) wird. Das Beste, was der menschliche Esprit tun kann, ist, sich in ein lustvoll organisiertes "jeu d'esprit" zu verwandeln.
Daß dabei im Hintergrund nichts Großes, Bedeutendes, Letzthinniges aufzieht, ist beabsichtigt. Calvinos Credo hat, wie er Voltaires "Candide" unterstellt, nichts Bestimmtes im Sinn; ja ist "antifinalistisch". Deshalb hat er Klassiker (und andere) so nötig. Sie bilden geradezu den Boden, in dem die Luftwurzeln seiner Geschichten Halt finden. Unter ihnen sucht er sich geeignete Wahlverwandte, die ihn in seiner Kunst bestärken: einen jeweils anderen Standpunkt einzunehmen. Calvino, der Fabeln liebte, kehrt gleichsam die vom Hasen und vom Igel um: Er ist immer schon wieder woanders, wenn der Leser glaubt, ihn erreicht zu haben. Kein Wunder also, daß er in die Schule von Ovid, Ariost oder Plinius geht. Sie lehren ihn, sich allenfalls einem irritierenden Engagement zu verschreiben: der "Suche nach einem Labyrinth" (mit Borges zu sprechen), einem Ort also, der konsequent in die Irre führt.
Wo aber ließen sich dafür geeignetere Räume finden als in der Literatur? Der Dädalus der Moderne ist Poet und Erzähler. Ihm obliegt es, sprachliche Gebäude zu ersinnen, die den Leser in verwirrende Passagen und Parcours locken. Nur so würde er darauf gestoßen, daß alles auch immer anders sein könnte und sogar sollte. Deshalb auch ist Odysseus Calvinos Mann. Weder erkennt er seine Heimat Ithaka wieder, noch wird er wiedererkannt. Um wirklich anzukommen, darf er deshalb die Odyssee nicht vergessen. Erst die Geschichten seiner Irrfahrten geben ihm (wieder) ein Gesicht und ein Zuhause.
In diesen luftigen Bücherbäumen hat sich der Autor Calvino niedergelassen. Von dort aus konnte er als Dissident gegen blinde, gedankenlose Bodenverhaftungen vorgehen. Auf einen mythischen Rückhalt wie bei Homer, Ovid oder noch Ariost lassen seine sprachlichen Ausschweifungen allerdings nicht mehr hoffen. Sie sind gewissermaßen profaniert und damit ganz auf sich selbst angewiesen. Und hierin haben Calvinos Klassikerstudien ihren tiefen Beweggrund: In ihnen sichert er seine eigene literarische Webkunde. Sie nimmt Maß, wie er im Blick auf Galilei entwickelt, an der sprachlichen Weltformel schlechthin, dem Alphabet. Dessen unendliche Kombinatorik erfüllt ihren - paradoxen - Sinn, wenn sie unendlich weitergeht. Deshalb auch nimmt Calvinos Lesen und Schreiben Sprache nur auf, um sie in einem Karussell von Veränderungen, Wandlungen und Zeugungen um und um zu wenden.
Einem stillschweigenden Glaubenssatz - oder sollte man sagen: Zaubermittel? - scheint Calvino nicht ganz entsagen zu wollen: daß, wenn es Glück und Gelingen gäbe, es im Rang des Fabelhaften, Wunderbaren, Unerklärlichen aufgetreten wäre, also im Rücken der Vernunft. Daher versucht er - für alle Fälle, sozusagen auf gut Glück -, wie in René Magrittes Bild "Die verbotene Reproduktion" den Dingen zumindest eine Rückansicht zu sichern. Ob seine phantasievollen Geschichten recht haben oder nicht, ist Nebensache. Hauptsache, sie nehmen uns gefangen, entführen uns in "die unsichtbaren Städte" "jenseits der gewohnten Wahrnehmungsmuster und Wortschablonen". Dort kann "jedes Ding jedes beliebige andere bedeuten".
In dieser Schule der Beliebigkeit wird, gewiß, mit Witz und Raffinement das Alphabet alternativen Denkens gelehrt. Aber sie nimmt auch selbst eine problematische Rückseite in Kauf. Milan Kunderas "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins" kann einem dabei in den Sinn kommen, und man begreift gerade deshalb, warum Calvino Klassiker braucht. Sie sind geblieben, weil sie etwas bleibend verändert haben. Er aber verändert nichts, er will nur, daß Veränderung sei. An seinem Denkmal in Italien sind denn auch bereits da und dort Risse aufgetreten.
WINFRIED WEHLE
Italo Calvino: "Warum Klassiker lesen?" Essays. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner und Susanne Schoop. Carl Hanser Verlag, München 2003. 318 S., br., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Warum Klassiker lesen? Italo Calvino kennt die Antwort
Im Jahre 1757 erschien in Venedig eine der vielen Abhandlungen, die Ordnung in den Irrgarten unseres Innenlebens bringen wollten. Ihr Titel: "Berechnung von Lust und Schmerz des menschlichen Lebens". Ihr Autor: Giammaria Ortes. Niemand käme auf die Idee, in diesem griesgrämigen Gottesmann einen "Klassiker" zu sehen, den man immer wieder liest - außer einem. Und auch der liest Ortes nur wegen des einen Satzes, mit dem dieser illusionslose Verfechter der Aufklärung seine Schrift beschloß: "Wer kann mir sagen, ob ich etwas vortäusche?" Damit hob er sie selbst aus den Angeln.
Ein kurioser Fall, so scheint es, und doch besagt er viel über diesen einen und das Prinzip "Italo Calvino" insgesamt. Seine Romane haben die Leser verführt, "Der Baron auf den Bäumen" etwa (deutsch 1960) oder "Die unsichtbaren Städte" (deutsch 1977), besonders sein letzter, "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" (deutsch 1983). Calvinos Geschichten sind auf eine feinsinnig berechnende Weise haarsträubend. Doch sie fangen ihre Bodenlosigkeit ab, weil ihr Autor dabei ungeniert als "Gaukler oder Taschenspieler" auftritt, der auf seinem "Jahrmarktstisch" seine erzählerischen Kunststückchen vorführt, wie es in "Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen" von 1978 heißt.
Doch diese Lust zu fabulieren ist so weit von jeder "Muttersprache des Menschengeschlechts" (Herder) entfernt, wie es ein Moderner nur von Grimms Märchen sein kann. Bei Calvino ist sie vorsätzlich nach allen Regeln der Kunst stimuliert, "ein pures Willens- und Geistesprodukt" (so im "Reisenden in einer Winternacht"), Ausdruck eines "Optimisten", der, wie er sagte, glaubt, "daß alles noch schlechter gehen könnte". Woher kommt diese fatale Zuversicht? Aus der Literatur aller Zeiten und Arten. Calvino ist ein Weltbürger des Lesens. Wie bei seinem Helden Cosimo, der mit zwölf Jahren beschließt, nur noch auf Bäumen zu leben, gehört auch seine Leidenschaft der Lektüre - mit dem Unterschied allerdings, daß er viele seiner Buchbegehungen festgehalten hat: als Sammler und Bearbeiter von italienischen Fabeln; als Nacherzähler von Ariosts "Rasendem Roland" für Schüler; als Verlagslektor, Redakteur, Literaturkritiker und Herausgeber. Eine Auswahl davon ist jetzt (in der gelungenen Übersetzung von Barbara Kleiner und Susanne Schoop) in Deutsch erschienen. Sie trägt den Titel "Warum Klassiker lesen?" - und eröffnet einen Vordereingang zu seinen hintersinnigen Romanen.
Gerade Giammaria Ortes mag zeigen, warum ein Zeitgeist wie Calvino sich an Klassiker hält. Er liest ihre Werke mit der Genauigkeit des Philologen und Etymologen; zieht Literatur zu Rate, ist stets auf der Höhe der Gelehrsamkeit und bleibt doch in allen seinen 38 kritischen Nahaufnahmen, egal ob bei Homer, Xenophon, Ovid, Galilei, Ariost, Voltaire, Dickens, Montale, Borges oder Queneau, ein origineller, gewitzter, verschlingender Egoist. Der Leser wohnt einem Gastmahl bei, das ihn zum Zeugen, aber nicht eigentlich zum Teilnehmer dieser Lektüre macht. Im Grunde sagen sie ebensoviel über Calvino wie über seine Autoren aus: Er braucht die Klassiker, um sie - für seine Zwecke - zu verbrauchen. In seinem Schriftstellerherzen ist Calvino eigenwilliger Intertextualist.
Es widerspräche Calvinos Anschein der leichten Feder, sich auf einen leibhaftigen Gegner festzulegen. Spürbar wird allerdings an jeder Haltestelle seiner Lesereise eine Beunruhigung, eine tiefe Skepsis gegenüber dem menschlichen Intellekt und seinen Werken - und dies bei einem der intellektuellsten Schriftsteller. In einer längeren Auseinandersetzung mit einem seiner engsten Sprachbrüder, Jorge Luis Borges, hellt er diesen produktiven Widerspruch auf. Nach all den Modernisierungen der Kunst wäre es schuldhaft naiv, zu glauben, man könne noch naiv erzählen. Literatur hat sich vielmehr auf eine "vom Intellekt aufgebaute und beherrschte Welt" einzurichten. Doch was richtet der Autor im Normalfall aus? Einen "brodelnden Hexenkessel des Lebens", ein "unauflösliches Knäuel", wie Calvino durch Emilio Gaddas "Die gräßliche Bescherung in der Via Merulana" hindurch zu verstehen gibt. Deshalb gehört der Intellekt unters Dach der Literatur. Sie ist es, die ihn nach einer "strengen Geometrie" (wie Borges), in beständigen "Liebesaffären mit der Mathematik" (wie Queneau) vorführen kann, so daß er zu phantastischen Kopfständen gerade auf seinem eigenen Gebiet, der Normalität, gezwungen (und dadurch auf seine Unnormalitäten gestoßen) wird. Das Beste, was der menschliche Esprit tun kann, ist, sich in ein lustvoll organisiertes "jeu d'esprit" zu verwandeln.
Daß dabei im Hintergrund nichts Großes, Bedeutendes, Letzthinniges aufzieht, ist beabsichtigt. Calvinos Credo hat, wie er Voltaires "Candide" unterstellt, nichts Bestimmtes im Sinn; ja ist "antifinalistisch". Deshalb hat er Klassiker (und andere) so nötig. Sie bilden geradezu den Boden, in dem die Luftwurzeln seiner Geschichten Halt finden. Unter ihnen sucht er sich geeignete Wahlverwandte, die ihn in seiner Kunst bestärken: einen jeweils anderen Standpunkt einzunehmen. Calvino, der Fabeln liebte, kehrt gleichsam die vom Hasen und vom Igel um: Er ist immer schon wieder woanders, wenn der Leser glaubt, ihn erreicht zu haben. Kein Wunder also, daß er in die Schule von Ovid, Ariost oder Plinius geht. Sie lehren ihn, sich allenfalls einem irritierenden Engagement zu verschreiben: der "Suche nach einem Labyrinth" (mit Borges zu sprechen), einem Ort also, der konsequent in die Irre führt.
Wo aber ließen sich dafür geeignetere Räume finden als in der Literatur? Der Dädalus der Moderne ist Poet und Erzähler. Ihm obliegt es, sprachliche Gebäude zu ersinnen, die den Leser in verwirrende Passagen und Parcours locken. Nur so würde er darauf gestoßen, daß alles auch immer anders sein könnte und sogar sollte. Deshalb auch ist Odysseus Calvinos Mann. Weder erkennt er seine Heimat Ithaka wieder, noch wird er wiedererkannt. Um wirklich anzukommen, darf er deshalb die Odyssee nicht vergessen. Erst die Geschichten seiner Irrfahrten geben ihm (wieder) ein Gesicht und ein Zuhause.
In diesen luftigen Bücherbäumen hat sich der Autor Calvino niedergelassen. Von dort aus konnte er als Dissident gegen blinde, gedankenlose Bodenverhaftungen vorgehen. Auf einen mythischen Rückhalt wie bei Homer, Ovid oder noch Ariost lassen seine sprachlichen Ausschweifungen allerdings nicht mehr hoffen. Sie sind gewissermaßen profaniert und damit ganz auf sich selbst angewiesen. Und hierin haben Calvinos Klassikerstudien ihren tiefen Beweggrund: In ihnen sichert er seine eigene literarische Webkunde. Sie nimmt Maß, wie er im Blick auf Galilei entwickelt, an der sprachlichen Weltformel schlechthin, dem Alphabet. Dessen unendliche Kombinatorik erfüllt ihren - paradoxen - Sinn, wenn sie unendlich weitergeht. Deshalb auch nimmt Calvinos Lesen und Schreiben Sprache nur auf, um sie in einem Karussell von Veränderungen, Wandlungen und Zeugungen um und um zu wenden.
Einem stillschweigenden Glaubenssatz - oder sollte man sagen: Zaubermittel? - scheint Calvino nicht ganz entsagen zu wollen: daß, wenn es Glück und Gelingen gäbe, es im Rang des Fabelhaften, Wunderbaren, Unerklärlichen aufgetreten wäre, also im Rücken der Vernunft. Daher versucht er - für alle Fälle, sozusagen auf gut Glück -, wie in René Magrittes Bild "Die verbotene Reproduktion" den Dingen zumindest eine Rückansicht zu sichern. Ob seine phantasievollen Geschichten recht haben oder nicht, ist Nebensache. Hauptsache, sie nehmen uns gefangen, entführen uns in "die unsichtbaren Städte" "jenseits der gewohnten Wahrnehmungsmuster und Wortschablonen". Dort kann "jedes Ding jedes beliebige andere bedeuten".
In dieser Schule der Beliebigkeit wird, gewiß, mit Witz und Raffinement das Alphabet alternativen Denkens gelehrt. Aber sie nimmt auch selbst eine problematische Rückseite in Kauf. Milan Kunderas "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins" kann einem dabei in den Sinn kommen, und man begreift gerade deshalb, warum Calvino Klassiker braucht. Sie sind geblieben, weil sie etwas bleibend verändert haben. Er aber verändert nichts, er will nur, daß Veränderung sei. An seinem Denkmal in Italien sind denn auch bereits da und dort Risse aufgetreten.
WINFRIED WEHLE
Italo Calvino: "Warum Klassiker lesen?" Essays. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner und Susanne Schoop. Carl Hanser Verlag, München 2003. 318 S., br., 19,90 [Euro].
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"Ein bemerkenswertes Buch. Schon der acht Seiten kurze Titelessay ... macht ganze Bücherregale zur Kanondiskussion überflüssig ... Warum Calvinos Buch über Klassiker lesen? Weil es vor seinem eigenen Maßstab des Klassischen besteht."
Andreas Dorschel, Süddeutsche Zeitung, 17.03.03
"Der italienische Erzähler und Essayist kann mit einem einzigen Buch die ganze Kanon-Debatte ad absurdum führen ..."
Literaturen, 05/03
"... der bisher anregendste Beitrag zur Debatte (kommt) aus Italien ... Mit faszinierender, gleichsam unprätentiöser Erzählkunst stellt Calvino seine bevorzugten Klassiker vor."
Daniel Jütte, Stuttgarter Zeitung, 25.04.03
Andreas Dorschel, Süddeutsche Zeitung, 17.03.03
"Der italienische Erzähler und Essayist kann mit einem einzigen Buch die ganze Kanon-Debatte ad absurdum führen ..."
Literaturen, 05/03
"... der bisher anregendste Beitrag zur Debatte (kommt) aus Italien ... Mit faszinierender, gleichsam unprätentiöser Erzählkunst stellt Calvino seine bevorzugten Klassiker vor."
Daniel Jütte, Stuttgarter Zeitung, 25.04.03
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "gedankenreiche Auseinandersetzung mit Werken und Autoren" würdigt Rezensentin Barbara Villiger Heilig den nun vorliegenden Band "Warum Klassiker lesen?", der Italo Calvinos zu verschiedenen Anlässen verfasste literaturkritische Essays versammelt. Ob Homer, Xenophon, Ovid, Plinius, ob die französischen Ritterromane und ihre italienischen Abkömmlinge oder die philosophischen Romane des Dix-Huitieme, ob die großen Romane des 19. Jahrhundert oder die der Moderne: Calvino versteht es nach Ansicht von Heilig "wie selten einer" zum Lesen der Klassiker zu verleiten, einen Begriff, den er zu ihrer Freude "behutsam" umkreist und immer wieder neu bestimmt, etwa als Werke, die zum Wiederlesen verführen und ihm standhalten. Kein Wunder also, dass sie den Band, der ohne Herablassung, Spott, Besserwisserei auskomme, nicht nur den Liebhabern des "humorvoll-eleganten" Formulierers ans Herz legt, sondern insbesondere jenen, deren Geschäft die Literaturkritik ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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