Wie oft soll ein erwachsener Sohn seine Mutter besuchen? Muss sich eine Tochter finanziell an der Pflege ihres Vaters beteiligen? Sind Kinder ihren Eltern überhaupt etwas schuldig? Die Bindung an die Eltern ist die einzige Beziehung, die wir uns nicht aussuchen können. Klug und zugänglich schildert die Philosophin Barbara Bleisch diese existentielle und zugleich komplizierte Verwandtschaftsbeziehung. Sie macht deutlich, was Kinder im Guten wie im Schlechten an ihre Eltern bindet, geht Fragen auf den Grund, die jeden beschäftigen - und beschreibt, warum aus dieser Bindung keine Pflicht erwächst, es aber dennoch ein großes Glück sein kann, sich um seine Eltern zu bemühen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2018Niemand hat um sein Leben gebeten
Von Pflicht und Selbstverpflichtung: Barbara Bleisch beantwortet die Frage, was Kinder ihren Eltern schulden, mit einer pauschalen Absage. Die entscheidende Frage lässt sie offen.
Dass Kinder ihren Eltern Gehorsam, Dankbarkeit und Fürsorge schulden, war lange unbestritten. Kinder hatten Pflichten, Eltern dagegen Rechte. Erst im achtzehnten Jahrhundert wandelte sich dieses Verhältnis: Nicht nur die emotionale, sondern auch die moralische Eltern-Kind-Beziehung wurde neu verhandelt, als Aufklärer wie Mendelssohn und Kant Eltern eine Pflicht zuschrieben, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um zur Glückseligkeit ihres Nachwuchses beizutragen.
Wie aber steht es heute um die filialen Pflichten? Was schulden wir unseren Eltern? Diese Frage stellt sich nicht nur in akademischen Debatten, sie dürfte auch viele erwachsen gewordene Kinder beschäftigen. Schon der Titel von Barbara Bleischs Buch verrät ihre Antwort: Kinder schulden ihren Eltern nichts. Auf knapp zweihundert Seiten argumentiert sie, dass weder Verwandtschaft noch die geleistete Fürsorge und Erziehung Kinder zu etwas verpflichte. Das Kind habe weder um seine Existenz noch um das gemeinsame Leben gebeten und ebenso wenig in einen Vertrag eingewilligt, der wechselseitig verpflichtet. Kinder schuldeten ihren Eltern deshalb nur, was sie allen Menschen schulden, nämlich "Respekt" - worunter die Autorin aber lediglich Unterlassungen versteht: Kinder dürfen ihre Eltern also nicht durch Demütigung, Ausnutzung, Indiskretion oder Ähnliches schädigen.
Diese Behauptung wird kaum der besonderen Verletzlichkeit gerecht, die aus der emotionalen und biographischen Verbundenheit in Nahbeziehungen erwächst. Stellt es in engen Beziehungen, selbst wenn sie asymmetrisch sind, nicht schon eine Verletzung dar, wenn Kontakt, Anteilnahme und Fürsorge ausbleiben? Doch Bleisch will keine "moralfreie Zone" etablieren. Sie schreibt in dem Bewusstsein, dass Menschen auf gelingende Beziehungen angewiesen sind. Trotzdem bestreitet sie, dass Eltern einen "Anspruch" auf die Zuwendung ihrer Kinder haben. Solch eine positive Verpflichtung hält sie einerseits für unbegründbar, andererseits für geradezu kontraproduktiv, denn "erst aus der Freiheit heraus, sich ohne Pflichtgefühl auf die eigenen Eltern einzulassen, werden Kinder den Reichtum neu entdecken können, den eine Familie ja in vielen Fällen birgt".
Obwohl Bleisch ihre "philosophische Untersuchung" nicht als "psychologischen Ratgeber" versteht, verwässern solche psychologischen Mutmaßungen immer wieder die moralphilosophische Argumentation: So schließt sie, dass es "im eigenen Interesse" der Kinder liege, sich um eine "wohlwollende Verbindung" zu bemühen, "denn eine glückliche Familie kann massiv zu einem guten, sinnhaften Leben beitragen". Das "gute Kind" sollte also prosoziale Einstellungen und Verhaltensweisen kultivieren, um sich selbst einen Gefallen zu tun.
Die Flucht in das Eigeninteresse ist philosophisch schwach. Zu diesem Individualismus passt, dass die historische, soziale und politische Dimension der Thematik weitgehend ausgeblendet wird. In einer Zeit, in der die Vereinsamung älterer Menschen ein so verbreitetes Phänomen ist, dass Großbritannien gerade ein "Ministerium für Einsamkeit" geschaffen hat, wünscht man sich, dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht im luftleeren Raum abgehandelt wird.
Doch es fehlt nicht nur eine historische oder kulturvergleichende Perspektive und eine Reflexion darüber, ob solche Rahmenbedingungen einen Einfluss auf moralische Pflichten haben; auch moraltheoretisch bleiben die entscheidenden Punkte unklar. Die "Tiefenbohrung", die Bleisch anstrebt, bleibt an der Oberfläche, weil der zentrale Begriff der Pflicht nie genau bestimmt wird.
Da Bleischs pauschale Absage von vornherein feststeht, hat sie keinen Anlass, zwischen legitimen und abwegigen Forderungen zu differenzieren. So entsteht der Eindruck, als ob "Pflicht" bedeute, jeglichen Erwartungen der Eltern zu entsprechen, deren Werte zu teilen und Kritik zu unterlassen: Zum Erwachsenwerden gehöre, "dass wir aus beengenden Verhältnissen ausbrechen dürfen" und "nicht alles, was unsere Familie von uns erwartet, ohne Murren zu erfüllen haben". Da niemand solche Zumutungen ernsthaft als moralische Pflicht auffassen wird, haben "wir" am Ende des Buches "die Frage nach der Pflicht" keineswegs geklärt.
Bleischs Unbehagen an der Moralisierung von Nahbeziehungen offenbart ein verkürztes Verständnis von "Pflicht" und "Freiheit" beziehungsweise "Selbstbestimmung", die sie ausschließlich als Abgrenzung und Befreiung von Zwängen versteht. Nun liegt aber die Pointe des Pflichtbegriffs - zumindest bei Immanuel Kant, der sich einige Gedanken dazu gemacht hat - gerade darin, dass er nicht für Fremd-, sondern für Selbstbestimmung steht. "Moral" ist eben nicht, was die Sitten, die mores, gebieten, sondern allein, was sich eine Person vernünftigerweise selbst als Gesetz geben kann. Die Emanzipation der Kinder besteht also darin, den Sprung vom Eigeninteresse zur Autonomie zu wagen. Doch Autonomie in diesem starken Sinne erlaubt nicht nur Selbstschutz, sondern auch Selbstverpflichtung.
Tatsächlich wurden alle bei Bleisch behandelten Probleme in der Philosophie schon vor Jahrhunderten diskutiert und zum Teil sehr elegant gelöst, beispielsweise durch die Unterscheidung zwischen (fast ausschließlich negativen) Rechtspflichten und (positiven) Tugendpflichten, deren Ziel es ist, zum Glück des anderen beizutragen und eine gute Gesellschaft zu ermöglichen.
Da sich nicht formal bestimmen lässt, was der andere individuell braucht, wird jedem Menschen bei der Erfüllung der Tugendpflicht ein großer Spielraum eingeräumt. Dabei war immer schon klar, dass auf Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit oder Zuwendung kein Anspruch besteht. Daraus folgt aber nicht, dass sie nicht verbindlich sind.
Wäre das Buch wenigstens stilistisch ein Vergnügen, würde man ihm inhaltliche Unzulänglichkeiten vielleicht verzeihen. Doch es ist sprachlich so ungelenk, dass die Lektüre wenig Freude bereitet. Alles in allem leider eine verpasste Chance angesichts der existentiellen und gesellschaftlichen Bedeutung der Thematik.
TATJANA NOEMI TÖMMEL
Barbara Bleisch: "Warum wir unseren Eltern nichts schulden".
Carl Hanser Verlag, München 2018. 208 S., geb., 18.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Pflicht und Selbstverpflichtung: Barbara Bleisch beantwortet die Frage, was Kinder ihren Eltern schulden, mit einer pauschalen Absage. Die entscheidende Frage lässt sie offen.
Dass Kinder ihren Eltern Gehorsam, Dankbarkeit und Fürsorge schulden, war lange unbestritten. Kinder hatten Pflichten, Eltern dagegen Rechte. Erst im achtzehnten Jahrhundert wandelte sich dieses Verhältnis: Nicht nur die emotionale, sondern auch die moralische Eltern-Kind-Beziehung wurde neu verhandelt, als Aufklärer wie Mendelssohn und Kant Eltern eine Pflicht zuschrieben, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um zur Glückseligkeit ihres Nachwuchses beizutragen.
Wie aber steht es heute um die filialen Pflichten? Was schulden wir unseren Eltern? Diese Frage stellt sich nicht nur in akademischen Debatten, sie dürfte auch viele erwachsen gewordene Kinder beschäftigen. Schon der Titel von Barbara Bleischs Buch verrät ihre Antwort: Kinder schulden ihren Eltern nichts. Auf knapp zweihundert Seiten argumentiert sie, dass weder Verwandtschaft noch die geleistete Fürsorge und Erziehung Kinder zu etwas verpflichte. Das Kind habe weder um seine Existenz noch um das gemeinsame Leben gebeten und ebenso wenig in einen Vertrag eingewilligt, der wechselseitig verpflichtet. Kinder schuldeten ihren Eltern deshalb nur, was sie allen Menschen schulden, nämlich "Respekt" - worunter die Autorin aber lediglich Unterlassungen versteht: Kinder dürfen ihre Eltern also nicht durch Demütigung, Ausnutzung, Indiskretion oder Ähnliches schädigen.
Diese Behauptung wird kaum der besonderen Verletzlichkeit gerecht, die aus der emotionalen und biographischen Verbundenheit in Nahbeziehungen erwächst. Stellt es in engen Beziehungen, selbst wenn sie asymmetrisch sind, nicht schon eine Verletzung dar, wenn Kontakt, Anteilnahme und Fürsorge ausbleiben? Doch Bleisch will keine "moralfreie Zone" etablieren. Sie schreibt in dem Bewusstsein, dass Menschen auf gelingende Beziehungen angewiesen sind. Trotzdem bestreitet sie, dass Eltern einen "Anspruch" auf die Zuwendung ihrer Kinder haben. Solch eine positive Verpflichtung hält sie einerseits für unbegründbar, andererseits für geradezu kontraproduktiv, denn "erst aus der Freiheit heraus, sich ohne Pflichtgefühl auf die eigenen Eltern einzulassen, werden Kinder den Reichtum neu entdecken können, den eine Familie ja in vielen Fällen birgt".
Obwohl Bleisch ihre "philosophische Untersuchung" nicht als "psychologischen Ratgeber" versteht, verwässern solche psychologischen Mutmaßungen immer wieder die moralphilosophische Argumentation: So schließt sie, dass es "im eigenen Interesse" der Kinder liege, sich um eine "wohlwollende Verbindung" zu bemühen, "denn eine glückliche Familie kann massiv zu einem guten, sinnhaften Leben beitragen". Das "gute Kind" sollte also prosoziale Einstellungen und Verhaltensweisen kultivieren, um sich selbst einen Gefallen zu tun.
Die Flucht in das Eigeninteresse ist philosophisch schwach. Zu diesem Individualismus passt, dass die historische, soziale und politische Dimension der Thematik weitgehend ausgeblendet wird. In einer Zeit, in der die Vereinsamung älterer Menschen ein so verbreitetes Phänomen ist, dass Großbritannien gerade ein "Ministerium für Einsamkeit" geschaffen hat, wünscht man sich, dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht im luftleeren Raum abgehandelt wird.
Doch es fehlt nicht nur eine historische oder kulturvergleichende Perspektive und eine Reflexion darüber, ob solche Rahmenbedingungen einen Einfluss auf moralische Pflichten haben; auch moraltheoretisch bleiben die entscheidenden Punkte unklar. Die "Tiefenbohrung", die Bleisch anstrebt, bleibt an der Oberfläche, weil der zentrale Begriff der Pflicht nie genau bestimmt wird.
Da Bleischs pauschale Absage von vornherein feststeht, hat sie keinen Anlass, zwischen legitimen und abwegigen Forderungen zu differenzieren. So entsteht der Eindruck, als ob "Pflicht" bedeute, jeglichen Erwartungen der Eltern zu entsprechen, deren Werte zu teilen und Kritik zu unterlassen: Zum Erwachsenwerden gehöre, "dass wir aus beengenden Verhältnissen ausbrechen dürfen" und "nicht alles, was unsere Familie von uns erwartet, ohne Murren zu erfüllen haben". Da niemand solche Zumutungen ernsthaft als moralische Pflicht auffassen wird, haben "wir" am Ende des Buches "die Frage nach der Pflicht" keineswegs geklärt.
Bleischs Unbehagen an der Moralisierung von Nahbeziehungen offenbart ein verkürztes Verständnis von "Pflicht" und "Freiheit" beziehungsweise "Selbstbestimmung", die sie ausschließlich als Abgrenzung und Befreiung von Zwängen versteht. Nun liegt aber die Pointe des Pflichtbegriffs - zumindest bei Immanuel Kant, der sich einige Gedanken dazu gemacht hat - gerade darin, dass er nicht für Fremd-, sondern für Selbstbestimmung steht. "Moral" ist eben nicht, was die Sitten, die mores, gebieten, sondern allein, was sich eine Person vernünftigerweise selbst als Gesetz geben kann. Die Emanzipation der Kinder besteht also darin, den Sprung vom Eigeninteresse zur Autonomie zu wagen. Doch Autonomie in diesem starken Sinne erlaubt nicht nur Selbstschutz, sondern auch Selbstverpflichtung.
Tatsächlich wurden alle bei Bleisch behandelten Probleme in der Philosophie schon vor Jahrhunderten diskutiert und zum Teil sehr elegant gelöst, beispielsweise durch die Unterscheidung zwischen (fast ausschließlich negativen) Rechtspflichten und (positiven) Tugendpflichten, deren Ziel es ist, zum Glück des anderen beizutragen und eine gute Gesellschaft zu ermöglichen.
Da sich nicht formal bestimmen lässt, was der andere individuell braucht, wird jedem Menschen bei der Erfüllung der Tugendpflicht ein großer Spielraum eingeräumt. Dabei war immer schon klar, dass auf Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Großzügigkeit oder Zuwendung kein Anspruch besteht. Daraus folgt aber nicht, dass sie nicht verbindlich sind.
Wäre das Buch wenigstens stilistisch ein Vergnügen, würde man ihm inhaltliche Unzulänglichkeiten vielleicht verzeihen. Doch es ist sprachlich so ungelenk, dass die Lektüre wenig Freude bereitet. Alles in allem leider eine verpasste Chance angesichts der existentiellen und gesellschaftlichen Bedeutung der Thematik.
TATJANA NOEMI TÖMMEL
Barbara Bleisch: "Warum wir unseren Eltern nichts schulden".
Carl Hanser Verlag, München 2018. 208 S., geb., 18.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Frage, "Warum wir unseren Eltern nichts schulden", beantwortet Barbara Bleisch laut Rezensent Adrian Daub philosophisch. Die Schuld der Kinder sei bei näherem Hinsehen kaum mehr als ein "mystifizierender" Gemeinplatz, lernt der Rezensent von der Autorin. Er fragt sich mit ihr, ob man jemandem etwas schulde, wenn man das Empfangene doch niemals eingefordert habe. So entdeckt er dank Bleischs Argumentation in der Schuld der Kinder eine Art Erbsünde, die Eltern einmal mehr als "Minigötter" inszeniert. Die Quintessenz ihres Buches sei zwar schon im Titel formuliert, aber wie die Autorin ihn dorthin führt, fand Daub dennoch sowohl erhellend als auch spannend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es ist spannend, der Philosophin beim Durchdeklinieren eines ebenso alltäglichen wie vertrackten Problems zuzusehen." Adrian Daub, Neue Zürcher Zeitung, 14.03.18