"Am Anfang steht die Kinderfrage des Warum. Warum wird man krank?" Daß der Mensch seine Krankheiten nicht einfach bekommt, sondern daß sie immer wieder in seine Lebensgeschichte eingewoben sind, daß also jede Krankheit auch seelische Dimensionen hat - diese Überlegungen ziehen sich durch das Werk Viktor von Weizsäckers. Nicht von ungefähr nannte er seinen ärztlichen Werdegang eine "Flucht vor der Schulmedizin". 'Warum wird man krank ist' ein Band aus der Reihe medizinHuman im suhrkamp tschenbuch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2008Fasziniert von der List der Krankheit
In Zeiten verschärfter Ökonomisierung des Gesundheitswesens sind Viktor von Weizsäckers grundsätzliche Reflexionen zum Kranksein wertvoller denn je. Was sagen seine wichtigsten Texte?
Betrachten Sie bitte die Schwierigkeiten nicht gleich als Gegenargument." Dieser Satz ist kennzeichnend für das Werk des Neurologen Viktor von Weizsäcker. In seinen medizin-philosophischen Schriften plädiert er für einen anthropologischen Weg, auf dem der Mensch nicht nur als Objekt unter Objekten gesehen wird. Weizsäckers Ansatz, stark geprägt von Freuds Psychoanalyse, wollte das Subjekt in das Arzt-Patienten-Verhältnis wieder einführen, die Therapie sollte die Form einer "biographischen Pathogenese" annehmen. Seine scharfsinnigen Analysen würden das Gesundheitswesen revolutionieren, wenn sie dürften. In der Krise der Medizin machte Weizsäcker eine Krise des Denkens aus.
Von Medizinkritikern aller Couleur wird Weizsäcker derzeit als Pionier eines phänomenologischen, antireduktionistischen Zugriffs wiederentdeckt. Unter dem Titel "Warum wird man krank?" ist nun ein Lesebuch erschienen, das mit einer umsichtigen Textauswahl in das Werk Viktor von Weizsäckers einführt. Wie sehr Weizsäckers Leben von einer medizinischen Mission geprägt war, zeigt sich in seinen beiden autobiographischen Schriften "Natur und Geist" und "Begegnung und Bewegung", Person und Werk sind hier aufs engste miteinander verknüpft. Der 1886 in Stuttgart geborene Weizsäcker widmet sich auf Anraten des Vaters dem "Brotstudium" der Medizin, besucht aber auch Vorlesungen in Philosophie. Seine akademische Karriere begann spät. Nach langer Assistenzzeit in Heidelberg wurde er 1941 als Ordinarius für Neurologie nach Breslau berufen, wo er bis 1945 blieb. Im Jahr darauf übernahm er, zurück in Heidelberg, den Lehrstuhl für Allgemeine Klinische Medizin, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1952 innehatte. Weizsäcker sah sich als universitärer Außenseiter: "Mein Leben ist zum großen Teil an der Universität erfolglos verlaufen."
Diese Bescheidenheit findet man auch in seinen theoretischen Schriften wieder, in denen er mit großer Umsicht analysiert, kritisiert und methodisch entwirft. Dabei verbindet Weizsäcker auf beeindruckende Weise eine unbestechliche Außenperspektive mit einer intimen Kenntnis der Strukturen des Systems. Sein ärztliches Handeln und seine Forschungen stellt er in den Lebenserinnerungen in einen geistesgeschichtlichen und medizinhistorischen Zusammenhang. Weizsäckers Denken inspirierte sich immer wieder außerhalb der engen Grenzen seiner eigenen Disziplin. 1926 besuchte er Sigmund Freud in Wien. Diese Begegnung sollte seine weiteren Arbeiten wie keine andere prägen. Im selben Jahr gründete er mit dem jüdischen Philosophen Martin Buber und dem kritischen, exkommunizierten Katholiken Josef Wittig die Zeitschrift "Die Kreatur", die bis 1930 erschien. Ein wichtiges Anliegen waren ihm sozialmedizinische Fragen. Von 1928 an leitete er eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Reform des Sozialversicherungswesens beschäftigte. Die Initiative wurde allerdings von den Nationalsozialisten gestoppt.
Das außeruniversitäre Engagement des Arztes findet sich auf vielfältige Weise in seinen theoretischen Schriften wieder. Geprägt von der Beschäftigung mit Philosophie und Theologie kommt Weizsäcker zu einer philosophisch konzipierten Sinndeutung des Krankseins, die im Mittelpunkt seiner Forschungen steht. Er beobachtet Kranksein als besondere Weise des In-der-Welt-Seins. Die Pathosophie, die "Weisheit des Leidens", erkennt, dass die Gesundheit eine Utopie ist. "Wer sich für völlig gesund hält, der ist nur blind für das Pathologische." So gesehen verhilft die Krankheit zu Einsichten über die Verfasstheit von Welt, die dem Gesunden oft verborgen bleiben. Gerade der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit schärft den Blick für Grundfragen der Existenz. Das ist keine Rechtfertigung des Pathologischen, an dessen ontologischer Negativität Weizsäcker keinen Zweifel lässt.
Theologisierend stellt er sich die Frage, ob die Krankheit nicht nur ein verstümmelter Endgedanke, eine unzulänglich gebliebene Schöpfungstat sei: "Wir kommen bei der Theologie anzufragen, um uns über den Sinn der letzten Bestimmung belehren zu lassen. Und wir hoffen, darauf vorbereitet zu sein, wenn wir selbst so weit sind, dass wir begriffen haben, das Ziel der Medizin sei nicht, jemanden gesund zu machen, vielmehr sei die ärztliche Therapie nur hineingestellt, nur ein Teil der Aufgabe, einem Menschen auf dem Weg zu seiner letzten Bestimmung Dienste zu leisten." So sieht der Weizsäckersche Versuch aus, durch alle Widerwärtigkeit hindurch zu einer Sinngebung von Krankheit zu kommen. Für diesen Autor steht fest: Wer es vermag, der Krankheit eine Bedeutung in der Biographie zu geben, für den kann das Kranksein ein Beitrag zur Wahrheitsfindung werden. Weizsäcker zeigt sich denn auch fasziniert von der "List, mit der die Krankheiten Entscheidungen herbeiführen, die dem Menschen notwendig sind".
Wie soll eine ärztliche Handlung, eine Therapie aussehen, die eine solche Sinndeutung herbeiführen kann? Weder verurteilt Weizsäcker die Schulmedizin, noch baut er allein auf die psychosomatische Methode; diese sei ohnehin noch zu wenig ausgereift und teils von barbarischer Unterkomplexität. Deutlich ablehnend kommentiert er jenen Typus Arzt, der sich nur als "Gesundmacher" versteht. Mit dem Mittel der Suggestion tische ein derartiger Mediziner dem Patienten fromme Lügen auf, das Ergebnis ist eine "Verdummung zu zweien". Die Aufgabe des Arztes sei es jedoch, den Kranken zu enttäuschen, seine Illusion zu zerstören. Der Arzt soll kein Bewirker, sondern ein Ermöglicher sein, "er steht nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung".
Den Schlüssel zu einem richtigen Behandlungsverhältnis findet Weizsäcker im philosophischen Begriff des Verstehens. In einer einfühlsamen Sprachanalyse seziert er die Bedeutung des Satzes: "Ich bin krank". "Versteht" der Arzt diesen Satz eines Kranken, so erkennt er ihn als existierenden Menschen. Dieses Verstehen bedeutet nämlich nicht zu verstehen, dass jemand krank ist, es heißt vielmehr "wissen, dass jener Andere meint oder denkt oder fühlt oder weiß, er sei krank." Weizsäcker nennt seine Art des Jemand-Verstehens ein transjektives, das eben kein objektives ist. Demnach gibt es keine klassifizierungsfähigen Krankheitsfakten, keine eindeutigen Kausalitäten - allenfalls als Behelf, als erste Annahme, nicht als abschließenden Befund.
Arzt und Patient finden sich idealerweise in einen "therapeutischen Gestaltkreis" wieder, der beide Protagonisten umschließt. Der Gestaltkreis ist ein zentraler Begriff auch im Werke Weizsäckers - mit allen Chancen und Risiken, die diesem zu Unschärfen tendierenden Begriff anhaften. Mit ihm soll die Organismusinnenwelt und -umwelt in einer Ganzheit erfasst werden, die freilich nicht selten vage bleibt. Jedenfalls setzt Weizsäcker auf eine Dynamik zwischen Arzt und Patient, welche sich nur im Zweipersonensystem des Gestaltkreises realisieren lasse. Nur hier ist es nach Weizsäcker möglich, einen "Kanon der Zuwendung" zu entwickeln, der dem Kranken gemäß ist.
In der Frage, wie man mit der seelischen Dimension des Kranken umzugehen hat, sieht von Weizsäcker die entscheidende Aufgabe der Medizin. Davon handelt sein letztes zukunftsweisendes Werk "Die Pathosophie". Mit ihr will er "das Medizinische am Menschen menschlich darstellen", sie kommt einer umfassenden Kritik und Infragestellung der gegebenen wissenschaftlichen Strukturen gleich. Bereits in seinem Vortrag zur "Psychosomatischen Medizin" (1949) hatte sich der Autor für eine anthropologische Psychosomatik starkgemacht. Er verwahrt sich gegen die zeittypische Meinung, das Seelische sei nach Art einer Mechanik zu begreifen. Es gehe nicht an, "in der Psychosomatik auf der somatischen Seite eine hochentwickelte Naturwissenschaft einzusetzen, auf der psychischen sich aber einer Trivialität zu bedienen".
In unseren Zeiten, da der Ökonomismus das Gesundheitswesen dominiert und Fragen der Rentabilität im Vordergrund stehen, sind Anstöße zu einer grundsätzliche Reflexion über Kranksein und Gesundsein wichtiger denn je. In diesem Sinne ist das vorliegende Lesebuch hoch aktuell. Bei aller Zeitgebundenheit der Ausdrucksweise - Weizsäcker bleibt gelegentlich nur schwer erträglich den philosophischen Moden seiner Zeit verhaftet - haben wir es bei diesem Lesebuch mit einer Schrift zu tun, die man Patienten, Ärzten und Gesundheitspolitikern nur wärmstens ans Herz legen kann.
GESINE HINDEMITH
Viktor von Weizsäcker: "Warum wird man krank?" Ein Lesebuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 341 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Zeiten verschärfter Ökonomisierung des Gesundheitswesens sind Viktor von Weizsäckers grundsätzliche Reflexionen zum Kranksein wertvoller denn je. Was sagen seine wichtigsten Texte?
Betrachten Sie bitte die Schwierigkeiten nicht gleich als Gegenargument." Dieser Satz ist kennzeichnend für das Werk des Neurologen Viktor von Weizsäcker. In seinen medizin-philosophischen Schriften plädiert er für einen anthropologischen Weg, auf dem der Mensch nicht nur als Objekt unter Objekten gesehen wird. Weizsäckers Ansatz, stark geprägt von Freuds Psychoanalyse, wollte das Subjekt in das Arzt-Patienten-Verhältnis wieder einführen, die Therapie sollte die Form einer "biographischen Pathogenese" annehmen. Seine scharfsinnigen Analysen würden das Gesundheitswesen revolutionieren, wenn sie dürften. In der Krise der Medizin machte Weizsäcker eine Krise des Denkens aus.
Von Medizinkritikern aller Couleur wird Weizsäcker derzeit als Pionier eines phänomenologischen, antireduktionistischen Zugriffs wiederentdeckt. Unter dem Titel "Warum wird man krank?" ist nun ein Lesebuch erschienen, das mit einer umsichtigen Textauswahl in das Werk Viktor von Weizsäckers einführt. Wie sehr Weizsäckers Leben von einer medizinischen Mission geprägt war, zeigt sich in seinen beiden autobiographischen Schriften "Natur und Geist" und "Begegnung und Bewegung", Person und Werk sind hier aufs engste miteinander verknüpft. Der 1886 in Stuttgart geborene Weizsäcker widmet sich auf Anraten des Vaters dem "Brotstudium" der Medizin, besucht aber auch Vorlesungen in Philosophie. Seine akademische Karriere begann spät. Nach langer Assistenzzeit in Heidelberg wurde er 1941 als Ordinarius für Neurologie nach Breslau berufen, wo er bis 1945 blieb. Im Jahr darauf übernahm er, zurück in Heidelberg, den Lehrstuhl für Allgemeine Klinische Medizin, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1952 innehatte. Weizsäcker sah sich als universitärer Außenseiter: "Mein Leben ist zum großen Teil an der Universität erfolglos verlaufen."
Diese Bescheidenheit findet man auch in seinen theoretischen Schriften wieder, in denen er mit großer Umsicht analysiert, kritisiert und methodisch entwirft. Dabei verbindet Weizsäcker auf beeindruckende Weise eine unbestechliche Außenperspektive mit einer intimen Kenntnis der Strukturen des Systems. Sein ärztliches Handeln und seine Forschungen stellt er in den Lebenserinnerungen in einen geistesgeschichtlichen und medizinhistorischen Zusammenhang. Weizsäckers Denken inspirierte sich immer wieder außerhalb der engen Grenzen seiner eigenen Disziplin. 1926 besuchte er Sigmund Freud in Wien. Diese Begegnung sollte seine weiteren Arbeiten wie keine andere prägen. Im selben Jahr gründete er mit dem jüdischen Philosophen Martin Buber und dem kritischen, exkommunizierten Katholiken Josef Wittig die Zeitschrift "Die Kreatur", die bis 1930 erschien. Ein wichtiges Anliegen waren ihm sozialmedizinische Fragen. Von 1928 an leitete er eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Reform des Sozialversicherungswesens beschäftigte. Die Initiative wurde allerdings von den Nationalsozialisten gestoppt.
Das außeruniversitäre Engagement des Arztes findet sich auf vielfältige Weise in seinen theoretischen Schriften wieder. Geprägt von der Beschäftigung mit Philosophie und Theologie kommt Weizsäcker zu einer philosophisch konzipierten Sinndeutung des Krankseins, die im Mittelpunkt seiner Forschungen steht. Er beobachtet Kranksein als besondere Weise des In-der-Welt-Seins. Die Pathosophie, die "Weisheit des Leidens", erkennt, dass die Gesundheit eine Utopie ist. "Wer sich für völlig gesund hält, der ist nur blind für das Pathologische." So gesehen verhilft die Krankheit zu Einsichten über die Verfasstheit von Welt, die dem Gesunden oft verborgen bleiben. Gerade der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit schärft den Blick für Grundfragen der Existenz. Das ist keine Rechtfertigung des Pathologischen, an dessen ontologischer Negativität Weizsäcker keinen Zweifel lässt.
Theologisierend stellt er sich die Frage, ob die Krankheit nicht nur ein verstümmelter Endgedanke, eine unzulänglich gebliebene Schöpfungstat sei: "Wir kommen bei der Theologie anzufragen, um uns über den Sinn der letzten Bestimmung belehren zu lassen. Und wir hoffen, darauf vorbereitet zu sein, wenn wir selbst so weit sind, dass wir begriffen haben, das Ziel der Medizin sei nicht, jemanden gesund zu machen, vielmehr sei die ärztliche Therapie nur hineingestellt, nur ein Teil der Aufgabe, einem Menschen auf dem Weg zu seiner letzten Bestimmung Dienste zu leisten." So sieht der Weizsäckersche Versuch aus, durch alle Widerwärtigkeit hindurch zu einer Sinngebung von Krankheit zu kommen. Für diesen Autor steht fest: Wer es vermag, der Krankheit eine Bedeutung in der Biographie zu geben, für den kann das Kranksein ein Beitrag zur Wahrheitsfindung werden. Weizsäcker zeigt sich denn auch fasziniert von der "List, mit der die Krankheiten Entscheidungen herbeiführen, die dem Menschen notwendig sind".
Wie soll eine ärztliche Handlung, eine Therapie aussehen, die eine solche Sinndeutung herbeiführen kann? Weder verurteilt Weizsäcker die Schulmedizin, noch baut er allein auf die psychosomatische Methode; diese sei ohnehin noch zu wenig ausgereift und teils von barbarischer Unterkomplexität. Deutlich ablehnend kommentiert er jenen Typus Arzt, der sich nur als "Gesundmacher" versteht. Mit dem Mittel der Suggestion tische ein derartiger Mediziner dem Patienten fromme Lügen auf, das Ergebnis ist eine "Verdummung zu zweien". Die Aufgabe des Arztes sei es jedoch, den Kranken zu enttäuschen, seine Illusion zu zerstören. Der Arzt soll kein Bewirker, sondern ein Ermöglicher sein, "er steht nicht über der Entscheidung, sondern mit dem Kranken in der Entscheidung".
Den Schlüssel zu einem richtigen Behandlungsverhältnis findet Weizsäcker im philosophischen Begriff des Verstehens. In einer einfühlsamen Sprachanalyse seziert er die Bedeutung des Satzes: "Ich bin krank". "Versteht" der Arzt diesen Satz eines Kranken, so erkennt er ihn als existierenden Menschen. Dieses Verstehen bedeutet nämlich nicht zu verstehen, dass jemand krank ist, es heißt vielmehr "wissen, dass jener Andere meint oder denkt oder fühlt oder weiß, er sei krank." Weizsäcker nennt seine Art des Jemand-Verstehens ein transjektives, das eben kein objektives ist. Demnach gibt es keine klassifizierungsfähigen Krankheitsfakten, keine eindeutigen Kausalitäten - allenfalls als Behelf, als erste Annahme, nicht als abschließenden Befund.
Arzt und Patient finden sich idealerweise in einen "therapeutischen Gestaltkreis" wieder, der beide Protagonisten umschließt. Der Gestaltkreis ist ein zentraler Begriff auch im Werke Weizsäckers - mit allen Chancen und Risiken, die diesem zu Unschärfen tendierenden Begriff anhaften. Mit ihm soll die Organismusinnenwelt und -umwelt in einer Ganzheit erfasst werden, die freilich nicht selten vage bleibt. Jedenfalls setzt Weizsäcker auf eine Dynamik zwischen Arzt und Patient, welche sich nur im Zweipersonensystem des Gestaltkreises realisieren lasse. Nur hier ist es nach Weizsäcker möglich, einen "Kanon der Zuwendung" zu entwickeln, der dem Kranken gemäß ist.
In der Frage, wie man mit der seelischen Dimension des Kranken umzugehen hat, sieht von Weizsäcker die entscheidende Aufgabe der Medizin. Davon handelt sein letztes zukunftsweisendes Werk "Die Pathosophie". Mit ihr will er "das Medizinische am Menschen menschlich darstellen", sie kommt einer umfassenden Kritik und Infragestellung der gegebenen wissenschaftlichen Strukturen gleich. Bereits in seinem Vortrag zur "Psychosomatischen Medizin" (1949) hatte sich der Autor für eine anthropologische Psychosomatik starkgemacht. Er verwahrt sich gegen die zeittypische Meinung, das Seelische sei nach Art einer Mechanik zu begreifen. Es gehe nicht an, "in der Psychosomatik auf der somatischen Seite eine hochentwickelte Naturwissenschaft einzusetzen, auf der psychischen sich aber einer Trivialität zu bedienen".
In unseren Zeiten, da der Ökonomismus das Gesundheitswesen dominiert und Fragen der Rentabilität im Vordergrund stehen, sind Anstöße zu einer grundsätzliche Reflexion über Kranksein und Gesundsein wichtiger denn je. In diesem Sinne ist das vorliegende Lesebuch hoch aktuell. Bei aller Zeitgebundenheit der Ausdrucksweise - Weizsäcker bleibt gelegentlich nur schwer erträglich den philosophischen Moden seiner Zeit verhaftet - haben wir es bei diesem Lesebuch mit einer Schrift zu tun, die man Patienten, Ärzten und Gesundheitspolitikern nur wärmstens ans Herz legen kann.
GESINE HINDEMITH
Viktor von Weizsäcker: "Warum wird man krank?" Ein Lesebuch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 341 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2008Mehr als Funktion und Defekt
Die Psychosomatik Viktor von Weizsäckers ist wieder aktuell
In der noch neuen Reihe „medizinHuman” des Suhrkamp Verlags ist ein „Lesebuch” mit Schriften Viktor von Weizsäckers (1886-1957) erschienen. Es ist eine Sammlung recht unterschiedlicher Texte von autobiographischen Anmerkungen über medizinische Fallgeschichten bis zu theoretischen Ausführungen zur medizinischen Anthropologie. Weizsäcker, Onkel des ehemaligen Bundespräsidenten, war Arzt und Gelehrter, Gründungsvater der Psychosomatischen Medizin in Deutschland. Er hat nicht wirklich Schule gemacht, damals, mit seinen Vorstellungen von einem vertieften Verständnis des Menschseins aus dem Kranksein heraus. Zu sehr setzte er sich systematisch zwischen alle Stühle, den Internisten und Neurologen zu psychologisch, den Philosophen zu ärztlich, den Psychoanalytikern zu körperlich.
Der Fortschritt im Verständnis der leib-seelischen Zusammenhänge lässt uns heute allerdings dieselben Probleme wieder schärfer sehen, die Weizsäcker umtrieben: Ist Krankheit, auch körperliche, immer nur sinnloser Defekt der Körpermaschine, oder hat es Sinn, ihrer Bedeutung nachzugehen im Lebenszusammenhang des Individuums, ganz egal, ob es sich um eine Depression handelt, einen Rückenschmerz oder Diabetes? Weizsäcker hat sich immer gewehrt gegen den früher schon modischen, denkfaulen Begriff der „Ganzheitlichkeit”. Stattdessen plädierte er für eine methodisch strenge Erfassung dessen, was an Leben und Krankheit systematisch hinausgeht über schlichte Funktion oder Defekte einzelner Organe. Es ging ihm darum, die zielgerichteten Leistungen zu untersuchen, die der Organismus des Menschen in Gesundheit und Krankheit in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt erbringt, als mehr oder weniger gelingende Anpassung an gegenwärtige Herausforderungen – vom Halten des Gleichgewichts im Schwindel über das Kompensieren eines krankheitsbedingten Defekts bis hin, ganz grundsätzlich, zur Existenzerhellung im Leiden.
Heutige Theorien der Entwicklungspsychophysiologie, der Epigenetik, der Kognitiven, Affektiven und Sozialen Neurowissenschaft belegen, dass diese Anpassungs- und Wechselwirkungsprozesse des Organismus mit seiner Umwelt, wie von Weizsäcker angenommen, wesentlich mitgeprägt sind von seinen früheren Beziehungserfahrungen, also von seiner individuellen Geschichte und keineswegs nur von einem programmierten Bauplan. Die Spuren dieser Beziehungserfahrungen zeigen sich auf psychologischer Ebene; sie zeigen sich aber, das belegen moderne Forschungen im Einklang mit Weizsäckerschen Postulaten, genau so auch körperlich, etwa in der Genomfunktion, der Regulation der Stresshormone oder in der Neuroplastizität.
Anthropologie der Krankheit
Entsprechend ist heute auch die Zuordnung psychosomatischer Krankheiten, die in der Folge von Fehlanpassungen in diesem Prozess entstehen, erneut in der Diskussion: War es vor 100 Jahren ein Fortschritt, angefangen bei der Hysterie Charcots, die psychologischen Anteile bei diesen Erkrankungen zu erkennen, geht es heute darum, sie nicht einfach als „psychogen” zu bezeichnen und ihre Zwischennatur zwischen typisch organischen und psychischen Erkrankungen deutlicher werden zu lassen, zum Beispiel durch Einführung entsprechender Zwischenkategorien in unseren medizinischen Klassifikationssystemen.
Weizsäckers berühmtes Postulat, die „Einführung des Subjekts in die Medizin”, übersetzt sich methodisch in die von ihm sogenannte Gegenseitigkeit im Umgang, heute am ehesten „teilnehmende Beobachtung” genannt. Das ist weit mehr als ein ethisches Postulat zum guten ärztlichen Umgang mit Patienten, es ist, orientiert an der nach-klassischen Physik wie an der Psychoanalyse, eine Aufforderung, auch in der Erforschung der psycho-somatischen Zusammenhänge den Beitrag des Untersuchers systematisch zu berücksichtigen.
Weizsäckers Werk verdient es also, heute mit neuem, keineswegs nur historischem Interesse gelesen zu werden. Die zehnbändige Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen (SZ vom 8. August 2005), hat die Präsenz seines Werks bislang nicht wesentlich erhöht, das gilt auch für die Schriftenreihe der rührigen Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft. Die kluge Zusammenstellung in dem jetzt erschienenen Band, einschließlich der prägnanten Einleitungen zu den einzelnen Texten, könnte daran etwas ändern. Die Nähe der verschiedenen Textsorten untereinander macht es leichter, Korrespondenzen zu erkennen zwischen einer klinischen Fallvorstellung und einer Abhandlung zur medizinischen Anthropologie oder gar zur „Pathosophie”, seinem letzten Werk; die Konzentration auf medizinische Fragen erhöht auch eher die Durchschlagskraft dieses oft als schwer zugänglich erlebten Autors.
Die für den Band titelgebende „Kinderfrage des Warum” kann also durchaus ein aktueller Wegweiser sein für Entdeckungen in Weizsäckers Werk, aber auch für Erkundungen in einem breiteren Feld menschlicher Krankheit, das anthropologisch aufgespannt ist und nicht nur genetisch oder neurowissenschaftllich. PETER HENNINGSEN
VIKTOR VON WEIZSÄCKER: Warum wird man krank? Ein Lesebuch. Hrsg. v. Wilhelm Rimpau, Einführung von Klaus Dörner und W. Rimpau. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008. 341 Seiten, 10 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Die Psychosomatik Viktor von Weizsäckers ist wieder aktuell
In der noch neuen Reihe „medizinHuman” des Suhrkamp Verlags ist ein „Lesebuch” mit Schriften Viktor von Weizsäckers (1886-1957) erschienen. Es ist eine Sammlung recht unterschiedlicher Texte von autobiographischen Anmerkungen über medizinische Fallgeschichten bis zu theoretischen Ausführungen zur medizinischen Anthropologie. Weizsäcker, Onkel des ehemaligen Bundespräsidenten, war Arzt und Gelehrter, Gründungsvater der Psychosomatischen Medizin in Deutschland. Er hat nicht wirklich Schule gemacht, damals, mit seinen Vorstellungen von einem vertieften Verständnis des Menschseins aus dem Kranksein heraus. Zu sehr setzte er sich systematisch zwischen alle Stühle, den Internisten und Neurologen zu psychologisch, den Philosophen zu ärztlich, den Psychoanalytikern zu körperlich.
Der Fortschritt im Verständnis der leib-seelischen Zusammenhänge lässt uns heute allerdings dieselben Probleme wieder schärfer sehen, die Weizsäcker umtrieben: Ist Krankheit, auch körperliche, immer nur sinnloser Defekt der Körpermaschine, oder hat es Sinn, ihrer Bedeutung nachzugehen im Lebenszusammenhang des Individuums, ganz egal, ob es sich um eine Depression handelt, einen Rückenschmerz oder Diabetes? Weizsäcker hat sich immer gewehrt gegen den früher schon modischen, denkfaulen Begriff der „Ganzheitlichkeit”. Stattdessen plädierte er für eine methodisch strenge Erfassung dessen, was an Leben und Krankheit systematisch hinausgeht über schlichte Funktion oder Defekte einzelner Organe. Es ging ihm darum, die zielgerichteten Leistungen zu untersuchen, die der Organismus des Menschen in Gesundheit und Krankheit in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt erbringt, als mehr oder weniger gelingende Anpassung an gegenwärtige Herausforderungen – vom Halten des Gleichgewichts im Schwindel über das Kompensieren eines krankheitsbedingten Defekts bis hin, ganz grundsätzlich, zur Existenzerhellung im Leiden.
Heutige Theorien der Entwicklungspsychophysiologie, der Epigenetik, der Kognitiven, Affektiven und Sozialen Neurowissenschaft belegen, dass diese Anpassungs- und Wechselwirkungsprozesse des Organismus mit seiner Umwelt, wie von Weizsäcker angenommen, wesentlich mitgeprägt sind von seinen früheren Beziehungserfahrungen, also von seiner individuellen Geschichte und keineswegs nur von einem programmierten Bauplan. Die Spuren dieser Beziehungserfahrungen zeigen sich auf psychologischer Ebene; sie zeigen sich aber, das belegen moderne Forschungen im Einklang mit Weizsäckerschen Postulaten, genau so auch körperlich, etwa in der Genomfunktion, der Regulation der Stresshormone oder in der Neuroplastizität.
Anthropologie der Krankheit
Entsprechend ist heute auch die Zuordnung psychosomatischer Krankheiten, die in der Folge von Fehlanpassungen in diesem Prozess entstehen, erneut in der Diskussion: War es vor 100 Jahren ein Fortschritt, angefangen bei der Hysterie Charcots, die psychologischen Anteile bei diesen Erkrankungen zu erkennen, geht es heute darum, sie nicht einfach als „psychogen” zu bezeichnen und ihre Zwischennatur zwischen typisch organischen und psychischen Erkrankungen deutlicher werden zu lassen, zum Beispiel durch Einführung entsprechender Zwischenkategorien in unseren medizinischen Klassifikationssystemen.
Weizsäckers berühmtes Postulat, die „Einführung des Subjekts in die Medizin”, übersetzt sich methodisch in die von ihm sogenannte Gegenseitigkeit im Umgang, heute am ehesten „teilnehmende Beobachtung” genannt. Das ist weit mehr als ein ethisches Postulat zum guten ärztlichen Umgang mit Patienten, es ist, orientiert an der nach-klassischen Physik wie an der Psychoanalyse, eine Aufforderung, auch in der Erforschung der psycho-somatischen Zusammenhänge den Beitrag des Untersuchers systematisch zu berücksichtigen.
Weizsäckers Werk verdient es also, heute mit neuem, keineswegs nur historischem Interesse gelesen zu werden. Die zehnbändige Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, ebenfalls bei Suhrkamp erschienen (SZ vom 8. August 2005), hat die Präsenz seines Werks bislang nicht wesentlich erhöht, das gilt auch für die Schriftenreihe der rührigen Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft. Die kluge Zusammenstellung in dem jetzt erschienenen Band, einschließlich der prägnanten Einleitungen zu den einzelnen Texten, könnte daran etwas ändern. Die Nähe der verschiedenen Textsorten untereinander macht es leichter, Korrespondenzen zu erkennen zwischen einer klinischen Fallvorstellung und einer Abhandlung zur medizinischen Anthropologie oder gar zur „Pathosophie”, seinem letzten Werk; die Konzentration auf medizinische Fragen erhöht auch eher die Durchschlagskraft dieses oft als schwer zugänglich erlebten Autors.
Die für den Band titelgebende „Kinderfrage des Warum” kann also durchaus ein aktueller Wegweiser sein für Entdeckungen in Weizsäckers Werk, aber auch für Erkundungen in einem breiteren Feld menschlicher Krankheit, das anthropologisch aufgespannt ist und nicht nur genetisch oder neurowissenschaftllich. PETER HENNINGSEN
VIKTOR VON WEIZSÄCKER: Warum wird man krank? Ein Lesebuch. Hrsg. v. Wilhelm Rimpau, Einführung von Klaus Dörner und W. Rimpau. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2008. 341 Seiten, 10 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr eingenommen ist Gesine Hindemith von diesem Lesebuch, das eine gute Auswahl der wichtigsten Texte des Neurologen Viktor von Weizsäcker bietet. Neben autobiografischen bietet der Band theoretische Schriften, die medizinische, psychoanalytische, philosophische und theologische Überlegungen und Aspekte integrieren. Weizsäckers Plädoyer für einen anthropologischen Weg in der Medizin, der den Mensch nicht auf ein Objekt reduziert, scheint ihr überaus überzeugend. Sie hebt hervor, dass der Autor das Subjekt in das Arzt-Patienten-Verhältnis wieder einführen und der Therapie die Form einer "biografischen Pathogenese" geben wollte. Erhellend findet sie die medizinisch-philosophischen Überlegungen über den Sinn von Krankheit, die Reflexionen über den Begriff des Verstehens und die Idee des "therapeutischen Gestaltkreises". Hindemith ist sich sicher: Weizsäckers "scharfsinnige Analysen würden das Gesundheitswesen revolutionieren, wenn sie dürften".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Weizsäckers Werk verdient es, heute mit neuem, keineswegs nur historischem Interesse gelesen zu werden. ... Die für den Band titelgebende 'Kinderfrage des Warum' kann also durchaus ein aktueller Wegweiser sein für Entdeckungen in Weizsäckers Werk, aber auch für Erkundungen in einem breiteren Feld menschlicher Krankheit, das anthropologisch aufgespannt ist und nicht nur genetisch oder neurowissenschaftlich.« Peter Henningsen Süddeutsche Zeitung