Der erfolgreiche Autor Karl Heinz Götze kehrt in seinem neuen Buch "Was aus meiner Heimat wurde, als ich lange weg war: Eine Rückkehr nach Deutschland" nach fast vierzig Jahren in seinen Heimatort in der nordhessischen Provinz zurück. Von dort zog es ihn einst als jungen Mann zum Studium nach Frankreich - für ihn damals wie heute ein Land der Verheißungen. Er betrachtet diesen Erinnerungsort, um das Wiedergefundene mit dem Heutigen zu konfrontieren. Wie hat sich das Leben der Familien verändert? Wie hat sich das Verhältnis zu Kindern, wie haben sich die Kindheiten verändert? Hat sich gar die Landschaft gewandelt? Götze schreibt sowohl über das vertraute Gefühl von Heimat als auch das Fremde in ihr. Er beschreibt, wie wir Heimat definieren und wie gesellschaftliche Wandlungsprozesse in den vergangenen Jahrzehnten ihren Stellenwert beeinflusst haben. Karl Heinz Götze blickt unsentimental auf das, was wir Heimat nennen.
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Karl Heinz Götze ist ein feiner Beobachter seiner Heimat. Das Buch eine Zeitreise durch 40 Jahre bundesrepublikanische Wirklichkeit in Nordhessen. Absolut lesenswert. Carola Wittrock Hessischer Rundfunk/Fernsehen 20171028
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2017Zu Raum wird hier die Zeit
Karl Heinz Götze entziffert Deutschland in Hofgeismar
Als Karl Heinz Götze, damals ein Realschüler aus der nordhessischen Kleinstadt Hofgeismar, bei einer Klassenfahrt die "Bild"-Zeitung kaufen wollte, bot sein Lehrer an, den Mehrpreis zu zahlen, falls Götze ein anderes Blatt nähme. Doch der Sohn eines Bahnarbeiters wusste nicht, welche Zeitung er denn statt der "Bild" kaufen sollte, also kaufte er gar keine. Aus dem Realschüler proletarischer Herkunft wurde später ein Germanistikprofessor an der Universität von Aix-en-Provence, der mit seinen Büchern über Paris oder die französischen Meisterköche auch jenseits der Wissenschaft als Mittler zwischen den Nachbarländern wirkte.
Wenn Götze, Jahrgang 1947, erzählt, wie er im Hofgeismar der Nachkriegszeit aufwuchs und wie er die Heimat nun wieder besucht, geht es ihm als Außenstehendem darum, "Deutschland erneut zu entziffern". Autobiographie, Stadtchronik, Familien- und Generationsporträt vereint er dabei zur eigenen Form der Erinnerungsliteratur, indem er sein Buch räumlich statt zeitlich gliedert. Es beginnt mit einem Stadtrundgang und endet auf dem Friedhof. Dazwischen liegen Kapitel über die Wohnräume der Kindheit und die öffentlichen Räume von Spiel, Lernen und Geselligkeit.
Gemessen am selbstgesetzten Ziel der Gegenwartsanalyse ist das Buch misslungen, da Götze sich zu wenig auf die Stadt und ihre Bewohner einlässt. Statt sich etwa genauer anzuschauen, wie Flüchtlinge auf dem einstigen Kasernengelände leben, äußert er pauschale Skepsis: "Kalkulierende Barmherzigkeit verrechnet sich manchmal." Statt mit den Eltern und Kindern von heute zu sprechen, referiert er die Gebühren der Kindergärten. Und in seiner alten Schule beschäftigten ihn die Aushänge: Ein "Fest der Kulturen" stehe an, "obgleich hier auf den ersten Blick nicht eben eine unüberschaubare Vielfalt von Kulturen und Ethnien vertreten ist".
Beim Blick zurück überzeugt Götze dagegen als Erzähler. Die ländliche Lebenswelt, in die er hineinwuchs, rekonstruiert er ohne Beschönigung. Er weiß um die Selbstverständlichkeit, mit der es geduldet wurde, dass ein Gastwirt das Horst-Wessel-Lied sang. Und erinnert sich auch, dass er seinen Vater fast nur beim Abendessen sah. Denn sonst arbeitete der, entweder im Werk der Bahn oder daheim im Garten, der die Familie hauptsächlich ernährte. Götzes Heimatbuch handelt nicht zuletzt von den Gründen, die Heimat hinter sich zu lassen.
Zugleich spiegelt dieses Familienporträt die westdeutsche Modernisierungsgeschichte. Bei Götzes Geburt lebten seine Eltern bei den Großeltern väterlicherseits. Die Wohnung hatte kein Bad, die Toilette war im Treppenhaus, und im Hof gab es noch eine Waschküche für alle Mieter, mit einem großen Kupferkessel, in dem nicht nur die Wäsche gekocht wurde, sondern zur Schlachtzeit auch Wurst. Der Traum der Eltern war ein eigenes Haus, das Grundstück am Stadtrand hatten sie schon. Als das Haus gebaut war, bekam Götze mit zwölf Jahren das erste Mal ein Zimmer für sich. Bald besaß man einen Kühlschrank und eine Waschmaschine, dann ein Auto - Lloyd Alexander, neunzehn PS - und einen Fernseher. Da sei "in ganz kurzer Zeit eine Revolution passiert", resümiert Götze, "und wir waren dabei".
THORSTEN GRÄBE.
Karl Heinz Götze: "Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war". Eine Rückkehr nach Deutschland.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 315 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Heinz Götze entziffert Deutschland in Hofgeismar
Als Karl Heinz Götze, damals ein Realschüler aus der nordhessischen Kleinstadt Hofgeismar, bei einer Klassenfahrt die "Bild"-Zeitung kaufen wollte, bot sein Lehrer an, den Mehrpreis zu zahlen, falls Götze ein anderes Blatt nähme. Doch der Sohn eines Bahnarbeiters wusste nicht, welche Zeitung er denn statt der "Bild" kaufen sollte, also kaufte er gar keine. Aus dem Realschüler proletarischer Herkunft wurde später ein Germanistikprofessor an der Universität von Aix-en-Provence, der mit seinen Büchern über Paris oder die französischen Meisterköche auch jenseits der Wissenschaft als Mittler zwischen den Nachbarländern wirkte.
Wenn Götze, Jahrgang 1947, erzählt, wie er im Hofgeismar der Nachkriegszeit aufwuchs und wie er die Heimat nun wieder besucht, geht es ihm als Außenstehendem darum, "Deutschland erneut zu entziffern". Autobiographie, Stadtchronik, Familien- und Generationsporträt vereint er dabei zur eigenen Form der Erinnerungsliteratur, indem er sein Buch räumlich statt zeitlich gliedert. Es beginnt mit einem Stadtrundgang und endet auf dem Friedhof. Dazwischen liegen Kapitel über die Wohnräume der Kindheit und die öffentlichen Räume von Spiel, Lernen und Geselligkeit.
Gemessen am selbstgesetzten Ziel der Gegenwartsanalyse ist das Buch misslungen, da Götze sich zu wenig auf die Stadt und ihre Bewohner einlässt. Statt sich etwa genauer anzuschauen, wie Flüchtlinge auf dem einstigen Kasernengelände leben, äußert er pauschale Skepsis: "Kalkulierende Barmherzigkeit verrechnet sich manchmal." Statt mit den Eltern und Kindern von heute zu sprechen, referiert er die Gebühren der Kindergärten. Und in seiner alten Schule beschäftigten ihn die Aushänge: Ein "Fest der Kulturen" stehe an, "obgleich hier auf den ersten Blick nicht eben eine unüberschaubare Vielfalt von Kulturen und Ethnien vertreten ist".
Beim Blick zurück überzeugt Götze dagegen als Erzähler. Die ländliche Lebenswelt, in die er hineinwuchs, rekonstruiert er ohne Beschönigung. Er weiß um die Selbstverständlichkeit, mit der es geduldet wurde, dass ein Gastwirt das Horst-Wessel-Lied sang. Und erinnert sich auch, dass er seinen Vater fast nur beim Abendessen sah. Denn sonst arbeitete der, entweder im Werk der Bahn oder daheim im Garten, der die Familie hauptsächlich ernährte. Götzes Heimatbuch handelt nicht zuletzt von den Gründen, die Heimat hinter sich zu lassen.
Zugleich spiegelt dieses Familienporträt die westdeutsche Modernisierungsgeschichte. Bei Götzes Geburt lebten seine Eltern bei den Großeltern väterlicherseits. Die Wohnung hatte kein Bad, die Toilette war im Treppenhaus, und im Hof gab es noch eine Waschküche für alle Mieter, mit einem großen Kupferkessel, in dem nicht nur die Wäsche gekocht wurde, sondern zur Schlachtzeit auch Wurst. Der Traum der Eltern war ein eigenes Haus, das Grundstück am Stadtrand hatten sie schon. Als das Haus gebaut war, bekam Götze mit zwölf Jahren das erste Mal ein Zimmer für sich. Bald besaß man einen Kühlschrank und eine Waschmaschine, dann ein Auto - Lloyd Alexander, neunzehn PS - und einen Fernseher. Da sei "in ganz kurzer Zeit eine Revolution passiert", resümiert Götze, "und wir waren dabei".
THORSTEN GRÄBE.
Karl Heinz Götze: "Was aus der Heimat wurde, während ich lange weg war". Eine Rückkehr nach Deutschland.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 315 S., geb., 22,- [Euro].
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