Doris Runges Lyrik ist für ihre Kürze bekannt, für ihre Kargheit an der Grenze zur Askese. Nun, im achten Band der Dichterin, geht eine spürbare Veränderung durch das Werk: Der Ton wird erzählerischer, die Welten werden größer. Und dennoch schwebt über allem der "vielgeliebte Runge-Sound" (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Der Wechselbezug zwischen Magie und Kalkül bleibt poetisches Programm, ebenso wie die Dichte, in der diese Miniaturen ihre schwebende Anmut entwickeln.
"In ihrer gleichzeitigen Deutlichkeit und flirrenden Ungewissheit liegt die Kraft dieser Lyrik. Jedes Wort ist genau gewählt, dem Sinn verpflichtet und dem Klang abgelauscht." SWR
"In ihrer gleichzeitigen Deutlichkeit und flirrenden Ungewissheit liegt die Kraft dieser Lyrik. Jedes Wort ist genau gewählt, dem Sinn verpflichtet und dem Klang abgelauscht." SWR
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2011Zwischen Tür und Engel
Schwarze Kunst einer Dichterin: Doris Runge erhebt in ihrem neuen Lyrikband die Zweideutigkeit zum Prinzip.
Von Heinrich Detering
Spätestens seit dem vor zehn Jahren erschienenen Band "trittfeste schatten" ist im Schreiben der Lyrikerin Doris Runge eine wachsende Verdunkelung zu bemerken. Zunehmend werden die sanften Lyrismen abgefangen durch eine rigorose Verknappung, durch rasche Wechsel der Stilregister und eine nicht selten sarkastische Ironie. Was immer von neuem als romantisches Rollenzitat beginnt, im lässigen Umgang mit erotischen Erzählmustern und Standardsituationen, das verlässt bald den tragfesten Boden und verschwebt in eine Dunkelheit, in der die Gespenster warten.
"Über die Heide wandert mein Schritt", beginnt ein Gedicht ihres holsteinischen Landsmanns Theodor Storm wohlgemut, und der zweite Vers antwortet: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." Wie sich hier in der genau beobachteten Naturerscheinung, dem Geräusch der Schritte auf dem Heideboden, wie von selbst die Ahnung eines ungewissen Es manifestiert, so drängen sich in Doris Runges bilderseligen und wortkargen Versen aus allen Richtungen die Schatten heran. Wer diese Gedichte zu lesen beginnt, betritt eine Gegend, die an Bekanntes und Vertrautes nur von fern erinnert: entstellte Traumlandschaften, erfüllt von Zauber und Zwielicht. Wer sind diese Mönche, die gleich im ersten Zyklus auf der Suche nach dem heiligen Blut sind, und was für "Knöchelchen" suchen diese Köche? Im Kräutergärtlein, in dem einer der Fratres "die gottlose natur / beschnitt" und, weil zauberkundig, das Himmelreich verspielt hat: da "höre ich ihn jetzt / dicht unter dem rasen".
Wer hier nachts ins Freie geht, verliert leicht den Boden unter den Füßen. Denn "die nacht / das einäugige tier / folgt dem / blutgeruch", und ist der Hof, durch den man läuft, nicht schon "der hof des mondes"? Immer noch, oder schon wieder wird hier das Wetter von Frau Holle gemacht, wachsen nebeneinander "sternentau und / taube nessel", ist Andersens Seejungfrau gefangen "im reich / der unerlösten / froschkönige". Die Märchenwelten, durch die diese Traumpfade führen, sind ausgespannt zwischen Himmel und Hölle; und wer hat gesagt, dass dieses Mittelalter schon vorbei ist?
Doch soviel Vergangenes und Mythisches in diesen Szenerien umgeht, so alltäglich-trivial sind sie auch wieder; und erst dieses Ineinander erzeugt ihre traumhafte Ambivalenz. Was manchmal aussieht wie Mittelerde, ist vielleicht doch bloß "Camperland", und die "schicksalshemden" sind gewoben "von den parzen / aus den billigländern". Dann wieder ist die Aschewolke des Vulkans, die den Flugverkehr lahmlegt, dieselbe, unter der dieses Ich schon "seit jahrhunderten" wartet, als sei die Erdoberfläche der Limbus der unerlösten Seelen - derselben, die auch beim Verkehrsstau nach plötzlichem Wintereinbruch so selbstverständlich sichtbar werden wie für Bruce Willis im Film "The Sixth Sense": "helikopter / fliegen / arme seelen / nach haus". Camperland ist abgebrannt. Bedrohlich treten aus dem Banalen die mythischen Bilder hervor: Nebel legt sich über die Kuhweiden, "das schlachtvieh / trägt schleier / wie bräute".
Auch in ihrem neuen Band bevorzugt Doris Runge jene rhetorische Figur, die in der Rhetorik "Apokoinu" heißt und in der die Zweideutigkeit zum Prinzip wird: die doppelte syntaktische Beziehbarkeit eines Ausdrucks, nicht selten am Rande des Kalauers, balancierend zwischen dem Drolligen und dem Grässlichen. Spaßig ist es, wenn einer der Klosterbrüder versichert, er habe "nie / dem anderen geschlecht bei / gelegen sei ihm einzig an buße"; unheimlich, wenn im "ohrensessel" wieder die verstummten Stimmen hörbar werden ("undercover"). Manchmal geht das schief, aber wenn es gelingt, kann es so entwaffnend dastehen wie das Sterbegedicht, mit dem der Band endet: "zwischen tür und / engel".
Doris Runges Poesie bezieht ihre suggestive Kraft aus den kalkulierten Unschärfezonen: als habe man das Entscheidende, alle Rätsel Lösende gerade eben im Augenwinkel wahrgenommen, und als sei es mit dem neugierigen Hinsehen blitzartig verschwunden. In den besten Gedichten gelingt das unangestrengt, nämlich lakonisch. Mit jedem weiteren Wort aber droht der Zauber zu verfliegen. Wenn irgendwo, dann ist hier die große Kunst angewiesen auf die kleine Form. Weil ihr Prinzip die Verkürzung ist, in der die Zeichen vieldeutig werden und sich von jedem Wort aus die Wege verzweigen, deshalb erlauben diese Gedichte keinen langen Atem. Wo die Kurzgedichte sich zu kleinen Zyklen fügen, da gewinnen sie etwas zwanglos Narratives. Geht es aber über eine Druckseite hinaus, löst die Prägnanz sich auf in Detailadditionen oder ins Ungefähr. Das bleibt die Ausnahme. Mit jedem Band deutlicher zeigt sich, dass Doris Runges Gedichte "romantisch" nur im spukhaftesten Sinne des Wortes sind: Bannflüche, Segensformeln, Zaubersprüche. Ein Hexenkessel ist dieser schmale Band. Und es gehört schon zu seiner schwarzen Kunst, dass er so unschuldig aussieht wie Meißner Porzellan.
Doris Runge: "Was da auftaucht". Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 90 S., geb., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schwarze Kunst einer Dichterin: Doris Runge erhebt in ihrem neuen Lyrikband die Zweideutigkeit zum Prinzip.
Von Heinrich Detering
Spätestens seit dem vor zehn Jahren erschienenen Band "trittfeste schatten" ist im Schreiben der Lyrikerin Doris Runge eine wachsende Verdunkelung zu bemerken. Zunehmend werden die sanften Lyrismen abgefangen durch eine rigorose Verknappung, durch rasche Wechsel der Stilregister und eine nicht selten sarkastische Ironie. Was immer von neuem als romantisches Rollenzitat beginnt, im lässigen Umgang mit erotischen Erzählmustern und Standardsituationen, das verlässt bald den tragfesten Boden und verschwebt in eine Dunkelheit, in der die Gespenster warten.
"Über die Heide wandert mein Schritt", beginnt ein Gedicht ihres holsteinischen Landsmanns Theodor Storm wohlgemut, und der zweite Vers antwortet: "Dumpf aus der Erde wandert es mit." Wie sich hier in der genau beobachteten Naturerscheinung, dem Geräusch der Schritte auf dem Heideboden, wie von selbst die Ahnung eines ungewissen Es manifestiert, so drängen sich in Doris Runges bilderseligen und wortkargen Versen aus allen Richtungen die Schatten heran. Wer diese Gedichte zu lesen beginnt, betritt eine Gegend, die an Bekanntes und Vertrautes nur von fern erinnert: entstellte Traumlandschaften, erfüllt von Zauber und Zwielicht. Wer sind diese Mönche, die gleich im ersten Zyklus auf der Suche nach dem heiligen Blut sind, und was für "Knöchelchen" suchen diese Köche? Im Kräutergärtlein, in dem einer der Fratres "die gottlose natur / beschnitt" und, weil zauberkundig, das Himmelreich verspielt hat: da "höre ich ihn jetzt / dicht unter dem rasen".
Wer hier nachts ins Freie geht, verliert leicht den Boden unter den Füßen. Denn "die nacht / das einäugige tier / folgt dem / blutgeruch", und ist der Hof, durch den man läuft, nicht schon "der hof des mondes"? Immer noch, oder schon wieder wird hier das Wetter von Frau Holle gemacht, wachsen nebeneinander "sternentau und / taube nessel", ist Andersens Seejungfrau gefangen "im reich / der unerlösten / froschkönige". Die Märchenwelten, durch die diese Traumpfade führen, sind ausgespannt zwischen Himmel und Hölle; und wer hat gesagt, dass dieses Mittelalter schon vorbei ist?
Doch soviel Vergangenes und Mythisches in diesen Szenerien umgeht, so alltäglich-trivial sind sie auch wieder; und erst dieses Ineinander erzeugt ihre traumhafte Ambivalenz. Was manchmal aussieht wie Mittelerde, ist vielleicht doch bloß "Camperland", und die "schicksalshemden" sind gewoben "von den parzen / aus den billigländern". Dann wieder ist die Aschewolke des Vulkans, die den Flugverkehr lahmlegt, dieselbe, unter der dieses Ich schon "seit jahrhunderten" wartet, als sei die Erdoberfläche der Limbus der unerlösten Seelen - derselben, die auch beim Verkehrsstau nach plötzlichem Wintereinbruch so selbstverständlich sichtbar werden wie für Bruce Willis im Film "The Sixth Sense": "helikopter / fliegen / arme seelen / nach haus". Camperland ist abgebrannt. Bedrohlich treten aus dem Banalen die mythischen Bilder hervor: Nebel legt sich über die Kuhweiden, "das schlachtvieh / trägt schleier / wie bräute".
Auch in ihrem neuen Band bevorzugt Doris Runge jene rhetorische Figur, die in der Rhetorik "Apokoinu" heißt und in der die Zweideutigkeit zum Prinzip wird: die doppelte syntaktische Beziehbarkeit eines Ausdrucks, nicht selten am Rande des Kalauers, balancierend zwischen dem Drolligen und dem Grässlichen. Spaßig ist es, wenn einer der Klosterbrüder versichert, er habe "nie / dem anderen geschlecht bei / gelegen sei ihm einzig an buße"; unheimlich, wenn im "ohrensessel" wieder die verstummten Stimmen hörbar werden ("undercover"). Manchmal geht das schief, aber wenn es gelingt, kann es so entwaffnend dastehen wie das Sterbegedicht, mit dem der Band endet: "zwischen tür und / engel".
Doris Runges Poesie bezieht ihre suggestive Kraft aus den kalkulierten Unschärfezonen: als habe man das Entscheidende, alle Rätsel Lösende gerade eben im Augenwinkel wahrgenommen, und als sei es mit dem neugierigen Hinsehen blitzartig verschwunden. In den besten Gedichten gelingt das unangestrengt, nämlich lakonisch. Mit jedem weiteren Wort aber droht der Zauber zu verfliegen. Wenn irgendwo, dann ist hier die große Kunst angewiesen auf die kleine Form. Weil ihr Prinzip die Verkürzung ist, in der die Zeichen vieldeutig werden und sich von jedem Wort aus die Wege verzweigen, deshalb erlauben diese Gedichte keinen langen Atem. Wo die Kurzgedichte sich zu kleinen Zyklen fügen, da gewinnen sie etwas zwanglos Narratives. Geht es aber über eine Druckseite hinaus, löst die Prägnanz sich auf in Detailadditionen oder ins Ungefähr. Das bleibt die Ausnahme. Mit jedem Band deutlicher zeigt sich, dass Doris Runges Gedichte "romantisch" nur im spukhaftesten Sinne des Wortes sind: Bannflüche, Segensformeln, Zaubersprüche. Ein Hexenkessel ist dieser schmale Band. Und es gehört schon zu seiner schwarzen Kunst, dass er so unschuldig aussieht wie Meißner Porzellan.
Doris Runge: "Was da auftaucht". Gedichte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 90 S., geb., 14,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Motive romantischer Dichtung tauchen in diesem jüngsten Band der Lyrikerin Doris Runge wie auch in den vorangehenden auf. Es setzt sich, meint der Rezensent Heinrich Detering, eine Tendenz zur Verdüsterung dieser Motive dabei fort. Als besonderes Stilmerkmal der Autorin erkennt er Satzkonstruktionen "Apokoinu? - also den doppelten Einsatz eines einzelnen Worts als Scharnier zwischen zwei Sätzen wie hier, wenn ein Klosterbruder sagt, er habe "nie / dem anderen geschlecht bei / gelegen sei ihm einzig an buße?. Bezeichnend sei diese Stilfigur wiederum deshalb, weil es Runge grundsätzlich um die Schaffung von "Unschärfezonen? gehe. Meist gelinge das, besonders auf der kürzeren Strecke. In den Gedichten von mehr als einer Seite Länge zeige sich dann aber, dass ein solches Konzept vor allem in der Knappheit und Konzentration aufgeht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Um es gleich zu sagen: Die Gedichte von Doris Runge sind große Kunst." Deutschlandfunk