Es ist eine gefährliche Frage, die bereits den Keim einer Eifersucht enthält: Wie war das eigentlich mit dir, bevor wir uns kannten? Die beiden sind seit Kurzem ein Paar, und sie stellt ihm jene Frage. Seine Antwort wird zu einem Gespinst aus Wahrheit und Dichtung, einem wahren Lügenpalast, errichtet aus soliden Bausteinen von Wirklichkeit. Auf der Bühne Frankfurts inszeniert Martin Mosebach, mit detektivischer Genauigkeit und meisterhafter Sprachkunst, ein böses Spiel von Liebe und Zufall.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.10.2010Die Nougathaftigkeit der Prosa
Martin Mosebach: Ist er ein Dichter, ein Schwätzer, eine wohlduftende Wolke in kosmischer Nacht? Fragen an seinen Roman "Was davor geschah"
Es ist keine Amsel und keine Meise, die den Ton angibt, und auch kein Kakadu, der kommt erst später. Es ist tatsächlich eine Nachtigall. Sie singt dem Ich-Erzähler ihr Lied, und Martin Mosebach, der unermüdliche Artenschützer der deutschen Sprache, singt mit, so schön er kann: "Jetzt erst eröffnete sich mir in ganzer Fülle das Wort ,Gurgel'. Die Nachtigall war ganz Gurgel, und aus dieser Gurgel sprudelte es und schluchzte es, gurrte und jubelte es in kühnen Läufen, die zu Koloraturen wurden und in sattem Schnarren wie aus dem Inneren einer feuervergoldeten Pendule endeten." Mit großer Unerschrockenheit vor dem Staub, der auf seinem Motiv liegt, bewirbt sich Mosebach um einen Platz im Kanon deutscher Nachtigall-Dichtung. Da darf es ruhig mal metaphysisch werden: "Sie sang wie ein Stern strahlt in der kosmisch leeren Nacht."
Der Büchnerpreisträger Mosebach ist ein bekennender Konservativer, seine Koketterie, sich selbst als "Reaktionär" zu inszenieren, ist so notorisch wie sein Manierismus, und auch diesmal verliert er keine Zeit, den Leser in seine sorgfältig kalkulierte Prosa zu wickeln. "Musikalische Introduktion" heißt das Nachtigall-Kapitel, und natürlich hat diese Ouvertüre vor allem die Funktion, unmissverständlich den mosebachschen Sound anzustimmen, jenes anachronistische Gedudel also, mit welchem die Zumutungen der Moderne übertönt werden sollen. Wie der Baum, der der Nachtigall eine Heimat ist, ragt Mosebachs Sprache "aus einer vergangenen Ländlichkeit in die städtische Gegenwart" hinein, und zwar so stilecht, dass man sofort die Möglichkeit verwirft, es könne sich bei den Ereignissen und Menschen, von denen sie erzählt, auch nur um ferne Zeitgenossen handeln. Was für ein Schock, als durch die Frankfurter Nachkriegsidylle mit "Bierlokal" und Messingtäfelchen an der Tür dann plötzlich die U-Bahn donnert. Und Handys klingeln - auch wenn sie hier "Mobiltelephone" heißen. Und spätestens, wenn es auf dem "Sopha" zur Sache geht, scheint die parodistische Absicht evident. Leider kommt weit und breit kein Narr, der sich die Maske vom Gesicht reißt und freut, wie sehr ihm alle auf den Leim gegangen sind.
Natürlich darf man nicht übersehen, dass es sich bei Mosebachs Preziosen auch einfach um Rollenprosa handeln könnte, um den Jargon jener merkwürdigen Gesellschaft also, in die der namenlose Ich-Erzähler uns einführt. Er tut das, indem er seiner momentanen Geliebten die Frage beantwortet: "Wie war das . . .? Als es mich noch nicht gab?" Zuerst war da nicht viel: Der Erzähler ist gerade nach Frankfurt gezogen, sitzt in seiner neuen Wohnung, ekelt sich vor den Pizzakartons und Billigweinflaschen vor der Tür seines geheimnisvollen Nachbarn, bläst "sogar ein wenig Trübsal" und hört die "Zeit geradezu tropfen" . . .
Als dann genug Zeit vorbeigetropft ist, gerät er durch eine Zufallseinladung in die besseren Kreise des Frankfurter Bürgertums. Auf den Gartenpartys des Ehepaars Bernward und Rosemarie Hopsten in einem Villenvorort im Taunus versammelt sich jeden Sonntagnachmittag ein müdes Ensemble von Weißweintrinkern um den schwarz gekachelten Swimmingpool: der egomanische Minister Schmidt-Flex samt Gattin, deren sich seiner eigenen Erbärmlichkeit bewusste Sohn Hans-Jörg und dessen hübsche brasilianische Frau Silvi, die Hopsten-Kinder mit den etwas überambitionierten Namen Titus und Phoebe, der libanesisch-österreichische Geschäftspartner namens Joseph Salam, ein dicklicher Mann mit einem Faible für zu enge Anzüge; und schließlich Rosemaries kaftantragende Stilberaterin Helga Stolzier, hinten wie Bier auszusprechen. Die "Seele des Hauses" aber ist ein weißer Kakadu, eine Mischung aus Familienmitglied und Einrichtungsgegenstand, der im Verlauf des Buches als eine Art narrative Alarmanlage fungiert, indem er mit irgendeinem Aufplustern oder Herumhacken auch noch die unaufmerksamsten Leser auf besonders schicksalhafte Momente hinweist.
Wenn es ihm darum ginge, seine Figuren als gut erhaltene Exemplare einer vom Aussterben bedrohten Bourgeoisie zu präsentieren, dann wäre Mosebachs unzeitgemäße Sprache vielleicht ja noch das passende Mittel, um die kultivierte Langeweile des Milieus zu reflektieren. Spektakulär stumpf ist das Leben dieser Gesellschaft, selbst die erwartbaren Affären, die die eingerosteten Verhältnisse zum Einsturz bringen, bleiben merkwürdig leidenschaftslos. "Das Schöne an den Hopstenschen Sonntagen war, dass sich bei ihnen die Generationen mischten", schwärmt der Erzähler, wobei es das Erfolgsrezept des gelungenen Aufeinandertreffens zu sein scheint, dass sich der Muff bis in die jüngste Generation gehalten hat. Rosemaries "erfrischende Offenheit" als Gastgeberin ist möglich, weil sie sich auf das Funktionieren der "gesellschaftlichen Auswahlmechanismen" verlassen kann.
Die Reinheit und Verlässlichkeit der Konventionen wirkt kurios, und es ist eben dann doch auch Mosebachs museale Sprache, die seinen scheintoten Figuren ein Glaubwürdigkeitsproblem einhandelt. Es mag ja sein, dass die tristen Rituale eines bundesrepublikanischen Spießertums in irgendeiner Geländefalte des Taunus so unbeschädigt überlebt haben. Doch weil man es in München, Dresden oder Berlin dann doch nicht so recht fassen kann, was das alles für seltsame Vögel sind, wäre es hilfreich, wenn nicht auch noch der Ethnologe im Idiom seiner Studienobjekte spräche. Was bleibt, ist der Verdacht, dass es sich bei dem Holz, aus dem Mosebachs Gartengesellschaft geschnitzt ist, am Ende doch nur um das Imitat handelt, aus dem seine Prosa gemacht ist. Deshalb muss man die Kritik an seinem Manierismus, die viele für geschmäcklerisch, wenn nicht für ideologisch halten (was sie ganz sicher manchmal auch ist), dann eben doch auch literarischer gelten lassen: Es sind ja nicht die politische Einstellung und der parfümierte Auftritt ihres Autors, worunter die Figuren leiden, es ist die Blasiertheit seiner Sprache.
Natürlich sind all diese Statuetten im kunsthandwerklichen Sinne meisterhaft gemacht. Der Patriarch Schmidt-Flex etwa, und sein Talent, ",Zurückstufungen', wie er das nannte, so beiläufig anzubringen, dass sie außer vom Betroffenen schon kaum mehr als verletzend wahrgenommen wurden"; die ästhetisch hilflose Rosemarie, deren einziger Lebensinhalt der Erwerb dekorativen Tands zu sein scheint; und vor allem Hans-Jörg, der junge Schmidt-Flex, den alle Welt auf Anhieb unsympathisch findet, den man in seiner phänomenalen Würstchenhaftigkeit aber am Ende nicht mehr missen möchte. So einen wunderbaren Versager gab es tatsächlich selten in der deutschen Literatur. Ausgerechnet diese chronisch und schließlich auch akut gedemütigte Figur ist die einzige, die am Ende eine gewisse Lockerheit entwickeln kann, wenn auch aus reiner Verzweiflung. "Unversehens" ereilt ihn die Einsicht, "dass ihm etwas Schlimmes im Leben nie mehr drohen könne, da das Allerschlimmste, dies Leben selbst, bereits eingetreten sei. Dies war aber keine schwarze Einsicht, sondern eine, die ihn . . . geradezu mit Vergnügen erfüllte. Was als Bilanz niederziehend hätte klingen können, war ja zugleich mit einem immensen Gewinn an Freiheit verbunden. Da gab es einfach nichts mehr, das hätte befürchtet werden müssen."
Wenn Mosebach im Lauf des Romans seiner Schnörkel ein wenig überdrüssig wird, zeigt er, was für ein präziser Zyniker er sein kann. Umso unangenehmer ist es, wenn sich seine schwülstige Fabulierwut an Phänomenen versucht, die ihr naturgemäß fremd sind, an technischen Innovationen zum Beispiel, an längst dekonstruierten Dichotomien oder einfach an der Beschreibung von Frauen, von der man nicht genau sagen kann, ob sie noch verklemmt oder schon misogyn ist: Da bewundert der Ich-Erzähler die junge Phoebe zuerst als "Apfelfrische" und als "Perle im Schweinekoben" und fragt sich dann, "wer wohl Rechte auf sie besitzen mochte?". Aber was soll man schon erwarten von einer Welt, in welcher Ritterlichkeit die höchste Tugend zu sein scheint.
Besonders vergeblich wirken Mosebachs stilistische Fleißarbeiten, wenn sie Beobachtungen veranschaulichen wollen, die man nur noch für originell halten kann, wenn man sie durch das Monokel der klassischen Philosophie betrachtet statt durch die Brille zeitgenössischen Denkens. Die Erkenntnis etwa, dass ein Mensch erst in der Rolle, die er täglich spielt, er selbst ist, gehört längst zu den Merksprüchen der Postmoderne. Aber wenn Mosebach schon einmal in sein Schminkkästchen greift, dann will er auch zeigen, was drin ist: Seitenlang beschreibt er Rosemaries Schminkprozedur, nur um dann prophetisch zu verkünden: "Die Fassade sollte niemanden beeindrucken, sie diente der Vervollständigung ihrer Person - so sah sie eben aus, das war sie."
Womöglich aber ist die Szene als Schlüssel zum Verständnis Mosebachs durchaus interessant: Denn im Prinzip beschreibt er darin sein eigenes literarisches Konzept: die "Neigung zu einer gewissen Schwere", das "zarte, sehr kunstvolle Malen", das Nachzeichnen der Konturen "mit Rotstift" und "danach mit hellroter Farbpaste, die Rosemarie in ihrer Nougathaftigkeit gut schmeckte, dick opak eingesalbt", und natürlich das feierliche Einparfümieren zum Schluss mit einer "wohlduftenden Wolke": "Dies alles bin ich, sagte das Duften."
Man muss sich Martin Mosebach, den Reaktionär, als schwanenflaumquastenschwingende Dame vorstellen.
HARALD STAUN
Martin Mosebach: "Was davor geschah". Hanser, 332 Seiten, 21,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Mosebach: Ist er ein Dichter, ein Schwätzer, eine wohlduftende Wolke in kosmischer Nacht? Fragen an seinen Roman "Was davor geschah"
Es ist keine Amsel und keine Meise, die den Ton angibt, und auch kein Kakadu, der kommt erst später. Es ist tatsächlich eine Nachtigall. Sie singt dem Ich-Erzähler ihr Lied, und Martin Mosebach, der unermüdliche Artenschützer der deutschen Sprache, singt mit, so schön er kann: "Jetzt erst eröffnete sich mir in ganzer Fülle das Wort ,Gurgel'. Die Nachtigall war ganz Gurgel, und aus dieser Gurgel sprudelte es und schluchzte es, gurrte und jubelte es in kühnen Läufen, die zu Koloraturen wurden und in sattem Schnarren wie aus dem Inneren einer feuervergoldeten Pendule endeten." Mit großer Unerschrockenheit vor dem Staub, der auf seinem Motiv liegt, bewirbt sich Mosebach um einen Platz im Kanon deutscher Nachtigall-Dichtung. Da darf es ruhig mal metaphysisch werden: "Sie sang wie ein Stern strahlt in der kosmisch leeren Nacht."
Der Büchnerpreisträger Mosebach ist ein bekennender Konservativer, seine Koketterie, sich selbst als "Reaktionär" zu inszenieren, ist so notorisch wie sein Manierismus, und auch diesmal verliert er keine Zeit, den Leser in seine sorgfältig kalkulierte Prosa zu wickeln. "Musikalische Introduktion" heißt das Nachtigall-Kapitel, und natürlich hat diese Ouvertüre vor allem die Funktion, unmissverständlich den mosebachschen Sound anzustimmen, jenes anachronistische Gedudel also, mit welchem die Zumutungen der Moderne übertönt werden sollen. Wie der Baum, der der Nachtigall eine Heimat ist, ragt Mosebachs Sprache "aus einer vergangenen Ländlichkeit in die städtische Gegenwart" hinein, und zwar so stilecht, dass man sofort die Möglichkeit verwirft, es könne sich bei den Ereignissen und Menschen, von denen sie erzählt, auch nur um ferne Zeitgenossen handeln. Was für ein Schock, als durch die Frankfurter Nachkriegsidylle mit "Bierlokal" und Messingtäfelchen an der Tür dann plötzlich die U-Bahn donnert. Und Handys klingeln - auch wenn sie hier "Mobiltelephone" heißen. Und spätestens, wenn es auf dem "Sopha" zur Sache geht, scheint die parodistische Absicht evident. Leider kommt weit und breit kein Narr, der sich die Maske vom Gesicht reißt und freut, wie sehr ihm alle auf den Leim gegangen sind.
Natürlich darf man nicht übersehen, dass es sich bei Mosebachs Preziosen auch einfach um Rollenprosa handeln könnte, um den Jargon jener merkwürdigen Gesellschaft also, in die der namenlose Ich-Erzähler uns einführt. Er tut das, indem er seiner momentanen Geliebten die Frage beantwortet: "Wie war das . . .? Als es mich noch nicht gab?" Zuerst war da nicht viel: Der Erzähler ist gerade nach Frankfurt gezogen, sitzt in seiner neuen Wohnung, ekelt sich vor den Pizzakartons und Billigweinflaschen vor der Tür seines geheimnisvollen Nachbarn, bläst "sogar ein wenig Trübsal" und hört die "Zeit geradezu tropfen" . . .
Als dann genug Zeit vorbeigetropft ist, gerät er durch eine Zufallseinladung in die besseren Kreise des Frankfurter Bürgertums. Auf den Gartenpartys des Ehepaars Bernward und Rosemarie Hopsten in einem Villenvorort im Taunus versammelt sich jeden Sonntagnachmittag ein müdes Ensemble von Weißweintrinkern um den schwarz gekachelten Swimmingpool: der egomanische Minister Schmidt-Flex samt Gattin, deren sich seiner eigenen Erbärmlichkeit bewusste Sohn Hans-Jörg und dessen hübsche brasilianische Frau Silvi, die Hopsten-Kinder mit den etwas überambitionierten Namen Titus und Phoebe, der libanesisch-österreichische Geschäftspartner namens Joseph Salam, ein dicklicher Mann mit einem Faible für zu enge Anzüge; und schließlich Rosemaries kaftantragende Stilberaterin Helga Stolzier, hinten wie Bier auszusprechen. Die "Seele des Hauses" aber ist ein weißer Kakadu, eine Mischung aus Familienmitglied und Einrichtungsgegenstand, der im Verlauf des Buches als eine Art narrative Alarmanlage fungiert, indem er mit irgendeinem Aufplustern oder Herumhacken auch noch die unaufmerksamsten Leser auf besonders schicksalhafte Momente hinweist.
Wenn es ihm darum ginge, seine Figuren als gut erhaltene Exemplare einer vom Aussterben bedrohten Bourgeoisie zu präsentieren, dann wäre Mosebachs unzeitgemäße Sprache vielleicht ja noch das passende Mittel, um die kultivierte Langeweile des Milieus zu reflektieren. Spektakulär stumpf ist das Leben dieser Gesellschaft, selbst die erwartbaren Affären, die die eingerosteten Verhältnisse zum Einsturz bringen, bleiben merkwürdig leidenschaftslos. "Das Schöne an den Hopstenschen Sonntagen war, dass sich bei ihnen die Generationen mischten", schwärmt der Erzähler, wobei es das Erfolgsrezept des gelungenen Aufeinandertreffens zu sein scheint, dass sich der Muff bis in die jüngste Generation gehalten hat. Rosemaries "erfrischende Offenheit" als Gastgeberin ist möglich, weil sie sich auf das Funktionieren der "gesellschaftlichen Auswahlmechanismen" verlassen kann.
Die Reinheit und Verlässlichkeit der Konventionen wirkt kurios, und es ist eben dann doch auch Mosebachs museale Sprache, die seinen scheintoten Figuren ein Glaubwürdigkeitsproblem einhandelt. Es mag ja sein, dass die tristen Rituale eines bundesrepublikanischen Spießertums in irgendeiner Geländefalte des Taunus so unbeschädigt überlebt haben. Doch weil man es in München, Dresden oder Berlin dann doch nicht so recht fassen kann, was das alles für seltsame Vögel sind, wäre es hilfreich, wenn nicht auch noch der Ethnologe im Idiom seiner Studienobjekte spräche. Was bleibt, ist der Verdacht, dass es sich bei dem Holz, aus dem Mosebachs Gartengesellschaft geschnitzt ist, am Ende doch nur um das Imitat handelt, aus dem seine Prosa gemacht ist. Deshalb muss man die Kritik an seinem Manierismus, die viele für geschmäcklerisch, wenn nicht für ideologisch halten (was sie ganz sicher manchmal auch ist), dann eben doch auch literarischer gelten lassen: Es sind ja nicht die politische Einstellung und der parfümierte Auftritt ihres Autors, worunter die Figuren leiden, es ist die Blasiertheit seiner Sprache.
Natürlich sind all diese Statuetten im kunsthandwerklichen Sinne meisterhaft gemacht. Der Patriarch Schmidt-Flex etwa, und sein Talent, ",Zurückstufungen', wie er das nannte, so beiläufig anzubringen, dass sie außer vom Betroffenen schon kaum mehr als verletzend wahrgenommen wurden"; die ästhetisch hilflose Rosemarie, deren einziger Lebensinhalt der Erwerb dekorativen Tands zu sein scheint; und vor allem Hans-Jörg, der junge Schmidt-Flex, den alle Welt auf Anhieb unsympathisch findet, den man in seiner phänomenalen Würstchenhaftigkeit aber am Ende nicht mehr missen möchte. So einen wunderbaren Versager gab es tatsächlich selten in der deutschen Literatur. Ausgerechnet diese chronisch und schließlich auch akut gedemütigte Figur ist die einzige, die am Ende eine gewisse Lockerheit entwickeln kann, wenn auch aus reiner Verzweiflung. "Unversehens" ereilt ihn die Einsicht, "dass ihm etwas Schlimmes im Leben nie mehr drohen könne, da das Allerschlimmste, dies Leben selbst, bereits eingetreten sei. Dies war aber keine schwarze Einsicht, sondern eine, die ihn . . . geradezu mit Vergnügen erfüllte. Was als Bilanz niederziehend hätte klingen können, war ja zugleich mit einem immensen Gewinn an Freiheit verbunden. Da gab es einfach nichts mehr, das hätte befürchtet werden müssen."
Wenn Mosebach im Lauf des Romans seiner Schnörkel ein wenig überdrüssig wird, zeigt er, was für ein präziser Zyniker er sein kann. Umso unangenehmer ist es, wenn sich seine schwülstige Fabulierwut an Phänomenen versucht, die ihr naturgemäß fremd sind, an technischen Innovationen zum Beispiel, an längst dekonstruierten Dichotomien oder einfach an der Beschreibung von Frauen, von der man nicht genau sagen kann, ob sie noch verklemmt oder schon misogyn ist: Da bewundert der Ich-Erzähler die junge Phoebe zuerst als "Apfelfrische" und als "Perle im Schweinekoben" und fragt sich dann, "wer wohl Rechte auf sie besitzen mochte?". Aber was soll man schon erwarten von einer Welt, in welcher Ritterlichkeit die höchste Tugend zu sein scheint.
Besonders vergeblich wirken Mosebachs stilistische Fleißarbeiten, wenn sie Beobachtungen veranschaulichen wollen, die man nur noch für originell halten kann, wenn man sie durch das Monokel der klassischen Philosophie betrachtet statt durch die Brille zeitgenössischen Denkens. Die Erkenntnis etwa, dass ein Mensch erst in der Rolle, die er täglich spielt, er selbst ist, gehört längst zu den Merksprüchen der Postmoderne. Aber wenn Mosebach schon einmal in sein Schminkkästchen greift, dann will er auch zeigen, was drin ist: Seitenlang beschreibt er Rosemaries Schminkprozedur, nur um dann prophetisch zu verkünden: "Die Fassade sollte niemanden beeindrucken, sie diente der Vervollständigung ihrer Person - so sah sie eben aus, das war sie."
Womöglich aber ist die Szene als Schlüssel zum Verständnis Mosebachs durchaus interessant: Denn im Prinzip beschreibt er darin sein eigenes literarisches Konzept: die "Neigung zu einer gewissen Schwere", das "zarte, sehr kunstvolle Malen", das Nachzeichnen der Konturen "mit Rotstift" und "danach mit hellroter Farbpaste, die Rosemarie in ihrer Nougathaftigkeit gut schmeckte, dick opak eingesalbt", und natürlich das feierliche Einparfümieren zum Schluss mit einer "wohlduftenden Wolke": "Dies alles bin ich, sagte das Duften."
Man muss sich Martin Mosebach, den Reaktionär, als schwanenflaumquastenschwingende Dame vorstellen.
HARALD STAUN
Martin Mosebach: "Was davor geschah". Hanser, 332 Seiten, 21,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.08.2010Das Duett von Kuckuck und Nachtigall
Ein Porträt der Frankfurter Gesellschaft, nachgeschärft und zum Funkeln gebracht: Martin Mosebachs neuer Roman „Was davor geschah“
Die Moderne und was ihr gefolgt ist mögen keine Nachtigallen. Das ist bedauerlich, denn die Nachtigallen treiben ihr Wesen wie eh und je. Der Rezensent erinnert sich seines Germanistik-Studiums an der Würzburger Universität, einem Neubaukomplex der Siebziger hoch über der Stadt inmitten eines ausgedehnten Buschgeländes, aus dem heraus die Nachtigallen im Mai am hellen Tag schlugen, die Fenster waren wegen der Wärme geöffnet, der Gesang strömte herein – und keiner der Anwesenden, weder Dozent noch Studenten, nahmen ihn zur Kenntnis, denn Thema war ja die Literatur des 19. Jahrhunderts und nicht die tönende Gegenwart des Frühlings. Hier klaffte offenbar eine Lücke in der Ganzheit der Welt.
In diese Lücke stößt der Romancier Martin Mosebach vor. Er gilt als konservativer Autor, zweifellos zurecht, soweit man sich unter einem Konservativen jemanden vorstellt, der überlieferte Perzeptions- und Gestaltungsmuster ins je Heutige herüberholt und in neuen Situationen fruchtbar macht. Die Nachtigall hat größere Ausdauer als die inzwischen überholte klassische Moderne bewiesen; doch da man mit ihr nicht mehr rechnet, kommt sie heute, wo sie auftritt, als Überraschung daher.
Sie darf Mosebachs neues Buch emblematisch eröffnen und hört sich so an: „Sie hat einen Alt, dachte ich, wie man über eine Sängerin spricht. Und wirklich war dies Flöten nicht mit der Hervorbringung eines Musikinstruments aus Holz oder Silber vergleichbar, obwohl es so rein klang, so ungemischt und schlackenlos, wie man das mit einer Mechanik, einem Apparat verbindet. Aber man hat gewissen Sängerinnen nicht umsonst den Ruhmesnamen einer Nachtigall verliehen, das bestätigte sich jetzt. Eine bestimmte äußerst künstliche und kunstvolle Gesangstechnik des neunzehnten Jahrhunderts, inzwischen gänzlich aus den Opernhäusern verschwunden, zum letzten Mal vielleicht von Adelina Galli-Curci beherrscht, war ohne Zweifel vom Nachtigallengesang inspiriert. Töne, von denen man nicht glauben kann, dass sie von menschlichen Lippen, Zungen, Zähnen, Gaumen und Kehlen gebildet werden, sondern die als glattgeschliffene, zarte Körper im Menschenleib wohnen und ihn zuweilen wie ein Schwarm silberner Fische mit dem Atem zu verlassen scheinen, während die Sängerin selbst in verzauberter Unbeweglichkeit dies tönende Wunder bestaunt. Jetzt erst eröffnete sich mir in ganzer Fülle das Wort ,Gurgel‘. Die Nachtigall war ganz Gurgel, und aus dieser Gurgel sprudelte und schluchzte es, gurrte und jubelte es in kühnen Läufen, die zu Koloraturen wurden und in sattem Schnarren wie aus dem Innern einer feuervergoldeten Pendule endeten.“
Das musste in solcher Ausführlichkeit zitiert werden, denn es gehört zur Eigenart dieses Autors, dass er sich für seine Mitteilungen Zeit nimmt. Die Sängerin Galli-Curci braucht man nicht zu kennen, sie wird nicht als Spielstein der Bildungs-Distinktion eingesetzt. Vielmehr dient der Vergleich dem wechselseitigen Kompliment, er bezieht Sängerin und Vogel aufeinander, indem er sie beide ehrt: So schließt Mosebach die Kluft von Natur und Kunst. Er schafft Welt in einem Akt der Höflichkeit, aufmerksam im doppelten Sinn des Worts.
Was im Roman passiert, lässt sich, so komplex die Verwicklungen im Einzelnen laufen, doch knapp zusammenfassen. Der Ich-Erzähler kommt fremd nach Frankfurt am Main, gerät dort mehr oder weniger zufällig in den Kreis der begüterten bürgerlichen Familie Hopsten, die am Wochenende zwanglose Zusammenkünfte veranstaltet, lernt dabei alle möglichen Leute kennen und verguckt sich ein bisschen in Phoebe, die Tochter des Hauses. Am Ende lösen sich zwei Ehen zugunsten einer neuen Paarung auf, und schließlich trifft auch der Erzähler auf die ihm eigentlich bestimmte Frau, der er – dies bildet die Rahmenhandlung – berichtet, „Was davor geschah“.
Reiz gewinnt das allein durch Mosebachs Bereitschaft, sich von Figuren bezaubern zu lassen, die ein distanzierter Beobachter wohl als unbedeutend und selbst unsympathisch einsortiert hätte. Da gibt es etwa Silvi, die exotische Schwiegertochter des Elder Statesman Schmidt-Flex, die nie in ihrem Leben gearbeitet hat, harmlosen Geistes ist und schon am Nachmittag dem Weißwein mehr zuspricht, als ihr guttut. Der Erzähler jedoch weiß noch Anderes von ihr zu sagen.
„Sie war in Brasilien geboren – mein Gott, wie sie dies Wort Brasilien aussprach, wie das funkelte und wie das S schnitt, ein frivoles Spratzeln von Öl in der Pfanne, und dahinter die köstliche Glätte metallischer Fischleiber – aber von deutschen Eltern, genauer von Balten, die dort in der Isolation ihren baltischen Akzent mit dem berühmten R viel reiner bewahrt und vor allem weitergeben hatten, als das in Westdeutschland möglich gewesen wäre. Und dieses eher harte R hatte sich nun mit dem portugiesischen R vermählt, in Silvis zur Hervorbringung von Klangschönheit prädestinierter Kehle, und hatte den Buchstaben, der in der toten Schrift nichts von dem Leben verriet, das in ihm steckte, der ein bloßes Scharnier zwischen zwei Vokalen zu sein scheint, zu seinem eigentlichen Leben erweckt.“
Hier erscheint sie zur vollen menschlichen Figur entfaltet, die Nachtigall, und dazu erhält der Leser einen so belehrenden wie unterhaltsamen Exkurs zum wahren Wesen des Lautes R. Selbst an Silvis Ehemann, dem unselbständigen Hansjörg, dessen Hinzutritt jede gesellige Runde in Verlegenheit stürzt, findet die Erzählung, wenn schon kein gutes Haar, so doch dies bemerkenswert: „Ist es nicht etwas Geheimnisvolles um Leute, die niemand mag?“
Die so freundlich verwunderte wie hinterlistige Frage lässt erkennen, dass man Mosebachs Höflichkeit nicht mit christlicher Nächstenliebe verwechseln sollte. Sein Erbarmen mit den Unliebenswürdigen wird vor allem von Neugier grundiert, der frivole Züge nicht fehlen. Außer der Nachtigall setzt er für sein Buch noch einen zweiten emblematischen Vogel ein, das Haustier oder eher den Hausgott der Familie Hopsten, einen großen Kakadu, der als geheimes Zentrum dieses Haushalts auf seinem Stänglein sitzt (und auch den Buchumschlag zieren darf). „Und nun richtete sich, als werde in seinem Innern an einem Faden gezogen, die hellgelbe, bisher fest an den Hinterkopf geschmiegte Krone auf, ein leuchtender Irokesenkamm, der sonnenartig über ihm strahlte. Dann legte er er in seinem Königsschmuck den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus, eine funkensprühende Kreissäge war auf Beton gestoßen und kreischte bis zum Zerspringen des Sägeblatts.“
Auch diesem Misston lauscht die Erzählung andachtsvoll, denn auch im Hässlichen, das sich offenbart, erblickt sie vor allem ein herrliches Phänomen. Hingerissen betrachtet sie die Figur des alten Schmidt-Flex, diesen „falschen Patriarchen“, der mit anmaßend-eleganter Autorität an den Menschen seiner Umgebung, zumal an seinem unseligen Sohn Hansjörg, „Zurückstufungen“ vornimmt und in den immer gleichen hochnäsigen Worten die immer gleichen Geschichten vorträgt.
„,Und hat sich natürlich‘ – natürlich war beim alten Schmidt-Flex ein anderes Wort für genialerweise, in der Welt der großen Wirtschaftsdenker gehörte die Genialität zur Natur – ,nicht auszahlen lassen, sondern den Gegenwert in englischen Aktien erhalten . . .‘ Nun schloss er genießerisch die Augen, und ich stellte mir vor, dass er den Weltbrand vor sich sah – zerstörte Fabriken, eine Waberlohe über den Benzintanks, schwarzen Rauch, Vernichtung –, und nichts davon berührte das Aktiendepot (…).“
Das Faszinierende an diesem monströsen Silberlöwen überwindet den moralischen Abscheu, den er von rechtswegen verdient, es wird ihm sein legitimer Platz im Reigen der menschlichen Komödie zugewiesen. Und wenn Rosemarie Hopsten, eine guterhaltene, wenn auch etwas füllige Matrone mit großer sozialer Begabung, Shopping als einen sinnstiftenden Akt erachtet, dann wird sie nicht schlechterdings dem Spott preisgegeben, sondern Ironie wahrt die Achtung vor der Fasson, die die Dame sich dabei zu geben weiß, indem sie niemals vom „Kaufen“, sondern stets vom „Kawfen“ spricht, mit rheinisch-angelsächsischer Tönung, „und durch das schwingende englische aw war nichts mehr vom ordinären Shopkeepertum in diesem Wort, es wurde etwas zum Grunde des Lebens Gehörendes, ein Ein- und Ausatmen der Seele war das Kawfen und Verkawfen, da ging es nie um Notwendigkeiten, Preise, Erschwinglichkeit und Liquidität, sondern um ein gleichsam seelisch-körperliches Wohlbefinden in einem Grundvollzug des Daseins.“
In der Ironie solcher Sätze fängt sich noch mehr als die bloß einzelne Figur, sie öffnet den Blick auf etwas, das sich in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst eher vage andeutet, das Bild einer ganzen Klasse. Wenn sich dieser Haltung eines einwenden lässt, dann höchstens die unverhältnismäßige Jugend des Erzählers, der sie zu repräsentieren hat; er muss blass bleiben, weil hinter seiner dünnen Maske die Züge des Autors hervortreten wollen. Dieser ist unübersehbar an der Tradition geschult, vor allem an der zweideutigen Humanität Thomas Manns und Heimito von Doderers. Doch hat er das Werkzeug, das er von ihnen übernimmt, nachgeschärft zu aktuellem Gebrauch, bis es blitzt und taugt, den Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts zu liefern.
BURKHARD MÜLLER
MARTIN MOSEBACH: Was davor geschah. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 329 Seiten, 21,90 Euro.
„Jetzt erst eröffnete
sich mir in ganzer
Fülle das Wort ,Gurgel‘ “
Gewiss, der Gesang der Nachtigall ist zauberhaft – aber verachte niemand den Kakadu und seinen Kreissägen-Schrei! Foto: Rue des Archives /SZ Photo
Der Gesellschaftsromancier: Martin Mosebach Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Porträt der Frankfurter Gesellschaft, nachgeschärft und zum Funkeln gebracht: Martin Mosebachs neuer Roman „Was davor geschah“
Die Moderne und was ihr gefolgt ist mögen keine Nachtigallen. Das ist bedauerlich, denn die Nachtigallen treiben ihr Wesen wie eh und je. Der Rezensent erinnert sich seines Germanistik-Studiums an der Würzburger Universität, einem Neubaukomplex der Siebziger hoch über der Stadt inmitten eines ausgedehnten Buschgeländes, aus dem heraus die Nachtigallen im Mai am hellen Tag schlugen, die Fenster waren wegen der Wärme geöffnet, der Gesang strömte herein – und keiner der Anwesenden, weder Dozent noch Studenten, nahmen ihn zur Kenntnis, denn Thema war ja die Literatur des 19. Jahrhunderts und nicht die tönende Gegenwart des Frühlings. Hier klaffte offenbar eine Lücke in der Ganzheit der Welt.
In diese Lücke stößt der Romancier Martin Mosebach vor. Er gilt als konservativer Autor, zweifellos zurecht, soweit man sich unter einem Konservativen jemanden vorstellt, der überlieferte Perzeptions- und Gestaltungsmuster ins je Heutige herüberholt und in neuen Situationen fruchtbar macht. Die Nachtigall hat größere Ausdauer als die inzwischen überholte klassische Moderne bewiesen; doch da man mit ihr nicht mehr rechnet, kommt sie heute, wo sie auftritt, als Überraschung daher.
Sie darf Mosebachs neues Buch emblematisch eröffnen und hört sich so an: „Sie hat einen Alt, dachte ich, wie man über eine Sängerin spricht. Und wirklich war dies Flöten nicht mit der Hervorbringung eines Musikinstruments aus Holz oder Silber vergleichbar, obwohl es so rein klang, so ungemischt und schlackenlos, wie man das mit einer Mechanik, einem Apparat verbindet. Aber man hat gewissen Sängerinnen nicht umsonst den Ruhmesnamen einer Nachtigall verliehen, das bestätigte sich jetzt. Eine bestimmte äußerst künstliche und kunstvolle Gesangstechnik des neunzehnten Jahrhunderts, inzwischen gänzlich aus den Opernhäusern verschwunden, zum letzten Mal vielleicht von Adelina Galli-Curci beherrscht, war ohne Zweifel vom Nachtigallengesang inspiriert. Töne, von denen man nicht glauben kann, dass sie von menschlichen Lippen, Zungen, Zähnen, Gaumen und Kehlen gebildet werden, sondern die als glattgeschliffene, zarte Körper im Menschenleib wohnen und ihn zuweilen wie ein Schwarm silberner Fische mit dem Atem zu verlassen scheinen, während die Sängerin selbst in verzauberter Unbeweglichkeit dies tönende Wunder bestaunt. Jetzt erst eröffnete sich mir in ganzer Fülle das Wort ,Gurgel‘. Die Nachtigall war ganz Gurgel, und aus dieser Gurgel sprudelte und schluchzte es, gurrte und jubelte es in kühnen Läufen, die zu Koloraturen wurden und in sattem Schnarren wie aus dem Innern einer feuervergoldeten Pendule endeten.“
Das musste in solcher Ausführlichkeit zitiert werden, denn es gehört zur Eigenart dieses Autors, dass er sich für seine Mitteilungen Zeit nimmt. Die Sängerin Galli-Curci braucht man nicht zu kennen, sie wird nicht als Spielstein der Bildungs-Distinktion eingesetzt. Vielmehr dient der Vergleich dem wechselseitigen Kompliment, er bezieht Sängerin und Vogel aufeinander, indem er sie beide ehrt: So schließt Mosebach die Kluft von Natur und Kunst. Er schafft Welt in einem Akt der Höflichkeit, aufmerksam im doppelten Sinn des Worts.
Was im Roman passiert, lässt sich, so komplex die Verwicklungen im Einzelnen laufen, doch knapp zusammenfassen. Der Ich-Erzähler kommt fremd nach Frankfurt am Main, gerät dort mehr oder weniger zufällig in den Kreis der begüterten bürgerlichen Familie Hopsten, die am Wochenende zwanglose Zusammenkünfte veranstaltet, lernt dabei alle möglichen Leute kennen und verguckt sich ein bisschen in Phoebe, die Tochter des Hauses. Am Ende lösen sich zwei Ehen zugunsten einer neuen Paarung auf, und schließlich trifft auch der Erzähler auf die ihm eigentlich bestimmte Frau, der er – dies bildet die Rahmenhandlung – berichtet, „Was davor geschah“.
Reiz gewinnt das allein durch Mosebachs Bereitschaft, sich von Figuren bezaubern zu lassen, die ein distanzierter Beobachter wohl als unbedeutend und selbst unsympathisch einsortiert hätte. Da gibt es etwa Silvi, die exotische Schwiegertochter des Elder Statesman Schmidt-Flex, die nie in ihrem Leben gearbeitet hat, harmlosen Geistes ist und schon am Nachmittag dem Weißwein mehr zuspricht, als ihr guttut. Der Erzähler jedoch weiß noch Anderes von ihr zu sagen.
„Sie war in Brasilien geboren – mein Gott, wie sie dies Wort Brasilien aussprach, wie das funkelte und wie das S schnitt, ein frivoles Spratzeln von Öl in der Pfanne, und dahinter die köstliche Glätte metallischer Fischleiber – aber von deutschen Eltern, genauer von Balten, die dort in der Isolation ihren baltischen Akzent mit dem berühmten R viel reiner bewahrt und vor allem weitergeben hatten, als das in Westdeutschland möglich gewesen wäre. Und dieses eher harte R hatte sich nun mit dem portugiesischen R vermählt, in Silvis zur Hervorbringung von Klangschönheit prädestinierter Kehle, und hatte den Buchstaben, der in der toten Schrift nichts von dem Leben verriet, das in ihm steckte, der ein bloßes Scharnier zwischen zwei Vokalen zu sein scheint, zu seinem eigentlichen Leben erweckt.“
Hier erscheint sie zur vollen menschlichen Figur entfaltet, die Nachtigall, und dazu erhält der Leser einen so belehrenden wie unterhaltsamen Exkurs zum wahren Wesen des Lautes R. Selbst an Silvis Ehemann, dem unselbständigen Hansjörg, dessen Hinzutritt jede gesellige Runde in Verlegenheit stürzt, findet die Erzählung, wenn schon kein gutes Haar, so doch dies bemerkenswert: „Ist es nicht etwas Geheimnisvolles um Leute, die niemand mag?“
Die so freundlich verwunderte wie hinterlistige Frage lässt erkennen, dass man Mosebachs Höflichkeit nicht mit christlicher Nächstenliebe verwechseln sollte. Sein Erbarmen mit den Unliebenswürdigen wird vor allem von Neugier grundiert, der frivole Züge nicht fehlen. Außer der Nachtigall setzt er für sein Buch noch einen zweiten emblematischen Vogel ein, das Haustier oder eher den Hausgott der Familie Hopsten, einen großen Kakadu, der als geheimes Zentrum dieses Haushalts auf seinem Stänglein sitzt (und auch den Buchumschlag zieren darf). „Und nun richtete sich, als werde in seinem Innern an einem Faden gezogen, die hellgelbe, bisher fest an den Hinterkopf geschmiegte Krone auf, ein leuchtender Irokesenkamm, der sonnenartig über ihm strahlte. Dann legte er er in seinem Königsschmuck den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus, eine funkensprühende Kreissäge war auf Beton gestoßen und kreischte bis zum Zerspringen des Sägeblatts.“
Auch diesem Misston lauscht die Erzählung andachtsvoll, denn auch im Hässlichen, das sich offenbart, erblickt sie vor allem ein herrliches Phänomen. Hingerissen betrachtet sie die Figur des alten Schmidt-Flex, diesen „falschen Patriarchen“, der mit anmaßend-eleganter Autorität an den Menschen seiner Umgebung, zumal an seinem unseligen Sohn Hansjörg, „Zurückstufungen“ vornimmt und in den immer gleichen hochnäsigen Worten die immer gleichen Geschichten vorträgt.
„,Und hat sich natürlich‘ – natürlich war beim alten Schmidt-Flex ein anderes Wort für genialerweise, in der Welt der großen Wirtschaftsdenker gehörte die Genialität zur Natur – ,nicht auszahlen lassen, sondern den Gegenwert in englischen Aktien erhalten . . .‘ Nun schloss er genießerisch die Augen, und ich stellte mir vor, dass er den Weltbrand vor sich sah – zerstörte Fabriken, eine Waberlohe über den Benzintanks, schwarzen Rauch, Vernichtung –, und nichts davon berührte das Aktiendepot (…).“
Das Faszinierende an diesem monströsen Silberlöwen überwindet den moralischen Abscheu, den er von rechtswegen verdient, es wird ihm sein legitimer Platz im Reigen der menschlichen Komödie zugewiesen. Und wenn Rosemarie Hopsten, eine guterhaltene, wenn auch etwas füllige Matrone mit großer sozialer Begabung, Shopping als einen sinnstiftenden Akt erachtet, dann wird sie nicht schlechterdings dem Spott preisgegeben, sondern Ironie wahrt die Achtung vor der Fasson, die die Dame sich dabei zu geben weiß, indem sie niemals vom „Kaufen“, sondern stets vom „Kawfen“ spricht, mit rheinisch-angelsächsischer Tönung, „und durch das schwingende englische aw war nichts mehr vom ordinären Shopkeepertum in diesem Wort, es wurde etwas zum Grunde des Lebens Gehörendes, ein Ein- und Ausatmen der Seele war das Kawfen und Verkawfen, da ging es nie um Notwendigkeiten, Preise, Erschwinglichkeit und Liquidität, sondern um ein gleichsam seelisch-körperliches Wohlbefinden in einem Grundvollzug des Daseins.“
In der Ironie solcher Sätze fängt sich noch mehr als die bloß einzelne Figur, sie öffnet den Blick auf etwas, das sich in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst eher vage andeutet, das Bild einer ganzen Klasse. Wenn sich dieser Haltung eines einwenden lässt, dann höchstens die unverhältnismäßige Jugend des Erzählers, der sie zu repräsentieren hat; er muss blass bleiben, weil hinter seiner dünnen Maske die Züge des Autors hervortreten wollen. Dieser ist unübersehbar an der Tradition geschult, vor allem an der zweideutigen Humanität Thomas Manns und Heimito von Doderers. Doch hat er das Werkzeug, das er von ihnen übernimmt, nachgeschärft zu aktuellem Gebrauch, bis es blitzt und taugt, den Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts zu liefern.
BURKHARD MÜLLER
MARTIN MOSEBACH: Was davor geschah. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2010. 329 Seiten, 21,90 Euro.
„Jetzt erst eröffnete
sich mir in ganzer
Fülle das Wort ,Gurgel‘ “
Gewiss, der Gesang der Nachtigall ist zauberhaft – aber verachte niemand den Kakadu und seinen Kreissägen-Schrei! Foto: Rue des Archives /SZ Photo
Der Gesellschaftsromancier: Martin Mosebach Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nun, glaubt jedenfalls Rezensent Hubert Spiegel, wird kein Mensch auf der Welt mehr etwas gegen den großen Romanautor Martin Mosebach sagen können. Dies Buch nämlich ist, Spiegels Ansicht nach jedenfalls, nicht weniger als perfekt. Klein im sozialen Kreis, den es ausschreitet: Frankfurter bessere Gesellschaft mit ein paar Verzweigungen nach hier und nach da. Groß aber ist es: in allem anderen. Selbst für den letzten Zweifler werde Mosebach jetzt als großer Meister der Sprache erkennbar; als Virtuose der Beobachtung zartester Regungen von Verstand und Gefühl und vor allem amouröser Verwicklung bei Menschen, die einen nicht interessierten, beschriebe sie nicht einer wie Mosebach (Thomas Mann wird in der Rezension ständig als einzig angemessene Vergleichsgröße mitgeführt). Am allermeisterlichsten dabei, so Spiegel, die über vier Seiten sich erstreckende Beschreibung eines Kakadus. Hier streckt der Rezensent dann endgültig die Waffen und lässt seine Kritik in einem letzten Lustseufzer verklingen: diese Szene gehöre "zum Besten, was man derzeit in deutscher Sprache lesen kann".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Ein Meister auf der Höhe seines Könnens: Martin Mosebachs Roman 'Was davor geschah' gehört nicht nur zum Besten der neuen Saison, sondern der neuen deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt." Hubert Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.08.10
"Ein Porträt der Frankfurter Gesellschaft, nachgeschärft und zum Funkeln gebracht - der Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 26.08.10
"Ein Glücksfall, ein großer Wurf, ein heiter-zärtliches Vexierspiel von Liebe und Zufall ... Wer es liest, erfährt viel über den eigenen Pulsschlag in der Zeit." Hellmuth Karasek, Hamburger Abendblatt, 28.08.10
"Der große Gesellschaftsroman unserer Tage: Ein Karussell der Eitelkeiten und Affären, in dem wir uns wiedererkennen, so unerbittlich, mit soziologisch analytischem Blick, erfasst er das Milieu. Der überzeugendste und subtilste Roman, den Mosebach bisher geschrieben hat. Er ist einer unserer besten Schriftsteller." Ulrich Greiner, Die Zeit, 02.09.10
"Ein Roman, der mich außergewöhnlich begeistert, weil er glaubhaft darstellt, wie in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 gelebt und gedacht und gehandelt wird. Dieser Roman hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns gelegentlich verzückt, öfter aber erschrocken, selbst erkennen. Dieser Roman gehört auf die Bestsellerliste." Denis Scheck, ARD, 30.08.10
"Man weiß gar nicht, wo man mit dem Loben anfangen soll, so geschickt sind hier alle Erzählstränge eingefädelt, so funkelt und glüht die Sprache. Die große Leistung dieses Schriftstellers besteht auch in diesem Roman darin, dass er unsere banale Gegenwart so behandelt, als sei sie längst Geschichte geworden und also kostbar." Hannes Stein, Die Welt, 04.09.10
"Ein Geduldsspiel, auf das man sich unbedingt einlassen sollte. ... Eine erzählerische Meisterleistung und ein grosses Leseerlebnis." Andreas Tobler, Tages-Anzeiger, 27.09.10"Das Spiel um Lüge und Wahrheit ... ist der geheime Antrieb dieses Romans. Ohne Zynismus, aber mit heiterster Ironie, mit großem Erzählwitz und dramaturgischem Geschick zeichnet Martin Mosebach das Sittenbild einer feinen Gesellschaft, die einen Augenblick ganz unentschlossen zwischen Noblesse und Dekadenz schwankt, ehe sie stürzt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 04.10.10
"Ein Porträt der Frankfurter Gesellschaft, nachgeschärft und zum Funkeln gebracht - der Gesellschaftsroman des frühen 21. Jahrhunderts." Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 26.08.10
"Ein Glücksfall, ein großer Wurf, ein heiter-zärtliches Vexierspiel von Liebe und Zufall ... Wer es liest, erfährt viel über den eigenen Pulsschlag in der Zeit." Hellmuth Karasek, Hamburger Abendblatt, 28.08.10
"Der große Gesellschaftsroman unserer Tage: Ein Karussell der Eitelkeiten und Affären, in dem wir uns wiedererkennen, so unerbittlich, mit soziologisch analytischem Blick, erfasst er das Milieu. Der überzeugendste und subtilste Roman, den Mosebach bisher geschrieben hat. Er ist einer unserer besten Schriftsteller." Ulrich Greiner, Die Zeit, 02.09.10
"Ein Roman, der mich außergewöhnlich begeistert, weil er glaubhaft darstellt, wie in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2010 gelebt und gedacht und gehandelt wird. Dieser Roman hält uns einen Spiegel vor, in dem wir uns gelegentlich verzückt, öfter aber erschrocken, selbst erkennen. Dieser Roman gehört auf die Bestsellerliste." Denis Scheck, ARD, 30.08.10
"Man weiß gar nicht, wo man mit dem Loben anfangen soll, so geschickt sind hier alle Erzählstränge eingefädelt, so funkelt und glüht die Sprache. Die große Leistung dieses Schriftstellers besteht auch in diesem Roman darin, dass er unsere banale Gegenwart so behandelt, als sei sie längst Geschichte geworden und also kostbar." Hannes Stein, Die Welt, 04.09.10
"Ein Geduldsspiel, auf das man sich unbedingt einlassen sollte. ... Eine erzählerische Meisterleistung und ein grosses Leseerlebnis." Andreas Tobler, Tages-Anzeiger, 27.09.10"Das Spiel um Lüge und Wahrheit ... ist der geheime Antrieb dieses Romans. Ohne Zynismus, aber mit heiterster Ironie, mit großem Erzählwitz und dramaturgischem Geschick zeichnet Martin Mosebach das Sittenbild einer feinen Gesellschaft, die einen Augenblick ganz unentschlossen zwischen Noblesse und Dekadenz schwankt, ehe sie stürzt." Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 04.10.10