Hillebrands Essays, hervorgegangen aus über dreißigjähriger Forschungstätigkeit, zeichnen die von Wechselhaftigkeit geprägte Positionierung der Kunst von der Goethezeit bis in unser Jahrhundert nach. Auf der Suche nach einer Standortbestimmung gehen die Aufsätze zuallererst der Frage nach, was denn Kunst eigentlich sei. Steht die Ära des Realismus im Zeichen des Epigonentums und resignativer Versöhnung, so eröffnet der mit Nietzsche aufblühende Nihilismus - paradoxerweise - eine neue Perspektive für die Kunst. Das Prinzip der Verneinung wird zum treibenden Moment in den Denkprozessen. Nachvollziehbar ist dieses Entwicklungsstadium etwa anhand des literarischen Schaffens von Gottfried Benn, den Hillebrand nach Goethe und Nietzsche in die historische Linie des Individualismus einreiht. Mit Blick auf die Postmoderne zeigt der Autor eine Abnutzung der ästhetischen Potenziale auf und beklagt die oft vergebliche Jagd nach innovativen literarischen Formen. Den Abschluss bilden 'Porträts', die sich meisterhaft einfühlen in unterschiedliche Gestalten des geistigen Lebens und ihre geschichtliche Stellung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.2001Als das Verzweifeln noch half
Nihilismus: Bruno Hillebrand liest Benn, Nietzsche und Goethe
Nicht immer bürgt ein Lebensthema für eine faszinierende Obsession. Bruno Hillebrand etwa, der sich auch als Lyriker und Romanautor betätigte, wird man neben seiner "Theorie des Romans" vor allem mit Gottfried Benn in Verbindung bringen, dessen Werk er in der Fassung der Erstdrucke ediert und mit dem er sich in Aufsätzen und Büchern immer wieder befaßt hat. Aber in der Sammlung von literaturwissenschaftlichen Essays und Porträts aus dreißig Jahren, die der Mainzer Germanist jetzt vorgelegt hat, erscheinen gerade Benn und sein metaphysischer Impulsgeber Nietzsche als die ausgeleiertsten Figuren. Der Tod Gottes, abendländischer Wertzerfall, Nihilismus, Negativismus, Perspektivismus: Anhand dieser Stichworte, die uns in vielen der sechsundzwanzig Texte auf Schritt und Tritt begegnen, führt Hillebrand die bereits ziemlich gut durchgeknetete germanistische Großerzählung von der Epoche des Sinnverlusts wieder und noch einmal vor Augen.
"Alles in allem: Das Spiel mit dem Nichts oder die Geburt der Kunst aus dem Geiste des Nihilismus. Diese Ästhetik entfaltete sich über hundert Jahre, bis sie voll entwickelt war. Spätestens 1920. Das Nichts und die Leere, das Chaos und der Zufall, insgesamt Signaturen eines abhanden gekommenen Gottes." Wollte man es aber so noch einmal wissen? Der flapsige Ton, der in der Aufsatzsammlung wiederholt irritiert, verrät, daß dem Autor seine Kategorien selbst allzu vertraut sind.
Nicht daß seine Skizzen zu einem Entwicklungsroman des Nihilismus uninteressant wären: Aus dem Zusammenbruch eines überspannten Idealismus entsprungen, entwickelt er sich zum produktiven künstlerischen Antrieb der Moderne fort und findet schließlich im Modernismus die Kraft zur Selbstbehauptung, zur "anthropologischen Erlösung im Formalen" (Benn). Aber man wünscht sich doch eine feinmaschigere Analyse, die den Werken Überraschenderes, Eigensinnigeres ablauscht und nicht immer wieder in die Bahnen der Dichterweltsichtparaphrasengermanistik gerät.
Auch enerviert eine literaturgeschichtliche Vogelperspektive, aus der Sätze wie die folgenden fallengelassen werden: "Wahnsinn und Selbstmord können die Folge sein. Wir wissen, daß es historisch so war. Hölderlin, Kleist und Nietzsche nur als Beispiel." Daß Hillebrand sein Paradigma als historisches weiß, ist unübersehbar. Der Blick, den er in den achtziger Jahren auf die zeitgenössische Literatur wirft, ist einer des Abschieds von der zweihundert Jahre währenden Großwetterlage: "Der metaphysische Schmelz ist wohl für immer dahin." Die Aufsätze tragen Titel wie "Protokolle der Verödung?", "Die verbrauchte Reduktion" und "Diese ausgesungene Welt". In zaghaften Ansätzen will Hillebrand darauf mit einer "Ästhetik des Sensuellen" reagieren, die er aber hier nicht ausführt.
Am lebendigsten sind Hillebrands Essays, wenn er sein Kategoriensystem lockert und sich einzelnen dichterischen Motiven widmet, dem Garten im Grünen Heinrich etwa. In "Die Hoffnung des alten Goethe" verfolgt der Autor, wie sich zumal in Goethes später Lyrik die zeitlebens thematisierte, besungene, umspielte Hoffnung gänzlich von einer Jenseitsorientierung löst und zu etwas Innerweltlichem wandelt, zur Hoffnung in "Gleichnissen eingeholter Sehnsucht". Neu ist das nicht, es übersteigt auch kaum den Horizont dessen, was Goethe selbst zum Thema gesagt hat. Aber hier teilt sich die Bewunderung des Interpreten auch einmal dem Leser mit.
MICHAEL ADRIAN
Bruno Hillebrand: "Was denn ist Kunst?" Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 430 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nihilismus: Bruno Hillebrand liest Benn, Nietzsche und Goethe
Nicht immer bürgt ein Lebensthema für eine faszinierende Obsession. Bruno Hillebrand etwa, der sich auch als Lyriker und Romanautor betätigte, wird man neben seiner "Theorie des Romans" vor allem mit Gottfried Benn in Verbindung bringen, dessen Werk er in der Fassung der Erstdrucke ediert und mit dem er sich in Aufsätzen und Büchern immer wieder befaßt hat. Aber in der Sammlung von literaturwissenschaftlichen Essays und Porträts aus dreißig Jahren, die der Mainzer Germanist jetzt vorgelegt hat, erscheinen gerade Benn und sein metaphysischer Impulsgeber Nietzsche als die ausgeleiertsten Figuren. Der Tod Gottes, abendländischer Wertzerfall, Nihilismus, Negativismus, Perspektivismus: Anhand dieser Stichworte, die uns in vielen der sechsundzwanzig Texte auf Schritt und Tritt begegnen, führt Hillebrand die bereits ziemlich gut durchgeknetete germanistische Großerzählung von der Epoche des Sinnverlusts wieder und noch einmal vor Augen.
"Alles in allem: Das Spiel mit dem Nichts oder die Geburt der Kunst aus dem Geiste des Nihilismus. Diese Ästhetik entfaltete sich über hundert Jahre, bis sie voll entwickelt war. Spätestens 1920. Das Nichts und die Leere, das Chaos und der Zufall, insgesamt Signaturen eines abhanden gekommenen Gottes." Wollte man es aber so noch einmal wissen? Der flapsige Ton, der in der Aufsatzsammlung wiederholt irritiert, verrät, daß dem Autor seine Kategorien selbst allzu vertraut sind.
Nicht daß seine Skizzen zu einem Entwicklungsroman des Nihilismus uninteressant wären: Aus dem Zusammenbruch eines überspannten Idealismus entsprungen, entwickelt er sich zum produktiven künstlerischen Antrieb der Moderne fort und findet schließlich im Modernismus die Kraft zur Selbstbehauptung, zur "anthropologischen Erlösung im Formalen" (Benn). Aber man wünscht sich doch eine feinmaschigere Analyse, die den Werken Überraschenderes, Eigensinnigeres ablauscht und nicht immer wieder in die Bahnen der Dichterweltsichtparaphrasengermanistik gerät.
Auch enerviert eine literaturgeschichtliche Vogelperspektive, aus der Sätze wie die folgenden fallengelassen werden: "Wahnsinn und Selbstmord können die Folge sein. Wir wissen, daß es historisch so war. Hölderlin, Kleist und Nietzsche nur als Beispiel." Daß Hillebrand sein Paradigma als historisches weiß, ist unübersehbar. Der Blick, den er in den achtziger Jahren auf die zeitgenössische Literatur wirft, ist einer des Abschieds von der zweihundert Jahre währenden Großwetterlage: "Der metaphysische Schmelz ist wohl für immer dahin." Die Aufsätze tragen Titel wie "Protokolle der Verödung?", "Die verbrauchte Reduktion" und "Diese ausgesungene Welt". In zaghaften Ansätzen will Hillebrand darauf mit einer "Ästhetik des Sensuellen" reagieren, die er aber hier nicht ausführt.
Am lebendigsten sind Hillebrands Essays, wenn er sein Kategoriensystem lockert und sich einzelnen dichterischen Motiven widmet, dem Garten im Grünen Heinrich etwa. In "Die Hoffnung des alten Goethe" verfolgt der Autor, wie sich zumal in Goethes später Lyrik die zeitlebens thematisierte, besungene, umspielte Hoffnung gänzlich von einer Jenseitsorientierung löst und zu etwas Innerweltlichem wandelt, zur Hoffnung in "Gleichnissen eingeholter Sehnsucht". Neu ist das nicht, es übersteigt auch kaum den Horizont dessen, was Goethe selbst zum Thema gesagt hat. Aber hier teilt sich die Bewunderung des Interpreten auch einmal dem Leser mit.
MICHAEL ADRIAN
Bruno Hillebrand: "Was denn ist Kunst?" Essays zur Dichtung im Zeitalter des Individualismus. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001. 430 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Obwohl Rezensent Michael Adrian den Autor Bruno Hillebrandt "vor allem mit Gottfried Benn in Verbindung" bringt, erscheinen ihm in diesem Essayband "gerade Benn und sein metaphysischer Impulsgeber Nietzsche" als die "ausgeleiertsten Figuren". In den sechsundzwanzig Texten fühlt sich der Rezensent ansonsten in die "bereits ziemlich gut durchgeknetete Großerzählung" von der Epoche des Sinnverlusts versetzt. Nicht, dass er das alles uninteressant findet. Bloß hätte er sich eine "feinmaschigere Analyse" gewünscht, die den Werken "Überraschenderes, Eigenwilligeres" abgelauscht hätte, statt immer wieder in die ewigen Bahnen der "Dichterweltsichtparaphrasengermanistik" zu geraten. Auch die "literaturgeschichtliche Vogelperspektive" hat Adrian eher enerviert. Am lebendigsten findet er Hillebrands Wanderung durch den Garten des "Grünen Heinrich". Hier teile sich die Bewunderung des Interpreten für einen Autor auf einmal dem Leser mit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH