Ein Roman wie ein Puzzle…
Als die 76jährige Gladys Comeau an einem Septembertag 2012 in einen Zug steigt und davonfährt, kommt das für jeden in ihrem Freundeskreis und in ihrer Nachbarschaft völlig unerwartet. Niemand weiß etwas über ihre Gründe, nichts über ihre Pläne. Die Verwirrung, aber auch
die Entrüstung ist groß, lässt Gladys doch ihre 54jährige hochdepressive Tochter zurück, um die sie…mehrEin Roman wie ein Puzzle…
Als die 76jährige Gladys Comeau an einem Septembertag 2012 in einen Zug steigt und davonfährt, kommt das für jeden in ihrem Freundeskreis und in ihrer Nachbarschaft völlig unerwartet. Niemand weiß etwas über ihre Gründe, nichts über ihre Pläne. Die Verwirrung, aber auch die Entrüstung ist groß, lässt Gladys doch ihre 54jährige hochdepressive Tochter zurück, um die sie sich jahrzehntelang aufopferungsvoll kümmerte.
Während der Leser, geführt vom Erzähler, der einer eigenen Agenda zu folgen scheint, Gladys auf ihrer Reise folgt, wird er Zeuge wachsender Verwirrung und Missbilligung von Nachbarn und Freunden, neu geschlossener Freundschaften, altvertrauter Landschaften und den Erinnerungen ihrer Kindertage. Mehr und mehr offenbaren sich auf diesem Weg Gladys´ Beweggründe, ihre Liebe zu den Zügen Nordkanadas und ihr grenzenloses Vertrauen in das Leben…
Jocelyne Sauciers Liebeserklärung an den Norden Kanadas kommt angenehm ruhig und unaufgeregt daher, mit Blick für die Schönheit der Natur und die Einzigartigkeit der legendären Eisenbahnstrecken, die sie durchschneiden. Doch in allererster Linie dient sie als Vehikel für die Geschichten der Menschen rechts und links der Gleise, deren Leben untrennbar mit den Bahnstrecken des Nordens verbunden sind. Derer gibt es viele… und genau darin liegt die Krux, denn ob all der Geschichten, die es zu erzählen gibt und die sicher auch ihre Berechtigung im Großen und Ganzen des Romans haben, verliert sich der Zug der Erzählung doch auf so manchem Neben- und einige Male auch auf einem toten Gleis. Dann gilt es für den Leser umzudrehen und den Faden wieder aufzunehmen, um zu Gladys´ Reise zurückzukehren.
So leichtfüßig und willkürlich formuliert „Was dir bleibt“ auch erscheinen mag, ein Leichtgewicht ist es ganz sicher nicht. Jocelyne Saucier setzt sich mit den existentiellen Fragen des Lebens auseinander, oder besser sie lässt ihre Protagonisten sich damit auseinandersetzen. Dabei ist nicht immer neu, was sie formuliert. Wenn sie z. B. ihre Protagonistin Janelle denken lässt: ‚Den Tod soll man den Toten überlassen, solange man über ihn schweigt, existiert er nicht‘ (S. 122), ist das nichts anderes als das Fortdenken eines Zitats Epikurs: ‚Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.‘
Gleichzeitig aber findet sie für eben diese Janelle wunderschöne eigene Worte wenn sie sie charakterisiert: ‚Janelle ist eine Herumtreiberin, anders kann man es nicht sagen, sie kommt und geht, zieht von einem Ort zum anderen, jedes Mal aus einem derart dürftigen Grund, dass man sich fragt, ob all diese Unrast nicht nur dazu dient, sie in der Schwebe zu halten, außer Reichweite, in einem geschützten Raum außerhalb der Zeit.‘
Wenn sie die Menschen beschreibt, die jenseits der Zivilisation in den Wäldern lebten und noch immer leben, mit der „Welt draußen“ nur durch die lebensnotwendigen Adern der Eisenbahnen verbunden, geschieht dies voll Wärme und Achtung: ‚Einsiedler gibt´s nicht in jung. Man muss auf ein langes Leben blicken können, um etwas zum Nachdenken zu haben, wenn man sich in die Wildnis zurückzieht.‘
Und so widerfahren auch der Hauptfigur Gladys zu guter Letzt Liebe, Fürsorge und Achtung von Menschen und an einem Ort, der nicht zu erwarten stand.
Bis dahin aber benötigen die Leser*innen Geduld, müssen sich führen lassen und bereit sein, sich der schlussendlichen Erkenntnis des Buches unterzuordnen: ‚Wer alles erklären will, dem entgeht viel.‘
Zu 100 % stimmig ist dieses Buch nicht, wer auf 100 % verzichten kann, dem sei es ans Herz gelegt!