September 1977. Ein alter Mann liegt nach einem Zusammenbruch zu Tode erschöpft in seinem Bett. Im Treppenhaus hat er einen verdächtigen Fremden gesehen. Endlos lange dauert es, bis der Morgen kommt. Die Geräusche der Nacht beunruhigen ihn, sie lösen Bilder, Fragen, Erinnerungen in ihm aus - die Eindrücke des vergangenen Tages und seines vergangenen Lebens. Der alte Mann fragt sich, warum er das Haus geerbt hat, in dem er jetzt wohnt, die Stadt verlassen hat, in der er sein Leben lang zu Hause war - ist er freiwillig hier? Was hat den Fremden hergeführt? Wozu dient die Tür, die der Metzger und der Wirt am Vormittag im Hof gezimmert haben? Seine Beobachtungen der Vorgänge im Haus deuten eine Geschichte an, die mit seiner eigenen Lebensgeschichte, in deren Zentrum seine Kriegsschuld steht, seltsam verflochten zu sein scheint.
Der Wunsch, das Rätsel um die Identität des Fremden zu lösen, wird für den alten Mann zu seiner letzten Lebensaufgabe.
Nach dem überwältigenden - auch internationalen - Erfolg der SCHATTENBOXERIN liegt mit WAS DUNKELHEIT WAR der mit Spannung erwartete zweite Roman von Inka Parei vor.
Der Wunsch, das Rätsel um die Identität des Fremden zu lösen, wird für den alten Mann zu seiner letzten Lebensaufgabe.
Nach dem überwältigenden - auch internationalen - Erfolg der SCHATTENBOXERIN liegt mit WAS DUNKELHEIT WAR der mit Spannung erwartete zweite Roman von Inka Parei vor.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2005Schicksal eines erhabenen Putzlumpens
Erstaunlich, wie klar und offen hier gesehen wird: Inka Parei macht ein hässliches Haus zum Helden
Elvis Presley ist bereits tot, aber die RAF-Fahndungsplakate hängen noch, als „der alte Mann” (das muss genügen, seinen Namen erfährt man nicht) in einem öden Vorort von Frankfurt überraschend ein Haus erbt. „Es war sinnlos, dass er der Erbe war. Er hatte keine Nachfahren, und er würde ebenfalls bald tot sein.” Die Sinnlosigkeit dieser Erbschaft setzt Ton und Rahmen des Buchs. Es zieht den Kreis eng um das Haus und verschließt sich gegen die Zukunft. Mit dem „Interzonenzug” (Wort und Sache gibt es noch) kommt der alte Mann aus Berlin gefahren, wo er bisher gewohnt hat, und lässt sich in seinem Erbstück nieder. Zum Gehen braucht er Krückstöcke. Er hat Mühe, nachts durchzuschlafen. So wird wie von selbst die bauliche Beschaffenheit seiner nächsten Umgebung, gesehen zu Zeiten, wo sie menschenleer ist, der eigentliche Protagonist.
Eine Stimmung liegt über allem, als wäre es ewig vier Uhr morgens, jene Stunde, die die Wahrheit der Städte zum Vorschein bringt: Dass sie nämlich zur Gänze aus ihren Mauern, Straßen und höchstens noch den geparkten Autos bestehen und die zappelnde Zutat ihrer Bewohner entbehren können. Wie Schwarzweißfotos, für die im Zwielicht die Blende so lang offen geblieben ist, bis sich jedes Detail scharf und grafisch abzeichnet, treten die Beschreibungen hervor. Das geerbte Haus bietet sich so dar:
„Es hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos. Wahrscheinlich war es Ende der fünfziger Jahre das letzte Mal gestrichen worden. Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen, wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte. Es war ein Eckhaus mit einer Gaststätte und einem Metzgerladen im Erdgeschoss, und die Straße Alt-Rödelheim, in der es stand, war eng und gewunden.”
So, mit der Bausubstanz des Notbehelfs auf unfreien historischen Grundrissen, sieht auch heute noch, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg und als könnte sich niemals etwas daran ändern, ein großer Teil der deutschen Siedlungsfläche aus. Inka Pareis Buch wiegt solche Hässlichkeit durch die Ruhe auf, mit der es ihr standhält. Die Krückstöcke des alten Mannes, dem jede Treppenstufe zum Hindernis wird, setzt es wie eine Zeitlupe ein; sie verweilt auf den Gegenständen, bis die Tristesse von ihnen abgetropft ist und sie trocken und genau vorgewiesen werden können. „Ein Zinkeimer stand an der Wand, daneben ein Schrubber. Ein Putztuch war über den Eimer gebreitet worden und über seinem Rand hängend festgetrocknet, jemand hatte es heruntergerissen, und jetzt lag es umgestülpt, die Öffnung des Eimers sinnlos nachformend, auf dem Fußabtreter.” Wer einwendet, dass solche Dinge nicht weiterführen, dem sei erwidert, dass dies bei den meisten Dingen der Fall ist, und dass es nicht wahrhaben wollen den Blick auf die Welt verengt.
Andere Menschen erscheinen dem alten Mann nur wie durch eine dicke Scheibe Eis; gleichgültig was sie tun, sie wahren ihr Rätsel. Der Wirt und der Metzger, beide Mieter im Haus, bieten sich dar wie Märchenfiguren einem erschrockenen Kind; ihr Gewerbe umgibt sie mit einer Aura des auf schmierige Weise Bedrohlichen. Bei seinen Erkundungsgängen gerät der alte Mann, der die Topografie seines verwinkelten Hauses auch nach Monaten noch nicht recht erfasst hat, in die Gefrierkammer und erhascht einen Blick auf die Tochter des Wirts: Sie benutzt das blanke Metall der Fleischverpackungsmaschine als Toilettenspiegel, trägt Lippenstift auf die Wangen auf und verreibt die Farbe zu grotesken Flecken.
Am meisten beunruhigt den alten Mann der Fremde; das Zusammentreffen mit ihm setzt schließlich doch so etwas wie eine Handlung in Gang. Ein Pensionsgast scheint er zu sein, der in den frühen Morgenstunden den Ausgang nicht findet. Ihn oder etwas an ihm glaubt er zu erkennen; er ruft bei der Polizei an, um ihn als Terroristen anzuzeigen. Aber das war es nicht. Reminiszenzen setzen sich in Gang. Sie haben mit der Zeit des alten Mannes als Soldat in Russland zu tun; nach und nach schält sich das Lager heraus, in dem er Kriegsgefangene bewachte, die man verhungern ließ. Besonders tritt ihm einer vor das innere Auge, ein Russe, der sich in einem Ofen versteckt hielt; den fand er und führte die über und über geschwärzte Gestalt ab. Das Haus - auch das kommt ihm jetzt wieder - hat ihm die Witwe eines Kriegskameraden namens Karl Müller vermacht. Dieser Müller verwirrt ihn, drei verschiedene Müllers fallen ihm ein; der Name Müller gewinnt Ähnlichkeit mit dem auf dem Eimer getrockneten Putzlumpen, eine leere Form von sinnloser Deutlichkeit.
Eins allerdings glaubt man dem alten Mann und seiner Autorin nicht: Dass aus all diesen Schatten ihm zum Schluss der Begriff „seiner Schuld” entgegentritt. Ohne dieses Bekenntnis, wenn es auch noch so geistesabwesend geschieht, darf sich das schlimme Vergangene in der zeitgenössischen Literatur immer noch nicht blicken lassen. Dabei liegt auf der Hand, dass dieses Leben gerade durch die Begriffslosigkeit dessen, wohinein es geriet, mit der völligen Erstarrung der ihm verbliebenen vier Jahrzehnte gestraft worden ist. Wenn man es paradox zuspitzen will: Der alte Mann hat gesühnt, indem er nicht gesühnt hat. Und natürlich findet man auch den zweiten Automatismus am Werk, der bei jedem auch noch so kurzen Stück zeitgenössischer deutscher Prosa greift: Das Buch muss nach dem Willen des Verlags unbedingt „Roman” heißen. Dieser Name überschreitet die Qualität der Stille, durch die sich Pareis Buch auszeichnet.
BURKHARD MÜLLER
INKA PAREI: Was Dunkelheit war. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005, 169 Seiten, 18,90 Euro.
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Erstaunlich, wie klar und offen hier gesehen wird: Inka Parei macht ein hässliches Haus zum Helden
Elvis Presley ist bereits tot, aber die RAF-Fahndungsplakate hängen noch, als „der alte Mann” (das muss genügen, seinen Namen erfährt man nicht) in einem öden Vorort von Frankfurt überraschend ein Haus erbt. „Es war sinnlos, dass er der Erbe war. Er hatte keine Nachfahren, und er würde ebenfalls bald tot sein.” Die Sinnlosigkeit dieser Erbschaft setzt Ton und Rahmen des Buchs. Es zieht den Kreis eng um das Haus und verschließt sich gegen die Zukunft. Mit dem „Interzonenzug” (Wort und Sache gibt es noch) kommt der alte Mann aus Berlin gefahren, wo er bisher gewohnt hat, und lässt sich in seinem Erbstück nieder. Zum Gehen braucht er Krückstöcke. Er hat Mühe, nachts durchzuschlafen. So wird wie von selbst die bauliche Beschaffenheit seiner nächsten Umgebung, gesehen zu Zeiten, wo sie menschenleer ist, der eigentliche Protagonist.
Eine Stimmung liegt über allem, als wäre es ewig vier Uhr morgens, jene Stunde, die die Wahrheit der Städte zum Vorschein bringt: Dass sie nämlich zur Gänze aus ihren Mauern, Straßen und höchstens noch den geparkten Autos bestehen und die zappelnde Zutat ihrer Bewohner entbehren können. Wie Schwarzweißfotos, für die im Zwielicht die Blende so lang offen geblieben ist, bis sich jedes Detail scharf und grafisch abzeichnet, treten die Beschreibungen hervor. Das geerbte Haus bietet sich so dar:
„Es hatte eine Nachkriegsfassade, schmutzig und ausdruckslos. Wahrscheinlich war es Ende der fünfziger Jahre das letzte Mal gestrichen worden. Der Putz an der Vorderfront bestand aus rauhen, wurmförmigen Kerben, in denen sich der Dreck der Jahrzehnte eingelagert und schwarze Rillen gebildet hatte. Es war ein Eckhaus mit einer Gaststätte und einem Metzgerladen im Erdgeschoss, und die Straße Alt-Rödelheim, in der es stand, war eng und gewunden.”
So, mit der Bausubstanz des Notbehelfs auf unfreien historischen Grundrissen, sieht auch heute noch, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg und als könnte sich niemals etwas daran ändern, ein großer Teil der deutschen Siedlungsfläche aus. Inka Pareis Buch wiegt solche Hässlichkeit durch die Ruhe auf, mit der es ihr standhält. Die Krückstöcke des alten Mannes, dem jede Treppenstufe zum Hindernis wird, setzt es wie eine Zeitlupe ein; sie verweilt auf den Gegenständen, bis die Tristesse von ihnen abgetropft ist und sie trocken und genau vorgewiesen werden können. „Ein Zinkeimer stand an der Wand, daneben ein Schrubber. Ein Putztuch war über den Eimer gebreitet worden und über seinem Rand hängend festgetrocknet, jemand hatte es heruntergerissen, und jetzt lag es umgestülpt, die Öffnung des Eimers sinnlos nachformend, auf dem Fußabtreter.” Wer einwendet, dass solche Dinge nicht weiterführen, dem sei erwidert, dass dies bei den meisten Dingen der Fall ist, und dass es nicht wahrhaben wollen den Blick auf die Welt verengt.
Andere Menschen erscheinen dem alten Mann nur wie durch eine dicke Scheibe Eis; gleichgültig was sie tun, sie wahren ihr Rätsel. Der Wirt und der Metzger, beide Mieter im Haus, bieten sich dar wie Märchenfiguren einem erschrockenen Kind; ihr Gewerbe umgibt sie mit einer Aura des auf schmierige Weise Bedrohlichen. Bei seinen Erkundungsgängen gerät der alte Mann, der die Topografie seines verwinkelten Hauses auch nach Monaten noch nicht recht erfasst hat, in die Gefrierkammer und erhascht einen Blick auf die Tochter des Wirts: Sie benutzt das blanke Metall der Fleischverpackungsmaschine als Toilettenspiegel, trägt Lippenstift auf die Wangen auf und verreibt die Farbe zu grotesken Flecken.
Am meisten beunruhigt den alten Mann der Fremde; das Zusammentreffen mit ihm setzt schließlich doch so etwas wie eine Handlung in Gang. Ein Pensionsgast scheint er zu sein, der in den frühen Morgenstunden den Ausgang nicht findet. Ihn oder etwas an ihm glaubt er zu erkennen; er ruft bei der Polizei an, um ihn als Terroristen anzuzeigen. Aber das war es nicht. Reminiszenzen setzen sich in Gang. Sie haben mit der Zeit des alten Mannes als Soldat in Russland zu tun; nach und nach schält sich das Lager heraus, in dem er Kriegsgefangene bewachte, die man verhungern ließ. Besonders tritt ihm einer vor das innere Auge, ein Russe, der sich in einem Ofen versteckt hielt; den fand er und führte die über und über geschwärzte Gestalt ab. Das Haus - auch das kommt ihm jetzt wieder - hat ihm die Witwe eines Kriegskameraden namens Karl Müller vermacht. Dieser Müller verwirrt ihn, drei verschiedene Müllers fallen ihm ein; der Name Müller gewinnt Ähnlichkeit mit dem auf dem Eimer getrockneten Putzlumpen, eine leere Form von sinnloser Deutlichkeit.
Eins allerdings glaubt man dem alten Mann und seiner Autorin nicht: Dass aus all diesen Schatten ihm zum Schluss der Begriff „seiner Schuld” entgegentritt. Ohne dieses Bekenntnis, wenn es auch noch so geistesabwesend geschieht, darf sich das schlimme Vergangene in der zeitgenössischen Literatur immer noch nicht blicken lassen. Dabei liegt auf der Hand, dass dieses Leben gerade durch die Begriffslosigkeit dessen, wohinein es geriet, mit der völligen Erstarrung der ihm verbliebenen vier Jahrzehnte gestraft worden ist. Wenn man es paradox zuspitzen will: Der alte Mann hat gesühnt, indem er nicht gesühnt hat. Und natürlich findet man auch den zweiten Automatismus am Werk, der bei jedem auch noch so kurzen Stück zeitgenössischer deutscher Prosa greift: Das Buch muss nach dem Willen des Verlags unbedingt „Roman” heißen. Dieser Name überschreitet die Qualität der Stille, durch die sich Pareis Buch auszeichnet.
BURKHARD MÜLLER
INKA PAREI: Was Dunkelheit war. Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005, 169 Seiten, 18,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Herbstschatten liegen über Deutschland
Inka Parei nimmt die Ausfahrt Rödelheim / Von Holger Noltze
Selten wurde in Klagenfurt der Bachmann-Preis so einmütig zuerkannt wie vor zwei Jahren Inka Parei, als sie dort den Anfang ihres zweiten Romans vortrug. Jury und Publikum waren sich einig, und die 1967 in Frankfurt geborene, in Berlin lebende Autorin bekam auch noch den Preis der Leser. Danach nahm Inka Parei sich Zeit. Ihr erstes, reflexhaft zum Genre "Berlin-Roman" gerechnetes Buch "Die Schattenboxerin" erschien 1999. Auch ihr neuer Roman "Was Dunkelheit war" ist ein knapper Text. Wenig schreiben ist noch kein Verdienst, hier aber die Voraussetzung für einen in seiner Dichte, Strenge und Durcharbeitung außergewöhnlichen Roman. So etwas fällt eben nicht vom Himmel.
In Klagenfurt wurde die Autorin sehr dafür gelobt, mit welcher Empathie sie sich als junge Frau in einen sterbenden alten Mann zu versetzen vermochte. Das stimmt, wäre aber wenig mehr als eine leere Kunstübung, zielte die Erzählung der letzten Stunden des Postbeamten nicht auf mehr. Er verbringt sie in einem heruntergekommenen Haus am Stadtrand von Frankfurt. Verwinkelt und finster, mit geheimnisvollen Türen, Kellern, Anbauten, erinnert es an Gregor Schneiders Gespensterhaus "Ur" auf der Biennale in Venedig. Auch hier war durch akribische Verarbeitung von Alltagsdetails ein bleibend beklemmender Eindruck hergestellt worden. Parei schafft das gleiche mit Worten, zurückgenommen, ohne Prätention und vordergründigen Effekt.
Der alte Mann hat das Haus geerbt, "er hatte einen Schreck bekommen, als er davon erfuhr. Im ersten Moment hatte er sich an den früheren Besitzer nicht mehr erinnern können." Klarheit erlangt er bis zum Ende nicht. Der Mann hieß "Müller, Vorname Karl, er war 43 an der Ostfront verschollen", und warum der ihm das Wohn- und Geschäftshaus vermacht hat, ist eines der vielen Rätsel, der Fragezeichen, die wie bei einem sich immer schneller drehenden Karussell an dem Alten vorbeiziehen. Seine Erinnerung schwimmt und findet mindestens drei Karl Müller, keine Gewißheit, nur ein dunkles Bewußtsein von Schuld. Allein im fremden Sterbe-Gehäuse, zwischen Herzrasen und Schwächeanfällen, Traum und Tod verfolgen den Alten die Bilder des Krieges: "Etwas blieb immer stehen, in Nächten wie dieser. Ein Baum, ein Stück Uniform oder jetzt: ein Maschinengewehr. Und dann sah er es meistens noch den ganzen Tag über wie aufgemalt in einer maßlosen Leere, wenn er die Augen schloß. Er sah es wie etwas, das er übersehen hatte, das er hätte beseitigen müssen."
Geräuschfetzen, unscharfe Bilder, Ahnung und Gegenwart fließen in den allerdings genau kalkulierten Beschreibungsstrom einer Nahtoderfahrung, doch das finale Bewußtseinskino bleibt aus: "Er lag still da und wartete, daß noch etwas kommen würde, aber nichts geschah."
Ein alter Mann stirbt einsam, in einem fremden Haus, in einer freudlosen Umgebung. Er beobachtet sie, den "Metzger" und den "Wirt", die Mieterfamilie Dörr, und scheint selbst unsichtbar. Als er eine Feuerschutztür öffnet, begegnet er einem Mann, den er auf dem Plakat "Gefährliche Terroristen" zu erkennen glaubt. Es ist 1977, September. Deutschland sucht die Schleyer-Entführer. Er ruft die Nummer auf dem Plakat an: "Sie haben ihn gefangengenommen, flüsterte er in den Hörer, Sie müssen ihn retten . . . ich weiß, daß er es ist. Und er ist in Gefahr." Die Stimme am Telefon ist sicher, daß das ein Irrtum ist.
Einmal verläßt der Alte sein Haus zu einem mühsamen Gang an die Nidda. Im Park am Fluß kommt er an Brentanos Gartenhaus vorbei. Goethe war hier einst zu Gast, jetzt steht es da, mit Brettern vernagelt, wie eine Erinnerung an eine Zeit vor Krieg und RAF. Im Sterben des alten Mannes hat Inka Parei die spezifische Finsternis des deutschen Herbstes mit großer Schattierungskunst ausgeleuchtet. Antworten gibt es keine. Aber "was Dunkelheit war", das können wir nun besser sehen.
Inka Parei: "Was Dunkelheit war". Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005. 169 S., geb., 18,90 [Euro].
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Inka Parei nimmt die Ausfahrt Rödelheim / Von Holger Noltze
Selten wurde in Klagenfurt der Bachmann-Preis so einmütig zuerkannt wie vor zwei Jahren Inka Parei, als sie dort den Anfang ihres zweiten Romans vortrug. Jury und Publikum waren sich einig, und die 1967 in Frankfurt geborene, in Berlin lebende Autorin bekam auch noch den Preis der Leser. Danach nahm Inka Parei sich Zeit. Ihr erstes, reflexhaft zum Genre "Berlin-Roman" gerechnetes Buch "Die Schattenboxerin" erschien 1999. Auch ihr neuer Roman "Was Dunkelheit war" ist ein knapper Text. Wenig schreiben ist noch kein Verdienst, hier aber die Voraussetzung für einen in seiner Dichte, Strenge und Durcharbeitung außergewöhnlichen Roman. So etwas fällt eben nicht vom Himmel.
In Klagenfurt wurde die Autorin sehr dafür gelobt, mit welcher Empathie sie sich als junge Frau in einen sterbenden alten Mann zu versetzen vermochte. Das stimmt, wäre aber wenig mehr als eine leere Kunstübung, zielte die Erzählung der letzten Stunden des Postbeamten nicht auf mehr. Er verbringt sie in einem heruntergekommenen Haus am Stadtrand von Frankfurt. Verwinkelt und finster, mit geheimnisvollen Türen, Kellern, Anbauten, erinnert es an Gregor Schneiders Gespensterhaus "Ur" auf der Biennale in Venedig. Auch hier war durch akribische Verarbeitung von Alltagsdetails ein bleibend beklemmender Eindruck hergestellt worden. Parei schafft das gleiche mit Worten, zurückgenommen, ohne Prätention und vordergründigen Effekt.
Der alte Mann hat das Haus geerbt, "er hatte einen Schreck bekommen, als er davon erfuhr. Im ersten Moment hatte er sich an den früheren Besitzer nicht mehr erinnern können." Klarheit erlangt er bis zum Ende nicht. Der Mann hieß "Müller, Vorname Karl, er war 43 an der Ostfront verschollen", und warum der ihm das Wohn- und Geschäftshaus vermacht hat, ist eines der vielen Rätsel, der Fragezeichen, die wie bei einem sich immer schneller drehenden Karussell an dem Alten vorbeiziehen. Seine Erinnerung schwimmt und findet mindestens drei Karl Müller, keine Gewißheit, nur ein dunkles Bewußtsein von Schuld. Allein im fremden Sterbe-Gehäuse, zwischen Herzrasen und Schwächeanfällen, Traum und Tod verfolgen den Alten die Bilder des Krieges: "Etwas blieb immer stehen, in Nächten wie dieser. Ein Baum, ein Stück Uniform oder jetzt: ein Maschinengewehr. Und dann sah er es meistens noch den ganzen Tag über wie aufgemalt in einer maßlosen Leere, wenn er die Augen schloß. Er sah es wie etwas, das er übersehen hatte, das er hätte beseitigen müssen."
Geräuschfetzen, unscharfe Bilder, Ahnung und Gegenwart fließen in den allerdings genau kalkulierten Beschreibungsstrom einer Nahtoderfahrung, doch das finale Bewußtseinskino bleibt aus: "Er lag still da und wartete, daß noch etwas kommen würde, aber nichts geschah."
Ein alter Mann stirbt einsam, in einem fremden Haus, in einer freudlosen Umgebung. Er beobachtet sie, den "Metzger" und den "Wirt", die Mieterfamilie Dörr, und scheint selbst unsichtbar. Als er eine Feuerschutztür öffnet, begegnet er einem Mann, den er auf dem Plakat "Gefährliche Terroristen" zu erkennen glaubt. Es ist 1977, September. Deutschland sucht die Schleyer-Entführer. Er ruft die Nummer auf dem Plakat an: "Sie haben ihn gefangengenommen, flüsterte er in den Hörer, Sie müssen ihn retten . . . ich weiß, daß er es ist. Und er ist in Gefahr." Die Stimme am Telefon ist sicher, daß das ein Irrtum ist.
Einmal verläßt der Alte sein Haus zu einem mühsamen Gang an die Nidda. Im Park am Fluß kommt er an Brentanos Gartenhaus vorbei. Goethe war hier einst zu Gast, jetzt steht es da, mit Brettern vernagelt, wie eine Erinnerung an eine Zeit vor Krieg und RAF. Im Sterben des alten Mannes hat Inka Parei die spezifische Finsternis des deutschen Herbstes mit großer Schattierungskunst ausgeleuchtet. Antworten gibt es keine. Aber "was Dunkelheit war", das können wir nun besser sehen.
Inka Parei: "Was Dunkelheit war". Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2005. 169 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "außergewöhnlich" lobt Rezensent Holger Noltze diesen Roman von Inka Parei. Die hohe Qualität des knappen Textes sieht der Rezensent vor allem in seiner Dichte, Strenge und Durcharbeitung begründet. Es geht, lesen wir, an der Oberfläche um das Sterben eines Postbeamten. Den Rezensenten beeindruckt die Empathie, mit der sich die 1967 geborene Autorin hier in einen Sterbenden hineinversetzt, die Schattierungskunst, mit der sie das Geschehen auszuleuchten versteht. Mehr noch beeindruckt ihn, wie "Geräuschfetzen, unscharfe Bilder, Ahnung und Gegenwart", ja selbst noch bundesrepublikanische Geschichte in diese Nahtoderfahrung einfließen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein in seiner Dichte, Strenge und Durcharbeitung außergewöhnlicher Roman.« Holger Noltze / Frankfurter Allgemeine Zeitung»Was Dunkelheit war ist große Literatur. Parei dramatisiert [...] diese Bilderflut derart perfekt, daß man sich dem Sog kaum entziehen kann.« Elmar Krekeler / Die Literarische WELT»Inka Parei erzählt in einer differenzierten und vielschichtigen Sprache vom Leben und Sterben eines Postbeamten - und schreibt den Gesellschaftsroman unserer Tage.« Katharina Döbler / Die ZEIT»In Pareis Romanen findet sich kein beliebiger, kein einziger von der poetologischen Phantasie der Autorin abweichender Satz. Und diese Phantasie ist ihre unverwechselbare Handschrift.« Ursula März / Frankfurter Rundschau»Mit großer Souveränität bewegt sich Parei in einer Bewusstseinsregion, die sie als 'Zwischenland' bezeichnet, irgendwo zwischen Todesnähe und Traum, [...] Überreiztheit und der Verselbständigung des Denkens.« Jörg Magenau / taz die tageszeitung»Parei stellt die [...] Mühen desAlters meisterlich dar, detailliert und so anschaulich, dass man sich [...] kaum noch aus dem Sessel zu erheben vermag.« Daniela Strigl / Falter»Inka Parei hat ein ausgeprägtes Sensorium für die Phänomene, für die sinnlichen Details, in denen die Gewaltverhältnisse der deutschen Geschichte gespeichert sind.« Michael Braun / Die Rheinpfalz»Wer in der atmosphärischen Sprache von Inka Parei die Kälte dieser einsamen Existenz spürt, dem wird beim Lesen ganz warm ums Herz.« Michael Humboldt / Gießener Allgemeine»Inka Parei erzählt sehr aufmerksam und konzentriert ein Lebensende - ein Finale von leiser und doch himmelschreiender Dramatik.« Bernadette Conrad / Tagblatt