Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2008Ein Hauch von Mütterlichkeit und Domina-Peitsche
Italien, was bist du so liebreizend und verlogen: Gianni Celati träumt in „Was für ein Leben!” von einem Land, in dem die Röcke wippen
Ach, wie war das damals doch schön. Damals, in diesem zeitlosen Nachkriegs-Italien, in dem brünstige Gymnasiasten sich an vollbusigen Passantinnen erregten, traurige Bankangestellte ihr Heil in der Literatur suchten und alte Jungfern ein Federhütchen spazieren führten. Ein erinnerungsseliger Ich-Erzähler traumwandelt in Gianni Celatis Erzählungsband „Was für ein Leben!” durch seine Vergangenheit, lässt die alten Schulkameraden und stadtbekannten Witzfiguren in einer fellinesken Nummern-Show Revue passieren, und siehe da, es ist doch nicht alles so golden auf dieser sentimentalen Reise. Eher schon fäkalbraun. Oder leichenfahl. Oder grabähnlich eng.
Gianni Celati ist alles andere als ein harmloser Erzähler. Er gehört zu den literarisch avanciertesten Autoren Italiens, und wenn er einen schmelzenden Onkel-Ton anschlägt, ist Vorsicht geboten. Der Anglist und Amerikanist, der dem Wissenschaftsbetrieb den Rücken gekehrt hat, schreibt oft viele Jahre an seinen schmalen Büchern und hat mit einer formal perfekt durchkomponierten Literatur auf sich aufmerksam gemacht. So leicht und fein tänzeln auch diese Episoden aus dem Alltag der Italiener dahin, dass man meistens erst recht spät merkt, in welche Untiefen die freundlichen Erzählgesten hinabführen.
Auf Italienisch heißen die Bände, aus denen diese Geschichten stammen, „Costumi degli Italiani”, und die Sitten und Gebräuche seiner alten Landsleute sind es auch, die der in England lebende, ethnologisch interessierte Celati mit sicherem Gefühl für kollektive Macken überzeichnet. Der deutsche Titel, „Was für ein Leben!”, ist vielleicht ein bisschen zu schwelgerisch geraten. Da ist zum Beispiel der junge Pucci, der schon dreimal sitzengeblieben ist und immer nur stumpf vor sich hinstiert. Abends „weidet” er mit seinem Freund Bordignoni auf den Straßen und Plätzen des Städtchens, das heißt, die beiden drehen ziellos ihre Runden, wobei vor allem Bordignoni verzweifelt nach Triebabfuhr-Chancen sucht. Den vegetativen Pucci lässt das alles kalt. In einer der folgenden Geschichten, die untereinander alle verbunden sind wie ein vielgliedriges Kanalsystem, heißt es, dass er sich an den einfachen Dingen erfreut: an den dickbäuchigen Buchstaben des Alphabets oder am Geräusch der Klospülung, das er im Irrenhaus ausgiebig studiert.
In der Psychiatrie landet er nämlich, und die Beiläufigkeit, mit der er im breiten Erzählstrom dort hingetrieben wird, ist typisch für diese Geschichten, die das Unheimliche als Teil einer großen Komödie in Szene setzen.
Der prächtige Reigen aus italienischen Archetypen scheint sich immer weiterzudrehen: der verpickelte Jung-Intellektuelle, der den Rentnern im Tabakladen die Welt erklärt; der reaktionäre Rechtsanwalt, der sich für die Todesstrafe begeistert; die kurvenreiche Schöne, die ihren Rock für den Monsignore wippen lässt, der eitle Schriftsteller, dessen Schließmuskel zuckt, wenn Kritik an seinen 27 historischen Romanen laut wird.
Untergang der Meisterwerke
Überhaupt hat die anale Phase, wie es sich für surreale Gedächtnislandschaften gehört, einen starken Auftritt: In der Erzählung „Der Klassentraum” ist das Schulklo nicht nur einer der wichtigen Erinnerungsorte, nein, im Traum kommt es noch viel schlimmer: „In einer von Pisse, die bis zum Knie reicht, überschwemmten Latrine mit vollständig verstopftem Loch sehe ich meine Bücher, die ich als junger Mann geschrieben habe, und auch die Meisterwerke, die ich im Lauf meines Lebens noch schreiben werde, untertauchen in der Scheiße der reichen Gymnasiasten.”
Was hier im Kloaken-Szenario kulminiert, wird in den übrigen Erzählungen in zarteren Farben geschildert: das Leben im Italien der fünfziger Jahre, jener Heimat der komischen Verzweiflung, die es so vielleicht nie gegeben hat. Gianni Celati ist ein Spezialist für die phantastische Überdrehung, die er in seinen Romanen noch viel gewitzter zum Einsatz gebracht hat als in seinen Alltags-Episoden. In „Fata Morgana” (deutsch 2007) war es ein fiktives Wüstenvolk, das nach allen Regeln der ethnologischen Kunst durchleuchtet wurde und das dabei viel mehr über den Beobachter selbst verriet. In „Was für ein Leben!” sind es vor allem die Frauen, die als immer wiederkehrende Beobachtungsobjekte ins Zentrum des volkskundlichen Interesses rücken. Sie sind mit üppigen Formen gesegnet, schwingen stolz die Hüften und tragen enge Kleider mit tiefen Ausschnitten. Ein Hauch von Mütterlichkeit und Domina-Peitsche umweht diese Figuren, und wieder gelingt es Celati, Interessantes über die männlichen Augen zu erzählen, die solche Liebesblicke werfen.
Sein Ich-Erzähler beweist trefflich, dass gerade die größten Frauenfreunde von der grundsätzlichen Verschlagenheit und Käuflichkeit ihrer Liebesobjekte überzeugt sind! „Von der Höhe ihrer Absätze aus schaute Frau Juno alle von oben herab an wie eine, die niemanden braucht, wobei sie unter anderem sehr stolz auf ihre Figur war. Das konnte man gut erkennen, wenn sie beim Tabakladen vorbeikam, hoch erhobenen Hauptes, entschiedenen, aber auch federnden Schritts, was eine komplexe Bewegung ihrer rückwärtigen Körperteile hervorrief.” Komplexe Bewegungen – zwischen Erinnern und Erfinden, zwischen Phantastik und Beobachtung realer Gesten – sind das Spezialgebiet des Formalisten Celati, der in den siebziger Jahren von Italo Calvino entdeckt wurde. Auch wenn ein paar zusätzliche Spannungskurven in diesem ausladenden Erzählstrom nicht geschadet hätten: mit seinen Alltags-Episoden zeigt Gianni Celati, wie man die großen italienischen Nachkriegsfetische mit leichter Feder aufs Korn nehmen kann. JUTTA PERSON
GIANNI CELATI: Was für ein Leben! Episoden aus dem Alltag der Italiener. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 172 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Italien, was bist du so liebreizend und verlogen: Gianni Celati träumt in „Was für ein Leben!” von einem Land, in dem die Röcke wippen
Ach, wie war das damals doch schön. Damals, in diesem zeitlosen Nachkriegs-Italien, in dem brünstige Gymnasiasten sich an vollbusigen Passantinnen erregten, traurige Bankangestellte ihr Heil in der Literatur suchten und alte Jungfern ein Federhütchen spazieren führten. Ein erinnerungsseliger Ich-Erzähler traumwandelt in Gianni Celatis Erzählungsband „Was für ein Leben!” durch seine Vergangenheit, lässt die alten Schulkameraden und stadtbekannten Witzfiguren in einer fellinesken Nummern-Show Revue passieren, und siehe da, es ist doch nicht alles so golden auf dieser sentimentalen Reise. Eher schon fäkalbraun. Oder leichenfahl. Oder grabähnlich eng.
Gianni Celati ist alles andere als ein harmloser Erzähler. Er gehört zu den literarisch avanciertesten Autoren Italiens, und wenn er einen schmelzenden Onkel-Ton anschlägt, ist Vorsicht geboten. Der Anglist und Amerikanist, der dem Wissenschaftsbetrieb den Rücken gekehrt hat, schreibt oft viele Jahre an seinen schmalen Büchern und hat mit einer formal perfekt durchkomponierten Literatur auf sich aufmerksam gemacht. So leicht und fein tänzeln auch diese Episoden aus dem Alltag der Italiener dahin, dass man meistens erst recht spät merkt, in welche Untiefen die freundlichen Erzählgesten hinabführen.
Auf Italienisch heißen die Bände, aus denen diese Geschichten stammen, „Costumi degli Italiani”, und die Sitten und Gebräuche seiner alten Landsleute sind es auch, die der in England lebende, ethnologisch interessierte Celati mit sicherem Gefühl für kollektive Macken überzeichnet. Der deutsche Titel, „Was für ein Leben!”, ist vielleicht ein bisschen zu schwelgerisch geraten. Da ist zum Beispiel der junge Pucci, der schon dreimal sitzengeblieben ist und immer nur stumpf vor sich hinstiert. Abends „weidet” er mit seinem Freund Bordignoni auf den Straßen und Plätzen des Städtchens, das heißt, die beiden drehen ziellos ihre Runden, wobei vor allem Bordignoni verzweifelt nach Triebabfuhr-Chancen sucht. Den vegetativen Pucci lässt das alles kalt. In einer der folgenden Geschichten, die untereinander alle verbunden sind wie ein vielgliedriges Kanalsystem, heißt es, dass er sich an den einfachen Dingen erfreut: an den dickbäuchigen Buchstaben des Alphabets oder am Geräusch der Klospülung, das er im Irrenhaus ausgiebig studiert.
In der Psychiatrie landet er nämlich, und die Beiläufigkeit, mit der er im breiten Erzählstrom dort hingetrieben wird, ist typisch für diese Geschichten, die das Unheimliche als Teil einer großen Komödie in Szene setzen.
Der prächtige Reigen aus italienischen Archetypen scheint sich immer weiterzudrehen: der verpickelte Jung-Intellektuelle, der den Rentnern im Tabakladen die Welt erklärt; der reaktionäre Rechtsanwalt, der sich für die Todesstrafe begeistert; die kurvenreiche Schöne, die ihren Rock für den Monsignore wippen lässt, der eitle Schriftsteller, dessen Schließmuskel zuckt, wenn Kritik an seinen 27 historischen Romanen laut wird.
Untergang der Meisterwerke
Überhaupt hat die anale Phase, wie es sich für surreale Gedächtnislandschaften gehört, einen starken Auftritt: In der Erzählung „Der Klassentraum” ist das Schulklo nicht nur einer der wichtigen Erinnerungsorte, nein, im Traum kommt es noch viel schlimmer: „In einer von Pisse, die bis zum Knie reicht, überschwemmten Latrine mit vollständig verstopftem Loch sehe ich meine Bücher, die ich als junger Mann geschrieben habe, und auch die Meisterwerke, die ich im Lauf meines Lebens noch schreiben werde, untertauchen in der Scheiße der reichen Gymnasiasten.”
Was hier im Kloaken-Szenario kulminiert, wird in den übrigen Erzählungen in zarteren Farben geschildert: das Leben im Italien der fünfziger Jahre, jener Heimat der komischen Verzweiflung, die es so vielleicht nie gegeben hat. Gianni Celati ist ein Spezialist für die phantastische Überdrehung, die er in seinen Romanen noch viel gewitzter zum Einsatz gebracht hat als in seinen Alltags-Episoden. In „Fata Morgana” (deutsch 2007) war es ein fiktives Wüstenvolk, das nach allen Regeln der ethnologischen Kunst durchleuchtet wurde und das dabei viel mehr über den Beobachter selbst verriet. In „Was für ein Leben!” sind es vor allem die Frauen, die als immer wiederkehrende Beobachtungsobjekte ins Zentrum des volkskundlichen Interesses rücken. Sie sind mit üppigen Formen gesegnet, schwingen stolz die Hüften und tragen enge Kleider mit tiefen Ausschnitten. Ein Hauch von Mütterlichkeit und Domina-Peitsche umweht diese Figuren, und wieder gelingt es Celati, Interessantes über die männlichen Augen zu erzählen, die solche Liebesblicke werfen.
Sein Ich-Erzähler beweist trefflich, dass gerade die größten Frauenfreunde von der grundsätzlichen Verschlagenheit und Käuflichkeit ihrer Liebesobjekte überzeugt sind! „Von der Höhe ihrer Absätze aus schaute Frau Juno alle von oben herab an wie eine, die niemanden braucht, wobei sie unter anderem sehr stolz auf ihre Figur war. Das konnte man gut erkennen, wenn sie beim Tabakladen vorbeikam, hoch erhobenen Hauptes, entschiedenen, aber auch federnden Schritts, was eine komplexe Bewegung ihrer rückwärtigen Körperteile hervorrief.” Komplexe Bewegungen – zwischen Erinnern und Erfinden, zwischen Phantastik und Beobachtung realer Gesten – sind das Spezialgebiet des Formalisten Celati, der in den siebziger Jahren von Italo Calvino entdeckt wurde. Auch wenn ein paar zusätzliche Spannungskurven in diesem ausladenden Erzählstrom nicht geschadet hätten: mit seinen Alltags-Episoden zeigt Gianni Celati, wie man die großen italienischen Nachkriegsfetische mit leichter Feder aufs Korn nehmen kann. JUTTA PERSON
GIANNI CELATI: Was für ein Leben! Episoden aus dem Alltag der Italiener. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Wagenbach Verlag, Berlin 2008. 172 Seiten, 19,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2009Blitze und Schauder
Gianni Celatis große italienische Seifenoper
Italien steht hierzulande gerade nicht hoch im Kurs. Erst werfen uns die italienischen Fußballer vor zwei Jahren aus der WM und werden selbst Weltmeister, und dann wählen sie immer wieder Berlusconi. Warum also sollten wir ein Buch lesen, das im Untertitel Episoden aus dem Alltag der Italiener heißt?
Die erste Antwort darauf lautet: weil es von Gianni Celati geschrieben ist, dem schon vor Jahren bescheinigt wurde, dass er unter den italienischen Autoren "einer von vier oder fünf aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts" sei, die bleiben werden. Nun sollte man mit solchen Urteilen als Zeitgenosse vorsichtig sein, aber dass Celatis Bücher turmhoch über dem Kunstgewerbe mancher seiner vielgelesenen Landsleute stehen, steht außer Frage.
Die zweite Antwort lautet: weil es auf der Höhe der Zeit ist. Celati weiß, dass das Leben schon lange nicht mehr in den großen Kolossalgemälden wiedergegeben werden kann, die sich beim Buchhandel ungebrochener Beliebtheit erfreuen, und dass beim Bemühen um die Wirklichkeit kruder Realismus ein untaugliches Mittel ist. Deshalb kippen seine Geschichten immer wieder aus den Latschen, kommentieren sich selbst oder laufen scheinbar ganz und gar aus dem Ruder.
Das ist alles andere als ein verspielter Manierismus. Der Verlag bemerkt im Klappentext ganz richtig, Celati reihe die Episoden "wie in einer Vorabendserie aneinander: Personen treten auf und wieder ab, ihre Lebensläufe werden miteinander verflochten." Das gibt dann allerdings am Ende kein ruhiges stimmiges Bild, in dem alles zueinanderpasst. Ein Roman wird daraus nicht.
Anders als bei den heute gängigen Seifenopern berichten Celatis Erzählungen von einer Zeit, die schon Jahrzehnte zurückliegt: nicht jedoch als gesicherte Erinnerung. Der Erzähler, der sich immer wieder einmischt, ist nicht genau zu verorten. In einigen der Geschichten ist er Handelnder, meist aber tritt er nur als Kommentator auf, einer, der sich seiner Sache keineswegs sicher ist. "Wie jetzt die Feder so übers Papier gleitet, kommen viele Tatsachen hervor, die aus einem Sumpf vergessener Dinge aufsteigen, wobei sie Orte und Personen zum Vorschein bringen, die es irgendwo unter dem Himmel gegeben haben muss."
Das alles ist unbestimmt genug, soll aber nicht heißen, dass die einzelnen Geschichten nebulös oder gar fade wären. Sie fallen im Gegenteil eher recht abenteuerlich aus, allein deshalb schon, weil die handelnden Personen meist ihre eigene Lage und ihre eigenen Motive nicht so recht verstehen. Das haben sie durchaus mit den Protagonisten von Vorabendserien gemeinsam.
Merkwürdige Dinge geschehen: Die Helden der ersten Geschichte enden in einer Art Höhle, "voller Gestrüpp und Scheiße und dem Abfall vieler Jahreszeiten". Ein Schriftsteller - ein Verfasser von historischen Romanen! - kommt plötzlich auf den Gedanken, dass all die Lobeshymnen, die seine Mitmenschen seit Jahren auf ihn singen, geheuchelt sein könnten. Der Bankangestellte Bacchini ruiniert seine Karriere, als er plötzlich beginnt, Geschichten zu schreiben, die gut genug sind, um veröffentlicht zu werden. Lauter Erzählungen, die sich mit den letzten Sätzen der Geschichte "Ein moderner Held" resümieren ließen: "Ich möchte wirklich wissen, wo sie alle hingekommen sind und ob es uns wirklich gegeben hat und ob das tatsächlich das Leben ist. Oder alles nur ein Irrtum, nur Blitze, Schauder und wer weiß was."
Doch, es ist das Leben, und das ist meist so traurig, dass Celati es uns kaum zu sagen getraut. In der letzten Geschichte, "Cornelias Abenteuer", finden aber doch noch ein Held und eine Heldin zueinander, "immerfort auf der Flucht, bis dass der Tod sie scheidet". Das kann man auch so sehen: Sie kommen davon. Sollte uns das nicht trösten?
JOCHEN SCHIMMANG
Gianni Celati: "Was für ein Leben!" Episoden aus dem Alltag der Italiener. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 172 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gianni Celatis große italienische Seifenoper
Italien steht hierzulande gerade nicht hoch im Kurs. Erst werfen uns die italienischen Fußballer vor zwei Jahren aus der WM und werden selbst Weltmeister, und dann wählen sie immer wieder Berlusconi. Warum also sollten wir ein Buch lesen, das im Untertitel Episoden aus dem Alltag der Italiener heißt?
Die erste Antwort darauf lautet: weil es von Gianni Celati geschrieben ist, dem schon vor Jahren bescheinigt wurde, dass er unter den italienischen Autoren "einer von vier oder fünf aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts" sei, die bleiben werden. Nun sollte man mit solchen Urteilen als Zeitgenosse vorsichtig sein, aber dass Celatis Bücher turmhoch über dem Kunstgewerbe mancher seiner vielgelesenen Landsleute stehen, steht außer Frage.
Die zweite Antwort lautet: weil es auf der Höhe der Zeit ist. Celati weiß, dass das Leben schon lange nicht mehr in den großen Kolossalgemälden wiedergegeben werden kann, die sich beim Buchhandel ungebrochener Beliebtheit erfreuen, und dass beim Bemühen um die Wirklichkeit kruder Realismus ein untaugliches Mittel ist. Deshalb kippen seine Geschichten immer wieder aus den Latschen, kommentieren sich selbst oder laufen scheinbar ganz und gar aus dem Ruder.
Das ist alles andere als ein verspielter Manierismus. Der Verlag bemerkt im Klappentext ganz richtig, Celati reihe die Episoden "wie in einer Vorabendserie aneinander: Personen treten auf und wieder ab, ihre Lebensläufe werden miteinander verflochten." Das gibt dann allerdings am Ende kein ruhiges stimmiges Bild, in dem alles zueinanderpasst. Ein Roman wird daraus nicht.
Anders als bei den heute gängigen Seifenopern berichten Celatis Erzählungen von einer Zeit, die schon Jahrzehnte zurückliegt: nicht jedoch als gesicherte Erinnerung. Der Erzähler, der sich immer wieder einmischt, ist nicht genau zu verorten. In einigen der Geschichten ist er Handelnder, meist aber tritt er nur als Kommentator auf, einer, der sich seiner Sache keineswegs sicher ist. "Wie jetzt die Feder so übers Papier gleitet, kommen viele Tatsachen hervor, die aus einem Sumpf vergessener Dinge aufsteigen, wobei sie Orte und Personen zum Vorschein bringen, die es irgendwo unter dem Himmel gegeben haben muss."
Das alles ist unbestimmt genug, soll aber nicht heißen, dass die einzelnen Geschichten nebulös oder gar fade wären. Sie fallen im Gegenteil eher recht abenteuerlich aus, allein deshalb schon, weil die handelnden Personen meist ihre eigene Lage und ihre eigenen Motive nicht so recht verstehen. Das haben sie durchaus mit den Protagonisten von Vorabendserien gemeinsam.
Merkwürdige Dinge geschehen: Die Helden der ersten Geschichte enden in einer Art Höhle, "voller Gestrüpp und Scheiße und dem Abfall vieler Jahreszeiten". Ein Schriftsteller - ein Verfasser von historischen Romanen! - kommt plötzlich auf den Gedanken, dass all die Lobeshymnen, die seine Mitmenschen seit Jahren auf ihn singen, geheuchelt sein könnten. Der Bankangestellte Bacchini ruiniert seine Karriere, als er plötzlich beginnt, Geschichten zu schreiben, die gut genug sind, um veröffentlicht zu werden. Lauter Erzählungen, die sich mit den letzten Sätzen der Geschichte "Ein moderner Held" resümieren ließen: "Ich möchte wirklich wissen, wo sie alle hingekommen sind und ob es uns wirklich gegeben hat und ob das tatsächlich das Leben ist. Oder alles nur ein Irrtum, nur Blitze, Schauder und wer weiß was."
Doch, es ist das Leben, und das ist meist so traurig, dass Celati es uns kaum zu sagen getraut. In der letzten Geschichte, "Cornelias Abenteuer", finden aber doch noch ein Held und eine Heldin zueinander, "immerfort auf der Flucht, bis dass der Tod sie scheidet". Das kann man auch so sehen: Sie kommen davon. Sollte uns das nicht trösten?
JOCHEN SCHIMMANG
Gianni Celati: "Was für ein Leben!" Episoden aus dem Alltag der Italiener. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 172 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Von der scheinbar goldenen Nostalgie, die diese "Episoden aus dem Alltag der Italiener" durchweht, soll man sich laut Jutta Person nicht täuschen lassen. Denn wenn man der Rezensentin glauben darf, ist Gianni Celati ein raffinierter Erzähler, der in seinen erinnerungsträchtigen Geschichten aus dem Italien der Nachkriegszeit Abgründe hinter dem "Onkel-Ton" seines Erzählers verbirgt. Person würdigt in Celati einen der "literarisch avanciertesten" italienischen Schriftsteller, der in den Erzählungen des vorliegenden Bandes, die miteinander verbunden sind, jede Menge italienische "Archetypen" aufmarschieren lässt. Dabei zeige sich der Anglist und Amerikanist, der heute in England lebt, als Volkskundler mit sicherem Blick für die "Macken" der Landsleute, amüsiert sich die Rezensentin. Zudem ist hier einmal mehr der Meister surrealer Überspitzung zu entdecken, als der er auch in seinen Romanen zutage tritt, so die Rezensentin gefesselt. Etwas mehr Spannung, das muss Person einräumen, hätten diesem ausufernden Geschichtenfluss mitunter ganz gut getan. Insgesamt aber zeigt sie sich entzückt, wie Celati mit leichter Hand "große italienische Nachkriegsfetische" "aufs Korn" nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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