Peter Sloterdijk ist erwiesenermaßen ein Schriftsteller von hohem Rang. Was nicht jedermann vertraut ist: Er ist ein brillanter Rhetor. Seine in diesem Band gedruckten Vorträge entstanden zwischen 2005 und 2014 und thematisieren, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Anlässen, welche Lasten, welche Lehren, welche Hoffnungen das 20. dem folgenden Jahrhundert vermacht hat.
Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von "Atomzeitalter" bis "Globalisierung", beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage - Was geschah im 20. Jahrhundert?. Eine reine Ereignis- oder Ideengeschichte kann die Bedeutung dieses Jahrhunderts für die Nachwelt ebenfalls nicht erfassen. Deshalb, so die These von Peter Sloterdijk, sind völlig neue Vorgehensweisen auf allen Feldern notwendig, von der Ökonomie bis zur Philosophie. Und dabei kommt, nicht ohne Sloterdijks Ironie und Metaphernkunst, dem Schatz eine zentrale Stellung zu: Diesen Schatz, also die Natur, die Heimat, das Raumschiff Erde, gilt es zu bewahren gegen die extremistische Vernunft, die das vergangene Jahrhundert prägte. Als explizite Botschaft formuliert: "Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht."
Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von "Atomzeitalter" bis "Globalisierung", beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage - Was geschah im 20. Jahrhundert?. Eine reine Ereignis- oder Ideengeschichte kann die Bedeutung dieses Jahrhunderts für die Nachwelt ebenfalls nicht erfassen. Deshalb, so die These von Peter Sloterdijk, sind völlig neue Vorgehensweisen auf allen Feldern notwendig, von der Ökonomie bis zur Philosophie. Und dabei kommt, nicht ohne Sloterdijks Ironie und Metaphernkunst, dem Schatz eine zentrale Stellung zu: Diesen Schatz, also die Natur, die Heimat, das Raumschiff Erde, gilt es zu bewahren gegen die extremistische Vernunft, die das vergangene Jahrhundert prägte. Als explizite Botschaft formuliert: "Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.03.2016Kritik der prophetischen Vernunft
Das Erdenbürgertum muss die Sonne neu interpretieren: Peter Sloterdijk blickt zurück auf das zwanzigste Jahrhundert - und nach vorn auf die nächsten Weltalter.
Der Titel von Peter Sloterdijks neuem Buch weckt die Erwartung einer übergreifenden Deutung des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Essays und Vorträge, die der Band versammelt, sind jedoch eher eine kreisende Sammlung von idiosynkratisch-philosophischen Gedanken über Mensch und Umwelt mit Blick auf die Zukunft. Wie man es von Peter Sloterdijk gewohnt ist, sprudeln die Metaphern und Neologismen, und sie verbinden sich mit unkonventionellen Assoziationen, überraschenden Analogien und originellen Perspektiven.
Dabei geht es um nicht weniger als "Weltalter" und "Gigantenkämpfe" im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem recht eindeutige Prognosen gestellt werden: ein aus aktueller Beobachtung vielleicht schlüssiger, in langer Perspektive freilich weniger eindeutiger Übergang vom Weltalter der "Gesellschaft der dichten Container" zu Gesellschaften der schwachen Grenzen und durchlässigen Außenhäute oder auch eine kurzfristig negative, längerfristig jedoch positive Entwicklung der Selbstdomestikation der Menschheit. Dem erfahrungsbedingt vorsichtigen Historiker ringt das ebenso viel Bewunderung wie Skepsis ab, zumal die empirischen Belege - etwa: "nach Auskünften von Institutionen für strategische Forschung" - gegenüber der mit großer Geste geschöpften Erkenntnis eher vage ausfallen.
Aber das sind womöglich Historikerkleinlichkeiten gegenüber dem großen Ganzen. Was geschah nun also im zwanzigsten Jahrhundert? Als Hauptereignis benennt Sloterdijk die "Wahrmachung des alchemistischen Traums". Anknüpfend an eine bis zum Beginn der europäischen Überseefahrten zurückreichende Tradition habe sich ein Umschwung vom Streben nach Erlösung zur Suche nach Erleichterung vollzogen. Mit der Dampfmaschine löste die moderne Technik Kraft von Körperanstrengung, Motoren wurden zu Agenten der Entlastung.
Das "Technozän" führte einen Paradigmenwechsel von der Knappheit zum Überschuss herbei. Die Konsumgesellschaft, die sich seit den zwanziger Jahren in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa etablierte, frönte dem Prinzip der Verschwendung. Das hatte zwei Folgen, die für Sloterdijk zu einer neuerlichen "Umwertung aller Werte" im einundzwanzigsten Jahrhundert führen.
Die erste Folge lag in der "Ausbeutungsverschiebung auf ein neues Unten": massenhaft erzeugte und verwertete Nutztiere. Dass sich in dieser Hinsicht eine Umwertung anbahnt, indem die Menschenrechtsbewegung auch auf Tiere ausgeweitet wird, deutet sich in der Tat an. Die zweite Konsequenz des "Technozäns" lag im Übergang zu fossilen Energien. Kohle und Öl waren "der wirkliche Agent des Prinzips Sofort". Die Umwertung werde hier dazu führen, dass die "Romantik der Explosion", an der sich das industrielle Maschinenzeitalter ergötzte, als "Ausdruckswelt eines massenkulturell globalisierten energetischen Faschismus" erscheinen wird. Demgegenüber könnten eine "postkapitalistische Weltform und eine entsprechende Ethik" nur "von einer neuen Interpretation der Sonne ausgehen".
Wenn Sloterdijk eine "hybride Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung" prognostiziert, dann überwölbt dieser große Entwurf die aktuellen Auseinandersetzungen über Klimapolitik und die Zukunft des Kapitalismus, in denen die unterschiedlichen Komponenten einstweilen freilich nicht so einfach und harmonisch zusammenpassen. Zu Recht weist Sloterdijk darauf hin, dass der Begriff des "Anthropozäns", den der niederländische Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen 2000 aufbrachte, gerne im hohen Ton apokalyptischer Warnungen und des Rufs nach Umkehr verwendet wird.
Ein Beispiel dafür ist der "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation", den der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltfragen (WBGU) im Jahr 2011 unterbreitete und dem es um nicht weniger als tiefgreifende weltweite Änderungen von Infrastrukturen und Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen sowie um einen "zivilisatorischen Quantensprung" mit dem Ziel einer "gerechten neuen Weltordnung" geht.
Dem scheint Sloterdijk zu entsprechen, wenn er für die Idee eines "neu zu gründenden politischen Verhältnisses namens ,Erdenbürgertum'" plädiert. Andererseits spricht er von "meteorologischem Sozialismus" und einer bevorstehenden "Titanomachie", an deren Ende sich die Menschen nach "Rettung vor den Rettern" sehnen könnten. Zu Recht mahnt Sloterdijk die "Kritik der prophetischen Vernunft" an. Denn während vieles für die schwerwiegende Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel spricht, sind in diesem Diskurs zugleich langlebige Muster erkennbar.
Er schreibt das alte Narrativ fort, dass der Mensch durch sein Handeln die Welt ins Unheil stürze. Eine Aussage als Topos zu identifizieren bedeutet nicht, dass sie falsch ist. Aber es stellt sie in eine historische Perspektive, und in dieser zeigt sich, dass apokalyptische Mahnungen zur Umkehr sich immer wieder mit der autoritären Versuchung verbunden haben, die volonté generale zu bestimmen.
Solcher "Anmaßung von Wissen" hat Friedrich-August von Hayek den "Markt als Entdeckungsverfahren" gegenübergestellt. In diesem Sinne bringt auch Sloterdijk die noch unentdeckten Möglichkeiten der Technik, die "Fortführung natürlicher Produktionsprinzipien auf artifizieller Ebene" ins Spiel. Doch beide Positionen, piecemeal engineering und Große Transformation, qualitatives Wachstum und Umkehr des Kapitalismus, gehen einstweilen nicht zusammen.
Sloterdijks Entwurf einer zukünftigen Synthese ist groß dimensioniert, einstweilen aber entfernt von den Realitäten der aktuellen Debatte. Zugleich besagt die historische Erfahrung, nicht zuletzt des zwanzigsten Jahrhunderts, dass die Zukunft in doppelter Weise anders sein wird: anders als die Gegenwart und anders als erwartet.
ANDREAS RÖDDER
Peter Sloterdijk:
"Was geschah im
20. Jahrhundert?"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 348 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Erdenbürgertum muss die Sonne neu interpretieren: Peter Sloterdijk blickt zurück auf das zwanzigste Jahrhundert - und nach vorn auf die nächsten Weltalter.
Der Titel von Peter Sloterdijks neuem Buch weckt die Erwartung einer übergreifenden Deutung des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Essays und Vorträge, die der Band versammelt, sind jedoch eher eine kreisende Sammlung von idiosynkratisch-philosophischen Gedanken über Mensch und Umwelt mit Blick auf die Zukunft. Wie man es von Peter Sloterdijk gewohnt ist, sprudeln die Metaphern und Neologismen, und sie verbinden sich mit unkonventionellen Assoziationen, überraschenden Analogien und originellen Perspektiven.
Dabei geht es um nicht weniger als "Weltalter" und "Gigantenkämpfe" im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem recht eindeutige Prognosen gestellt werden: ein aus aktueller Beobachtung vielleicht schlüssiger, in langer Perspektive freilich weniger eindeutiger Übergang vom Weltalter der "Gesellschaft der dichten Container" zu Gesellschaften der schwachen Grenzen und durchlässigen Außenhäute oder auch eine kurzfristig negative, längerfristig jedoch positive Entwicklung der Selbstdomestikation der Menschheit. Dem erfahrungsbedingt vorsichtigen Historiker ringt das ebenso viel Bewunderung wie Skepsis ab, zumal die empirischen Belege - etwa: "nach Auskünften von Institutionen für strategische Forschung" - gegenüber der mit großer Geste geschöpften Erkenntnis eher vage ausfallen.
Aber das sind womöglich Historikerkleinlichkeiten gegenüber dem großen Ganzen. Was geschah nun also im zwanzigsten Jahrhundert? Als Hauptereignis benennt Sloterdijk die "Wahrmachung des alchemistischen Traums". Anknüpfend an eine bis zum Beginn der europäischen Überseefahrten zurückreichende Tradition habe sich ein Umschwung vom Streben nach Erlösung zur Suche nach Erleichterung vollzogen. Mit der Dampfmaschine löste die moderne Technik Kraft von Körperanstrengung, Motoren wurden zu Agenten der Entlastung.
Das "Technozän" führte einen Paradigmenwechsel von der Knappheit zum Überschuss herbei. Die Konsumgesellschaft, die sich seit den zwanziger Jahren in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa etablierte, frönte dem Prinzip der Verschwendung. Das hatte zwei Folgen, die für Sloterdijk zu einer neuerlichen "Umwertung aller Werte" im einundzwanzigsten Jahrhundert führen.
Die erste Folge lag in der "Ausbeutungsverschiebung auf ein neues Unten": massenhaft erzeugte und verwertete Nutztiere. Dass sich in dieser Hinsicht eine Umwertung anbahnt, indem die Menschenrechtsbewegung auch auf Tiere ausgeweitet wird, deutet sich in der Tat an. Die zweite Konsequenz des "Technozäns" lag im Übergang zu fossilen Energien. Kohle und Öl waren "der wirkliche Agent des Prinzips Sofort". Die Umwertung werde hier dazu führen, dass die "Romantik der Explosion", an der sich das industrielle Maschinenzeitalter ergötzte, als "Ausdruckswelt eines massenkulturell globalisierten energetischen Faschismus" erscheinen wird. Demgegenüber könnten eine "postkapitalistische Weltform und eine entsprechende Ethik" nur "von einer neuen Interpretation der Sonne ausgehen".
Wenn Sloterdijk eine "hybride Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung" prognostiziert, dann überwölbt dieser große Entwurf die aktuellen Auseinandersetzungen über Klimapolitik und die Zukunft des Kapitalismus, in denen die unterschiedlichen Komponenten einstweilen freilich nicht so einfach und harmonisch zusammenpassen. Zu Recht weist Sloterdijk darauf hin, dass der Begriff des "Anthropozäns", den der niederländische Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen 2000 aufbrachte, gerne im hohen Ton apokalyptischer Warnungen und des Rufs nach Umkehr verwendet wird.
Ein Beispiel dafür ist der "Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation", den der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltfragen (WBGU) im Jahr 2011 unterbreitete und dem es um nicht weniger als tiefgreifende weltweite Änderungen von Infrastrukturen und Produktionsprozessen, Regulierungssystemen und Lebensstilen sowie um einen "zivilisatorischen Quantensprung" mit dem Ziel einer "gerechten neuen Weltordnung" geht.
Dem scheint Sloterdijk zu entsprechen, wenn er für die Idee eines "neu zu gründenden politischen Verhältnisses namens ,Erdenbürgertum'" plädiert. Andererseits spricht er von "meteorologischem Sozialismus" und einer bevorstehenden "Titanomachie", an deren Ende sich die Menschen nach "Rettung vor den Rettern" sehnen könnten. Zu Recht mahnt Sloterdijk die "Kritik der prophetischen Vernunft" an. Denn während vieles für die schwerwiegende Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel spricht, sind in diesem Diskurs zugleich langlebige Muster erkennbar.
Er schreibt das alte Narrativ fort, dass der Mensch durch sein Handeln die Welt ins Unheil stürze. Eine Aussage als Topos zu identifizieren bedeutet nicht, dass sie falsch ist. Aber es stellt sie in eine historische Perspektive, und in dieser zeigt sich, dass apokalyptische Mahnungen zur Umkehr sich immer wieder mit der autoritären Versuchung verbunden haben, die volonté generale zu bestimmen.
Solcher "Anmaßung von Wissen" hat Friedrich-August von Hayek den "Markt als Entdeckungsverfahren" gegenübergestellt. In diesem Sinne bringt auch Sloterdijk die noch unentdeckten Möglichkeiten der Technik, die "Fortführung natürlicher Produktionsprinzipien auf artifizieller Ebene" ins Spiel. Doch beide Positionen, piecemeal engineering und Große Transformation, qualitatives Wachstum und Umkehr des Kapitalismus, gehen einstweilen nicht zusammen.
Sloterdijks Entwurf einer zukünftigen Synthese ist groß dimensioniert, einstweilen aber entfernt von den Realitäten der aktuellen Debatte. Zugleich besagt die historische Erfahrung, nicht zuletzt des zwanzigsten Jahrhunderts, dass die Zukunft in doppelter Weise anders sein wird: anders als die Gegenwart und anders als erwartet.
ANDREAS RÖDDER
Peter Sloterdijk:
"Was geschah im
20. Jahrhundert?"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 348 S., geb., 26,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Nach Lektüre dieser Sammlung verstreuter, teils "brillanter" Schriften lässt sich Peter Sloterdijk nicht mehr so ohne weiteres in neurechten Fraktionen verorten, wie dies vor kurzem nach seinem umstrittenen Cicero-Interview geschehen ist, schreibt Rezensent Ingo Arend, der den Befund "Verdacht auf philosophisch-publizistische Schizophrenie" äußert. Schließlich formuliere Sloterdijk hier mitunter (wenn auch nicht durchweg) deutlich sensibler, politisch weit weniger anrüchig und präziser seine Analysen der Gegenwart, die sich nach Ansicht des Kritikers auch mit weniger für Turbulenzen sorgenden Überzeugungen in Einklang bringen lassen. Dem Philosophen selbst rät der Kritiker unterdessen, vor dem nächsten, überschäumenden Lob auf Grenzen und Zäune doch einfach bei sich selber nachzulesen: Insbesondere in der Raumfahrt sehe Sloterdijk selbst schließlich das Potenzial zum "Weltgewissen", gibt Arend an die Adresse des Autors zu denken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es fühlt sich an, als würde man auf Netflix die Gladiatorenserie Spartacus gucken ... oder Breaking Bad, die ausufernde Saga eines genialen Gedankengiftmischers. Denn Sloterdijk ist ein meisterhafter Alchimist des Geistes ... Er destilliert die Geistesgeschichte neu, in einer Art philosophischen Zentrifuge."
Jan Küveler, Welt am Sonntag 06.03.2016
Jan Küveler, Welt am Sonntag 06.03.2016