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In der politischen Diskussion dient der Begriff "Individualisierung" inzwischen in allen Lagern als Schlüssel zur Erklärung der grundlegenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Es existieren keine allgemein verbindlichen Standards mehr, jeder Mensch muß seine Biographie nach eigenen Motiven ausrichten. Wie aber läßt sich das Abgleiten dieser Individualisierung in einen gesellschaftlich zerstörerischen Egoismus verhindern? Wie können in einer sich individualisierenden Gesellschaft die für jedes Zusammenleben notwendigen Gemeinsamkeiten entstehen? Wie kann verhindert werden, daß die…mehr

Produktbeschreibung
In der politischen Diskussion dient der Begriff "Individualisierung" inzwischen in allen Lagern als Schlüssel zur Erklärung der grundlegenden Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Es existieren keine allgemein verbindlichen Standards mehr, jeder Mensch muß seine Biographie nach eigenen Motiven ausrichten. Wie aber läßt sich das Abgleiten dieser Individualisierung in einen gesellschaftlich zerstörerischen Egoismus verhindern? Wie können in einer sich individualisierenden Gesellschaft die für jedes Zusammenleben notwendigen Gemeinsamkeiten entstehen? Wie kann verhindert werden, daß die Gesellschaft in nicht mehr auflösbare Interessenkonflikte gerät, die nur durch Zwang beizulegen wären?
Autorenporträt
Erwin Teufel, Dr. h.c. mult., geb. 4. 9. 1939 in Zimmern ob Rottweil, war von 1991 bis 2005 Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg und Vorsitzender der CDU in Baden-Württemberg. Mitglied des Deutschen Ethikrats . Bis 2008 war er Mitglied im ZK der deutschen Katholiken. Ehrensenator u.a. der Universitäten Freiburg und Tübingen. Zahlreiche Auszeichnungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.1996

Der Zipfel

Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen, muß von jeder Epoche neu hervorgebracht werden. In einer Zeit, da die Individualismustheorien sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben, fand es Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel angebracht, einmal andersherum, in einer Art Pendelschlag gegen den Zeitgeist, zu fragen: "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?" Herausragende Vertreter der modernen Gesellschaft rief er im letzten Jahr zu einem Kongreß zusammen, auf der seine Frage "ohne Denk- und Sprechverbote", aber auch "ohne Scheuklappen" beraten wurde. Die Denkansätze liegen jetzt in einem handlichen Sammelband vor (Erwin Teufel, Hrsg., "Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?", Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1996).

Bemerkenswert ist Teufels Frage vor allem deshalb, weil es sich nach dem Ende der Utopien wieder einmal um eine richtige Großraumfrage handelt. Als solche markiert sie eine Zäsur im Fluß der öffentlich aussprechbaren Fragen. Nachdem unsere Fragekultur jahrelang von Verzagtheit und Kleinmut geprägt war, taucht nun erstmals wieder eine Frage auf, die unbefangen aufs Ganze geht. Milieu, Alter, Geschlecht, Nationalität und Konfession kühn transzendierend, nimmt sie das Gesamt der modernen Gesellschaft ins Visier. Daß gegenüber der vormodernen Gesellschaft etwas anders geworden ist, leitet Helmut Klages schon aus dem Verschwinden des Satzes "Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps" ab. Diesen Satz höre man heute nicht mehr, "weil sich in stark wachsendem Maße konkrete Verantwortung in Arbeits- und Lebenszusammenhängen entfaltet". So werde der Schnaps als Synonym für Lebensfreude zur "intrinsischen Gratifikation" des Dienstes.

Doch zielt Teufels Frage nicht so sehr auf bewährte Integrationskräfte wie Alkohol im Dienst, Graffitis in den Städten oder die doppelte Staatsbürgerschaft - das ist "Pipifax, eine quantité négligeable" (Daniel Cohn-Bendit) -, sondern geradewegs auf das, was unsere moderne Gesellschaft im Sein erhält. Als solche ist es eine durch und durch metaphysische Frage, die die Scholastiker wohl mit dem Konzept der "creatio continua" beantwortet hätten: Gott habe die Welt nicht nur am Anfang aus dem Nichts erschaffen, sondern bewahre sie in einem fortdauernden Schöpfungsakt täglich aufs neue davor, ins Nichts zurückzusinken.

Daß es tatsächlich ein Anliegen ist, in der Debatte den höchstmöglichen Standort einzunehmen, signalisiert Karl Fürst von Schwarzenberg, der gleichsam aus der Ewigkeit heraus einen Blick auf die Welt wirft und zu dem Befund gelangt: "Wir befinden uns in einer Momentaufnahme der Geschichte." Karl Gabriel biegt dann freilich die scholastische Linie in die Moderne um. Er sieht den geoffenbarten Gott im Numinosen des Religiösen aufgelöst, das zwar an "Greifbarkeit und Sichtbarkeit" verloren habe, glücklicherweise aber nicht an "Virulenz". Um die "Vervielfältigung der Zukunftsgefährdungen" zu stoppen, gehe es in einem "Wettbewerb von Sinndeutungen, Symbolen und Ritualen" ums "Basteln an der eigenen, individuell-biographisch bestimmten Religion".

Daß der Allmächtige unter solchen Umständen der "Aufgabe, Bindekräfte bereitzustellen" (Otfried Höffe), ebensowenig gewachsen ist, wie er sich als "sozialer Kitt" (Helmut Dubiel) verwenden läßt, liegt auf der Hand. Auch das von Hans-Peter Schwarz angemahnte "Wir-Gefühl oder Hier-bin-ich-zu-Hause-Empfinden" ist im "Sortiment an Weltansichts-Möglichkeiten" (Thomas Luckmann) nicht vorgesehen. Marion Gräfin Dönhoff bedauert dies aufrichtig: "Große Leistung, viel Geld und Ansehen - das kann für eine Weile befriedigen, aber auf die Dauer reicht es nicht aus." Angesichts der "vielfältigen Reizangebote" der Moderne sei ein "verbindliches Wertesystem", nach Möglichkeit aus "metaphysischen Quellen" hervorsprudelnd, nicht zu verachten.

Die Entzauberung der Welt läßt sich aber offenbar nicht aufhalten. Wer anders denkt, "verkennt die Dynamik, die von sechs, acht oder zehn Milliarden Menschen, ihren Erwartungen an das Leben und ihren Wünschen ausgeht" (Hubert Markl). In diesem Punkt zeichnet sich ein Bündnis zwischen Wissenschaft, Politik und Kirche ab. Denn auch Hans Jochen Vogel ist der Ansicht: "Wir leben in einer Zeit sich beschleunigender Veränderungen", und Bischof Karl Lehmann bekräftigte unlängst, man könne sich nicht die "Rosinen aus der Freiheitsgeschichte" herausholen. Der Dichter Hans-Christoph Buch beobachtet dies mit "Zwischentönen des Zweifels und der Melancholie".

In einer Lage, in der sich nur noch im Lokalen und Regionalen "frisches Engagement organisiert" (Hans Maier), spenden die Gewerkschaften Trost. Walter Riester von der IG Metall setzt auf eine abgestufte Theorie der Rationalität: "Dort, wo Gewißheiten fehlen, müssen wir uns der Zukunft stellen und Möglichkeiten der Gestaltung erkunden, sie auf ihre Folgen hin überprüfen, sie wagen und gegebenenfalls neu überdenken." Tilman Todenhöfer meldet Skepsis auf Unternehmerseite an: "Der Dialog reduziert sich auf Statements. Die Zahl der Statements nimmt zu." Mit seinem besinnlichen Einwurf "Aktivität gebiert keine Hoffnung mehr" hat Todenhöfer die Untersuchung der Frage, was die Gesellschaft der Moderne zusammenhält, endgültig aus der scheppernden Empirie in eine höhere Welt entlassen. Und während man mit Hartmut von Hentig hofft, daß es der "Zipfel einer besseren Welt" sei, den man da in Händen hält, verspricht Erwin Teufel, daß dies "nicht das Ende einer wichtigen und spannenden Debatte, sondern erst ihr Anfang" ist. CHRISTIAN GEYER

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