Auf der Longlist zum »Wissenschaftsbuch des Jahres 2025«
Wie viel Wirklichkeit wollen wir?
Virtuelle Realität zwischen Utopie und Weltflucht
Unser Zugang zur Wirklichkeit wird zunehmend durch Computer geprägt. Denn mit Hilfe von Computersimulationen lässt sich virtuelle Realität (VR) erzeugen. VR hilft in der Forschung, das Wissen zu erweitern. Sie wird in der Ausbildung eingesetzt, um medizinische Eingriffe oder das Lenken eines Flugzeugs zu üben. Schließlich verschafft sie uns in Spielen Erlebnisse, die in der bekannten Realität kaum zu haben sind.
Letztlich können wir aber nur dann von VR profitieren, wenn wir wirklich verstehen, was sie ist und wie sie entsteht. Und wir müssen uns ebenso darüber klarwerden, ob der Aufenthalt in ihr unser Leben wirklich besser macht. Denn von virtuellem Brot allein können wir nicht leben. Müssen wir also auch der Original Reality (OR) treu bleiben?
»Von virtuellem Brot allein können wir nicht leben. Wir dürfen die Virtuelle Realität genießen, doch die Originale Realität hat Priorität. In diesem Sinne gilt: Bleibt der Originalen Realität treu!«
Wie viel Wirklichkeit wollen wir?
Virtuelle Realität zwischen Utopie und Weltflucht
Unser Zugang zur Wirklichkeit wird zunehmend durch Computer geprägt. Denn mit Hilfe von Computersimulationen lässt sich virtuelle Realität (VR) erzeugen. VR hilft in der Forschung, das Wissen zu erweitern. Sie wird in der Ausbildung eingesetzt, um medizinische Eingriffe oder das Lenken eines Flugzeugs zu üben. Schließlich verschafft sie uns in Spielen Erlebnisse, die in der bekannten Realität kaum zu haben sind.
Letztlich können wir aber nur dann von VR profitieren, wenn wir wirklich verstehen, was sie ist und wie sie entsteht. Und wir müssen uns ebenso darüber klarwerden, ob der Aufenthalt in ihr unser Leben wirklich besser macht. Denn von virtuellem Brot allein können wir nicht leben. Müssen wir also auch der Original Reality (OR) treu bleiben?
»Von virtuellem Brot allein können wir nicht leben. Wir dürfen die Virtuelle Realität genießen, doch die Originale Realität hat Priorität. In diesem Sinne gilt: Bleibt der Originalen Realität treu!«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2024Warum denn eigentlich die rote Pille?
Wenn das Simulierte immer mehr Feinschliff bekommt: Claus Beisbart knüpft grundsätzliche Fragen an die virtuelle Realität
Die virtuelle Realität (VR) ist für die Philosophie ein so großartiges wie frustrierendes Thema. Großartig, weil so viele Fragestellungen unmittelbar daran anzuknüpfen sind: Gibt es eine "wahre" Wirklichkeit? Kann man sie erkennen? Ist Leben in virtuellen Welten weniger "echt"? Und es ist frustrierend, weil das Thema, jetzt, da virtuelle Welten technisch realisierbar werden, schon recht abgegrast ist: von Gedankenexperimenten wie dem Chinesischen Zimmer oder dem Gehirn im Tank bis zu ikonischen Filmen wie "The Matrix". Dennoch hat es Claus Beisbart, Wissenschaftsphilosoph an der Universität Bern, unternommen, das Thema noch einmal durchzubuchstabieren.
Der Reiz der virtuellen Realität besteht in der sogenannten Immersion, dem Gefühl, "drin" zu sein in der fingierten Welt. Bislang kranken die virtuellen Realitäten noch daran, dass sie meist zu wenig Details zu bieten haben, um wirklich interessant zu sein. Zudem verursachen Ausflüge in die Pixelwelten bei vielen eine Art Reisekrankheit, verbunden mit Schwindel und Übelkeit. Der große Durchbruch lässt also noch auf sich warten, doch die Technik wird immer besser, die VR-Brillen werden leichter und weniger klobig.
Beisbart blickt zuerst kurz in die Entstehungsgeschichte der VR zurück und erklärt ihre technischen Hintergründe. Dann geht es in die Philosophie und zwar erst einmal zum Gehirn im Tank: Könnte es sein, dass die Welt, die wir für real halten, auch eine virtuelle Welt ist? Dass wir gar keine Körper haben, sondern eine Computersimulation uns dies nur vortäuscht? Nein, ziemlich sicher nicht, argumentiert Beisbart, weil nicht zu sehen ist, wie in einer Computersimulation Bewusstsein entstehen könnte. Was im Computer stattfindet, ist eine Beschreibung von Prozessen, so Beisbart, es sind nicht die Prozesse selbst. Die Simulation eines denkenden und fühlenden Wesens unterscheide sich damit qualitativ nicht von der Simulation etwa des Wetters.
Aber wie wirklich ist dann die virtuelle Realität? Wie bei einem Film oder einem Theaterstück lässt man sich für die Dauer der Nutzung der virtuellen Realität darauf ein, für real zu halten, was dort präsentiert wird. Der in der VR-Welt gezeigte Baum ist eben ein Baum in einer VR-Welt, man kann wahre und falsche Sätze über ihn sagen, wie über einen echten Baum, und sich doch völlig im Klaren sein, dass sich sein Heizwert für den heimischen Kamin in Grenzen hält. Muss man mehr wissen? Beisbart erläutert jedenfalls ausführlich, dass man sich in begriffliche Widersprüche verirren kann, wenn man die virtuellen Dinge (mit dem Philosophen David Chalmers) für "virtuell real" statt für Fiktionen hält.
Interessanter ist die Diskussion der moralischen Frage, was man denn in den virtuellen Welten tun dürfe. Da gibt es die seit Kant diskutierte Frage, ob wir uns selbst schaden, wenn wir empfindungslosen Wesen schaden - Kant hatte das bejaht. Hat also, wer in der virtuellen Realität eines "Ballerspiels" auf andere schießt, einen bedenklichen Charakter? Oder ein gesundes Unterscheidungsvermögen? Kommt es darauf an, ob man "aus Spaß" oder etwa aus Menschenhass herumballert? Und macht es einen moralischen Unterschied, ob man im Spiel auf computergesteuerte Figuren feuert, oder auf die Avatare von Mitspielern?
Was die Nutzung virtueller Realität mit Menschen macht, ist, wie Beisbart richtig anmerkt, letztlich eine empirische Frage. Derzeit ist die Studienlage, wie der Autor berichtet, nicht eindeutig, die Befürchtung, Menschen könnten brutaler und empathieloser werden, wenn sie brutale Spiele spielen, ist jedenfalls nicht ausgeräumt. Und irgendwie sind uns Menschen vielleicht sympathischer, die auch virtuell Hemmungen haben, ein Blutbad anzurichten. Auch wenn die Generationen, die mit diesen Spielen aufgewachsen sind, das eventuell anders sehen.
Wie ist es nun mit der umgekehrten Perspektive: Was tut man Mitspielerinnen und Mitspielern in VR-Spielen an, wenn man ihre Avatare erschießt? Auf das virtuelle Morden, Lügen und Betrügen lässt sich ja nun einmal ein, wer ein solches Spiel spielt, konstatiert Beisbart. Es habe also nicht viel Sinn, diese "Taten" so zu bewerten wie ihre Entsprechungen in der Realität. Vielmehr müsse man betrachten, ob den Anderen durch die eigenen Aktionen die Freude am Spiel verdorben wird. Dies scheint allerdings keine Besonderheit der virtuellen Welten zu sein. Auch bei Mensch-ärgere-dich-nicht oder beim Skat kann man sich fragen, ob man einfach nur gewinnen oder auch ein bisschen nett sein will, und auch dort fällt es bekanntlich nicht immer allen Beteiligten leicht, Spiel und Wirklichkeit zu trennen.
VR-Spiele stehen in Beisbarts Buch deutlich im Vordergrund. In der Tat sind diese bislang deutlich interessanter als andere virtuelle Räume. Das immer wieder mal gehypte Metaverse, in dem sich Ausbildung, Freizeit und Shoppen ebenso realisieren ließen wie etwa das Abschließen von Verträgen, ist nach wie vor rudimentär. Doch gibt es gerade aus solchen "sozialen Räumen" Erfahrungen, die Beisbart nicht erwähnt: Wenn etwa Frauen davon berichten, wie echt und bedrohlich sich virtuelle Übergriffe anfühlen.
Beisbart will kein Spielverderber sein, schreibt, er verbringe seine Schreibpausen selbst mit VR-Spielen. Doch er schließt mit einem Plädoyer für die reale Welt. Es gehöre einfach zu einem guten Leben, in der realen Welt etwas zu bewirken. Ideen wie die, man könne die Umwelt schonen, indem man mehr in der VR lebt und reist, weist er zurück: mit Hinweis auf den Ressourcenverbrauch dieser Systeme, auf ihre unzureichende Qualität, aber vor allem, weil es sich letztlich um eine Flucht vor den realen Problemen handle. Zu diesen Fragen, die Beisbart auf den letzten Seiten anspricht - Wer bestimmt über die virtuellen Welten? Was machen sie mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt? Und was wird aus der echten Welt, wenn viele die virtuelle vorziehen? - hätte man gerne mehr gelesen. So wirft das Buch interessante Fragen auf, kommt aber insgesamt etwas theoretisch daher. MANUELA LENZEN
Claus Beisbart: "Was heisst hier noch real?". Wirklichkeiten in Zeiten von Computersimulation und virtueller Realität.
Reclam Verlag, Stuttgart 2024.
175 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn das Simulierte immer mehr Feinschliff bekommt: Claus Beisbart knüpft grundsätzliche Fragen an die virtuelle Realität
Die virtuelle Realität (VR) ist für die Philosophie ein so großartiges wie frustrierendes Thema. Großartig, weil so viele Fragestellungen unmittelbar daran anzuknüpfen sind: Gibt es eine "wahre" Wirklichkeit? Kann man sie erkennen? Ist Leben in virtuellen Welten weniger "echt"? Und es ist frustrierend, weil das Thema, jetzt, da virtuelle Welten technisch realisierbar werden, schon recht abgegrast ist: von Gedankenexperimenten wie dem Chinesischen Zimmer oder dem Gehirn im Tank bis zu ikonischen Filmen wie "The Matrix". Dennoch hat es Claus Beisbart, Wissenschaftsphilosoph an der Universität Bern, unternommen, das Thema noch einmal durchzubuchstabieren.
Der Reiz der virtuellen Realität besteht in der sogenannten Immersion, dem Gefühl, "drin" zu sein in der fingierten Welt. Bislang kranken die virtuellen Realitäten noch daran, dass sie meist zu wenig Details zu bieten haben, um wirklich interessant zu sein. Zudem verursachen Ausflüge in die Pixelwelten bei vielen eine Art Reisekrankheit, verbunden mit Schwindel und Übelkeit. Der große Durchbruch lässt also noch auf sich warten, doch die Technik wird immer besser, die VR-Brillen werden leichter und weniger klobig.
Beisbart blickt zuerst kurz in die Entstehungsgeschichte der VR zurück und erklärt ihre technischen Hintergründe. Dann geht es in die Philosophie und zwar erst einmal zum Gehirn im Tank: Könnte es sein, dass die Welt, die wir für real halten, auch eine virtuelle Welt ist? Dass wir gar keine Körper haben, sondern eine Computersimulation uns dies nur vortäuscht? Nein, ziemlich sicher nicht, argumentiert Beisbart, weil nicht zu sehen ist, wie in einer Computersimulation Bewusstsein entstehen könnte. Was im Computer stattfindet, ist eine Beschreibung von Prozessen, so Beisbart, es sind nicht die Prozesse selbst. Die Simulation eines denkenden und fühlenden Wesens unterscheide sich damit qualitativ nicht von der Simulation etwa des Wetters.
Aber wie wirklich ist dann die virtuelle Realität? Wie bei einem Film oder einem Theaterstück lässt man sich für die Dauer der Nutzung der virtuellen Realität darauf ein, für real zu halten, was dort präsentiert wird. Der in der VR-Welt gezeigte Baum ist eben ein Baum in einer VR-Welt, man kann wahre und falsche Sätze über ihn sagen, wie über einen echten Baum, und sich doch völlig im Klaren sein, dass sich sein Heizwert für den heimischen Kamin in Grenzen hält. Muss man mehr wissen? Beisbart erläutert jedenfalls ausführlich, dass man sich in begriffliche Widersprüche verirren kann, wenn man die virtuellen Dinge (mit dem Philosophen David Chalmers) für "virtuell real" statt für Fiktionen hält.
Interessanter ist die Diskussion der moralischen Frage, was man denn in den virtuellen Welten tun dürfe. Da gibt es die seit Kant diskutierte Frage, ob wir uns selbst schaden, wenn wir empfindungslosen Wesen schaden - Kant hatte das bejaht. Hat also, wer in der virtuellen Realität eines "Ballerspiels" auf andere schießt, einen bedenklichen Charakter? Oder ein gesundes Unterscheidungsvermögen? Kommt es darauf an, ob man "aus Spaß" oder etwa aus Menschenhass herumballert? Und macht es einen moralischen Unterschied, ob man im Spiel auf computergesteuerte Figuren feuert, oder auf die Avatare von Mitspielern?
Was die Nutzung virtueller Realität mit Menschen macht, ist, wie Beisbart richtig anmerkt, letztlich eine empirische Frage. Derzeit ist die Studienlage, wie der Autor berichtet, nicht eindeutig, die Befürchtung, Menschen könnten brutaler und empathieloser werden, wenn sie brutale Spiele spielen, ist jedenfalls nicht ausgeräumt. Und irgendwie sind uns Menschen vielleicht sympathischer, die auch virtuell Hemmungen haben, ein Blutbad anzurichten. Auch wenn die Generationen, die mit diesen Spielen aufgewachsen sind, das eventuell anders sehen.
Wie ist es nun mit der umgekehrten Perspektive: Was tut man Mitspielerinnen und Mitspielern in VR-Spielen an, wenn man ihre Avatare erschießt? Auf das virtuelle Morden, Lügen und Betrügen lässt sich ja nun einmal ein, wer ein solches Spiel spielt, konstatiert Beisbart. Es habe also nicht viel Sinn, diese "Taten" so zu bewerten wie ihre Entsprechungen in der Realität. Vielmehr müsse man betrachten, ob den Anderen durch die eigenen Aktionen die Freude am Spiel verdorben wird. Dies scheint allerdings keine Besonderheit der virtuellen Welten zu sein. Auch bei Mensch-ärgere-dich-nicht oder beim Skat kann man sich fragen, ob man einfach nur gewinnen oder auch ein bisschen nett sein will, und auch dort fällt es bekanntlich nicht immer allen Beteiligten leicht, Spiel und Wirklichkeit zu trennen.
VR-Spiele stehen in Beisbarts Buch deutlich im Vordergrund. In der Tat sind diese bislang deutlich interessanter als andere virtuelle Räume. Das immer wieder mal gehypte Metaverse, in dem sich Ausbildung, Freizeit und Shoppen ebenso realisieren ließen wie etwa das Abschließen von Verträgen, ist nach wie vor rudimentär. Doch gibt es gerade aus solchen "sozialen Räumen" Erfahrungen, die Beisbart nicht erwähnt: Wenn etwa Frauen davon berichten, wie echt und bedrohlich sich virtuelle Übergriffe anfühlen.
Beisbart will kein Spielverderber sein, schreibt, er verbringe seine Schreibpausen selbst mit VR-Spielen. Doch er schließt mit einem Plädoyer für die reale Welt. Es gehöre einfach zu einem guten Leben, in der realen Welt etwas zu bewirken. Ideen wie die, man könne die Umwelt schonen, indem man mehr in der VR lebt und reist, weist er zurück: mit Hinweis auf den Ressourcenverbrauch dieser Systeme, auf ihre unzureichende Qualität, aber vor allem, weil es sich letztlich um eine Flucht vor den realen Problemen handle. Zu diesen Fragen, die Beisbart auf den letzten Seiten anspricht - Wer bestimmt über die virtuellen Welten? Was machen sie mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt? Und was wird aus der echten Welt, wenn viele die virtuelle vorziehen? - hätte man gerne mehr gelesen. So wirft das Buch interessante Fragen auf, kommt aber insgesamt etwas theoretisch daher. MANUELA LENZEN
Claus Beisbart: "Was heisst hier noch real?". Wirklichkeiten in Zeiten von Computersimulation und virtueller Realität.
Reclam Verlag, Stuttgart 2024.
175 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Manuela Lenzen lässt sich vom Wissenschaftsphilosophen Claus Beisbart die Entstehungsgeschichte der virtuellen Realität samt ihres technischen Hintergrundes erzählen, um sodann vom Autor in die Philosophie der Simulation und virtueller Räume eingeführt zu werden. Wie wirklich ist VR? Moralische Fragen diskutiert Beisbart laut Lenzen selbstverständlich auch. Und er wirft einen intensiven Blick auf die Welt der VR-Spiele. Dass der Autor ohne Spielverderber-Pose dennoch mit einem Plädoyer für die reale Welt schließt, scheint Lenzen zuzusagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH