"Es ist kalt in Odda, der Sommer kurz und die Berge sind so hoch, dass der Fernsehempfang nur sporadisch funktioniert. So ein trostloser Ort bringt die skurrilsten Typen hervor. Von ihrem Alltag und ihren Träumen erzählt Frode Grytten in seinen 24 Erzählungen aus einem Arbeiterwohnblock, einer Wabe voller Geschichten von Eigenbrötlern, Hausfrauen, Heilsarmisten und Gaunern. Liebenswerte Durchschnittsmenschen und alle irgendwie Exzentriker."
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
In dem Arbeiterblock von Odda wohnen Menschen, die auf den ersten Blick nicht mehr gemeinsam haben als eben dies: in den vielen übereinandergestapelten dünnwandigen Wohnungen zu hausen, sich zu kennen und doch nichts voneinander zu wissen. Ähnlich der Technik in Robert Altmans 'Short Cuts' kreuzen sich die Wege einzelner Typen und Existenzen, bewegen sich aufeinander zu und kommen doch nicht zusammen.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG
In dem Arbeiterblock von Odda wohnen Menschen, die auf den ersten Blick nicht mehr gemeinsam haben als eben dies: in den vielen übereinandergestapelten dünnwandigen Wohnungen zu hausen, sich zu kennen und doch nichts voneinander zu wissen. Ähnlich der Technik in Robert Altmans 'Short Cuts' kreuzen sich die Wege einzelner Typen und Existenzen, bewegen sich aufeinander zu und kommen doch nicht zusammen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2002Filmende
„Was im Leben zählt”
Skandinavische Literatur? Vor einiger Zeit wäre einem deutschen Leser ohne spezielle Neigung zum nordischen Sprachraum wohl nicht mehr dazu eingefallen als drei Namen: Ibsen, Hamsun, Strindberg. Und vielleicht noch Lars Gustafsson. Das hat sich geändert. Heute könnte er eine Reihe von Autoren herunterrattern: die Schweden Henning Mankell und Marianne Fredriksson, den Dänen Peter Høeg sowie die Norweger Jostein Gaarder, Jon Fosse, Erik Fosnes Hansen und Jan Kjærstad. Doch etabliert sich damit nicht gleich das nächste Klischee? Das von der geradezu naturwüchsigen Erzählfreude der Skandinavier?
Ein Buch wie „Was im Leben zählt” (unter seinem Originaltitel „Bikubesong” 1999 in Schweden erschienen) erinnert daran, dass es auch noch anderes gibt. Geschrieben hat es der 1960 in der kleinen norwegischen Industriestadt Odda geborene Frøde Grytten, und es hat eben diese Kleinstadt zum Thema. Oder genauer: das von Trivialmythen durchzogene Alltagsleben jener Menschen, die, mehr oder weniger deklassiert, in einem Arbeiter-Wohnblock bunt zusammengewürfelt leben. Da gibt es die Mutter, die noch im Sterben hofft, ihr vierzigjähriger Sohn, ein eingefleischter Morrissey-Fan, möge endlich die richtige Frau finden, um eine Familie zu gründen. Da isst sich ein schmaler Bosnier kugelrund und meint das als Liebeserklärung: weil seine Angebetete so fett ist, dass man sie, nach einer gefräßigen Goldfischart, „Prinzessin von Burundi” nennt. Die schöne Betty könnte jeden haben, den sie will. Und nimmt am Ende Henry, einen verkrachten Fußballspieler und stadtbekannten Casanova, der sich die letzten Gehirnzellen wegsäuft.
Familienverbot
Da gibt es den „Fotzenjäger”, der von der Idee besessen ist, verheiratete Frauen zu verwöhnen. Eines Tages wird er von seinem eigenen VW, Schauplatz seiner zahlreichen Beglückungsversuche, überfahren. „Die Leute sagten später, dass unglaublich viele Ehen in den Monaten nach dem Unfall in die Brüche gegangen seien.” Ein junges Paar übersteht eine Insektenvernichtungsorgie in der gemeinsamen Wohnung, bei der alle Erinnerungsstücke entsorgt werden müssen. Es folgt der Entschluss zu heiraten – und vier Wochen später die Trennung. „Die Filme enden dort, wo das Leben beginnt”, heißt es in der Geschichte um die Kinokassiererin Betty. Und im Leben klappt eigentlich überhaupt nichts. Weder die Liebe, noch die Affäre und schon gar nicht das familiäre Zusammensein. „Familien sollten von Rechts wegen verboten werden”, denkt sich ein gequälter Vater, der am Weihnachtsabend die Übertragung eines Fußballspiels sehen will, während die Kinder herumkrakeelen und der Großvater schmatzend Nüsse knackt. „Eine Familie zu gründen, sollte als kriminelle Handlung gelten” – eine originelle Idee.
Das Buch wimmelt von solchen Ideen, es ist auf verschwenderische Weise randvoll mit skurrilen Figuren und aberwitzigen Geschichten. Es sind fünfundzwanzig an der Zahl, die man mit viel gutem Willen als „Roman” durchgehen lassen kann, weil die Lebensläufe sich gelegentlich am Rande tangieren. Seit Robert Altmans Verfilmung der Kurzgeschichten von Raymond Carver nennt man so etwas elegant „Short Cuts” (das tut der Schweizer Verlag Nagel & Kimche auch; man kann es ihm nicht übel nehmen, schließlich muss er einen völlig unbekannten Autor auf dem deutschsprachigen Markt durchsetzen). Der Vergleich mit Carver zeigt aber auch die Fallhöhe dieser Geschichten.
Fenster zur Nacht
Frøde Grytten ist ein Kurzstreckenläufer. Er debütierte 1983 mit Gedichten und hat in Norwegen außer dem vorliegenden Roman sechs Bände mit Erzählungen publiziert. In „Was im Leben zählt” will er eine lange Strecke bestehen. Doch er vergisst, sein Material zu strukturieren. Eine Geschichte jagt die andere, die Effekte überbieten einander. Als einziger roter Faden schlängelt sich die leidenschaftliche Verehrung für The Smiths durch das Buch. Es sind nicht nur der Geschichten zu viele, Frøde Grytten hat auch ein stilistisches Problem. Er walzt aus, er liebt Metaphern und nachdenkliche Ergüsse („Ich erinnere mich an etwas, das Morrissey über Zufriedenheit gesagt hat”). Und er beherrscht die Kunst der Auslassung nur unvollkommen. So entsteht im Kopf des Lesers kein eigenes Bild. Die skurrilsten Szenen lassen sich zwar nacherzählen, aber in ein paar Wochen werden sie aus dem Gedächtnis verschwunden sein.
Doch es gibt auch stillere Geschichten. Genau und poetisch erfasst Grytten in „Nachtfenster” jenen besonderen Moment, den alle Kinder zugleich fürchten und herbeisehnen: dass sich, sobald sie im Bett sind, die Welt verändert. Einprägsam ist auch die Geschichte einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes die Hochzeitsreise wiederholt und erst zur Ruhe kommt, als sie zuhause anruft, um die Stimme des Verstorbenen auf dem Anrufbeantworter zu hören. Gerne hätte man auf der Landkarte literarischer Kleinstädte neben Orten wie Sherwood Andersons Winesburg und Ingo Schulzes Altenburg auch das norwegische Odda eingetragen. Dazu reicht es leider nicht.
MEIKE FESSMANN
FRØDE GRYTTEN: Was im Leben zählt. Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2001. 334 Seiten, 39,80 Mark.
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„Was im Leben zählt”
Skandinavische Literatur? Vor einiger Zeit wäre einem deutschen Leser ohne spezielle Neigung zum nordischen Sprachraum wohl nicht mehr dazu eingefallen als drei Namen: Ibsen, Hamsun, Strindberg. Und vielleicht noch Lars Gustafsson. Das hat sich geändert. Heute könnte er eine Reihe von Autoren herunterrattern: die Schweden Henning Mankell und Marianne Fredriksson, den Dänen Peter Høeg sowie die Norweger Jostein Gaarder, Jon Fosse, Erik Fosnes Hansen und Jan Kjærstad. Doch etabliert sich damit nicht gleich das nächste Klischee? Das von der geradezu naturwüchsigen Erzählfreude der Skandinavier?
Ein Buch wie „Was im Leben zählt” (unter seinem Originaltitel „Bikubesong” 1999 in Schweden erschienen) erinnert daran, dass es auch noch anderes gibt. Geschrieben hat es der 1960 in der kleinen norwegischen Industriestadt Odda geborene Frøde Grytten, und es hat eben diese Kleinstadt zum Thema. Oder genauer: das von Trivialmythen durchzogene Alltagsleben jener Menschen, die, mehr oder weniger deklassiert, in einem Arbeiter-Wohnblock bunt zusammengewürfelt leben. Da gibt es die Mutter, die noch im Sterben hofft, ihr vierzigjähriger Sohn, ein eingefleischter Morrissey-Fan, möge endlich die richtige Frau finden, um eine Familie zu gründen. Da isst sich ein schmaler Bosnier kugelrund und meint das als Liebeserklärung: weil seine Angebetete so fett ist, dass man sie, nach einer gefräßigen Goldfischart, „Prinzessin von Burundi” nennt. Die schöne Betty könnte jeden haben, den sie will. Und nimmt am Ende Henry, einen verkrachten Fußballspieler und stadtbekannten Casanova, der sich die letzten Gehirnzellen wegsäuft.
Familienverbot
Da gibt es den „Fotzenjäger”, der von der Idee besessen ist, verheiratete Frauen zu verwöhnen. Eines Tages wird er von seinem eigenen VW, Schauplatz seiner zahlreichen Beglückungsversuche, überfahren. „Die Leute sagten später, dass unglaublich viele Ehen in den Monaten nach dem Unfall in die Brüche gegangen seien.” Ein junges Paar übersteht eine Insektenvernichtungsorgie in der gemeinsamen Wohnung, bei der alle Erinnerungsstücke entsorgt werden müssen. Es folgt der Entschluss zu heiraten – und vier Wochen später die Trennung. „Die Filme enden dort, wo das Leben beginnt”, heißt es in der Geschichte um die Kinokassiererin Betty. Und im Leben klappt eigentlich überhaupt nichts. Weder die Liebe, noch die Affäre und schon gar nicht das familiäre Zusammensein. „Familien sollten von Rechts wegen verboten werden”, denkt sich ein gequälter Vater, der am Weihnachtsabend die Übertragung eines Fußballspiels sehen will, während die Kinder herumkrakeelen und der Großvater schmatzend Nüsse knackt. „Eine Familie zu gründen, sollte als kriminelle Handlung gelten” – eine originelle Idee.
Das Buch wimmelt von solchen Ideen, es ist auf verschwenderische Weise randvoll mit skurrilen Figuren und aberwitzigen Geschichten. Es sind fünfundzwanzig an der Zahl, die man mit viel gutem Willen als „Roman” durchgehen lassen kann, weil die Lebensläufe sich gelegentlich am Rande tangieren. Seit Robert Altmans Verfilmung der Kurzgeschichten von Raymond Carver nennt man so etwas elegant „Short Cuts” (das tut der Schweizer Verlag Nagel & Kimche auch; man kann es ihm nicht übel nehmen, schließlich muss er einen völlig unbekannten Autor auf dem deutschsprachigen Markt durchsetzen). Der Vergleich mit Carver zeigt aber auch die Fallhöhe dieser Geschichten.
Fenster zur Nacht
Frøde Grytten ist ein Kurzstreckenläufer. Er debütierte 1983 mit Gedichten und hat in Norwegen außer dem vorliegenden Roman sechs Bände mit Erzählungen publiziert. In „Was im Leben zählt” will er eine lange Strecke bestehen. Doch er vergisst, sein Material zu strukturieren. Eine Geschichte jagt die andere, die Effekte überbieten einander. Als einziger roter Faden schlängelt sich die leidenschaftliche Verehrung für The Smiths durch das Buch. Es sind nicht nur der Geschichten zu viele, Frøde Grytten hat auch ein stilistisches Problem. Er walzt aus, er liebt Metaphern und nachdenkliche Ergüsse („Ich erinnere mich an etwas, das Morrissey über Zufriedenheit gesagt hat”). Und er beherrscht die Kunst der Auslassung nur unvollkommen. So entsteht im Kopf des Lesers kein eigenes Bild. Die skurrilsten Szenen lassen sich zwar nacherzählen, aber in ein paar Wochen werden sie aus dem Gedächtnis verschwunden sein.
Doch es gibt auch stillere Geschichten. Genau und poetisch erfasst Grytten in „Nachtfenster” jenen besonderen Moment, den alle Kinder zugleich fürchten und herbeisehnen: dass sich, sobald sie im Bett sind, die Welt verändert. Einprägsam ist auch die Geschichte einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes die Hochzeitsreise wiederholt und erst zur Ruhe kommt, als sie zuhause anruft, um die Stimme des Verstorbenen auf dem Anrufbeantworter zu hören. Gerne hätte man auf der Landkarte literarischer Kleinstädte neben Orten wie Sherwood Andersons Winesburg und Ingo Schulzes Altenburg auch das norwegische Odda eingetragen. Dazu reicht es leider nicht.
MEIKE FESSMANN
FRØDE GRYTTEN: Was im Leben zählt. Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2001. 334 Seiten, 39,80 Mark.
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