Dieter Borchmeyers große Erzählung von uns Deutschen: Spiegelbild und Wegweiser zugleich
Die Frage «Was ist deutsch?» ist ihrerseits typisch deutsch - keine andere Nation hat so sehr um die eigene Identität gerungen und tut es bis heute. Wie vielfältig und faszinierend die Antworten auf diese Frage im Lauf der Jahrhunderte ausfielen, das zeigt Dieter Borchmeyer: Von Goethe über Wagner bis zu Thomas Mann schildert er, wie der Begriff des Deutschen sich wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte. Er erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, vom deutschen Judentum, das unsere Auffassung des Deutschen wesentlich mitgeprägt hat, von der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz - etwa Weimar und Bayreuth - Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich entweder als Staats- oder als Kulturnation zu verstehen.
Dieter Borchmeyer zeichnet ein facettenreiches und eindrückliches Bild des deutschen Nationalcharakters. In einer Zeit der Umbrüche, in der Deutschland wieder einmal seine Rolle sucht, ist diese große Geschichte der deutschen Selbstsuche Spiegelbild und Wegweiser zugleich.
Die Frage «Was ist deutsch?» ist ihrerseits typisch deutsch - keine andere Nation hat so sehr um die eigene Identität gerungen und tut es bis heute. Wie vielfältig und faszinierend die Antworten auf diese Frage im Lauf der Jahrhunderte ausfielen, das zeigt Dieter Borchmeyer: Von Goethe über Wagner bis zu Thomas Mann schildert er, wie der Begriff des Deutschen sich wandelte und immer wieder neue Identitäten hervorbrachte. Er erzählt von einem Land zwischen Weltbürgertum und nationaler Überheblichkeit, vom deutschen Judentum, das unsere Auffassung des Deutschen wesentlich mitgeprägt hat, von der Karriere der Nationalhymne und der deutschesten aller Sehnsüchte: der nach dem Süden. Borchmeyer erklärt, wie gerade die deutsche Provinz - etwa Weimar und Bayreuth - Weltkultur schaffen konnte und was es für Deutschland bedeutet, sich entweder als Staats- oder als Kulturnation zu verstehen.
Dieter Borchmeyer zeichnet ein facettenreiches und eindrückliches Bild des deutschen Nationalcharakters. In einer Zeit der Umbrüche, in der Deutschland wieder einmal seine Rolle sucht, ist diese große Geschichte der deutschen Selbstsuche Spiegelbild und Wegweiser zugleich.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2017Deutsch ist keine Eigenschaft
Dieter Borchmeyer fragt "Was ist deutsch?" - und verweigert auf mehr als tausend Seiten die Antwort. Das ist kein Mangel, das ist das Verdienst dieses erstaunlich aktuellen Buchs
Die Sätze, die man nicht nur Alexander Gauland und Björn Höcke um die sogenannten Ohren hauen möchte (denen allerdings besonders heftig), sondern auch all den gemäßigteren bürgerlichen Geistern, die sich, mehr oder weniger heimlich, danach sehnen, dass endlich weniger Aufhebens gemacht werde von deutscher Schuld und deutscher Schande, damit der Blick frei werde auf bessere und hellere Zeiten, auf jene Gestalten, Werke, Taten also, die es einem leichter machten, stolz auf Deutschland zu sein, auf Glanz und Größe der deutschen Vergangenheit, diese Sätze hat, ausgerechnet, Richard Wagner geschrieben, klar und unzweideutig, wenn auch in einem eigenwilligen Deutsch: "Daß aus dem Schooße des deutschen Volkes Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven erstanden, verführt die große Zahl der mittelmäßig Begabten gar zu leicht, diese großen Geister als von Rechts wegen zu sich gehörig zu betrachten, und der Masse des Volkes mit demagogischem Behagen vorzureden, sie selbst sei Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven. Nichts schmeichelt dem Hange zur Bequemlichkeit und Trägheit mehr, als sich eine hohe Meinung von sich selbst beigebracht zu wissen, die Meinung, als sei man ganz von selbst etwas Großes und habe sich, um es zu werden, gar keine Mühe erst zu geben. Diese Neigung ist grunddeutsch . . ."
Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche: Genau diese Namen, die Helden aus der Geschichte der Künste und des Geistes, werden befragt, gedeutet und zitiert in Dieter Borchmeyers tausendseitigem Buch "Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst" - und dass es um die andere Geschichte nicht geht, nicht um die Geschichte von Kaisern und Fürsten, Revolutionen, Kriegen, Verträgen und gesellschaftlichem Wandel (oder nur insofern, als all das womöglich reflektiert und vor allem, in seiner deutschen Variante, beklagt wird in der Literatur): Das ist schon eines der wichtigsten Themen dieses Buchs.
Es können nämlich die Deutschtümler von heute, die Bewältigungsgegner und Stolzseinwoller noch so gierig greifen nach dem Mantel der Geschichte, noch so heftig mit dem Fuß auf deutschen Boden stampfen - das deutsche Territorium war immer schon zu unbestimmt, zu unscharf an den Rändern, als dass man irgendwann einfach hätte sagen können, deutsch sei eben das, was innerhalb der deutschen Grenzen geschehe.
Und die Chronik der Ereignisse, die Liste der bedeutenden Akteure geben auch zu wenig her, als dass sich der Wunsch nach klarer Definition und einer Identifikation mit deutscher Größe dort erfüllen könnte. Wer rückwärts blickt, sieht den Bismarckstaat, das preußische Deutschland, dem keine achtzig Jahre Dauer beschieden waren. Und das schon seinen empfindsameren Zeitgenossen, also jenen Autoren, deren Texte Dieter Borchmeyer in seinem Buch zitiert und referiert, als geistlos und barbarisch erschien, ja geradezu als undeutsch in seinem Militarismus und seiner Gier nach immer neuen Territorien.
Und davor, das "liebe Heil'ge Röm'sche Reich" war zu lange schon zu morsch gewesen; als im "Faust" sein Morschen beklagt wurde, war es gerade untergegangen. Immer war es aber zu groß, zu zerstritten und zerrissen, als dass es als Gefäß für deutsches Wesen, deutsche Größe taugte. Einer wie Friedrich, König in Preußen, der Krieg gegen seinen Kaiser führte, Land raubte und die Reichsverfassung verhöhnte, war auch nur aus einer preußischen Perspektive "der Große"; aus jeder anderen eher nicht.
Nein, das ist schon eines der Verdienste, das Borchmeyers Riesenbuch quasi im Vorübergehen erwirbt: dass beim Lesen ganz deutlich wird, dass es die eine deutsche Geschichte, welche, der französischen vergleichbar, einen gemeinsamen Erfahrungs- und Erinnerungsraum formte, eine gemeinsame Leidens- und Erfolgschronik erzählte, nicht gibt.
Und wenn Borchmeyer davon auf dem Weg über die Literaturgeschichte erzählt, wird das umso anschaulicher: Als im 19. Jahrhundert die Deutschen ihre Herkunft und ihr Wesen in den Urwäldern Germaniens suchten, fanden sie Arminius, den Cherusker, den Sieger der sogenannten Hermannsschlacht im Teutoburger Wald. Und Borchmeyer macht sich (und zum Teil auch seinen Lesern) die Mühe, Heinrich von Kleists Drama "Die Hermannsschlacht" noch einmal und so genau und gegen die Intentionen des Autors zu lesen, bis der tiefe innere Widerspruch offensichtlich ist - dass nämlich gerade dieser deutsche Held, dieser Arminius, im Sinne Kleists eigentlich undeutsch handelt: unehrlich, heimtückisch, zynisch und mit jener kalten Grausamkeit, welche die Deutschen doch eigentlich den Römern (und den Franzosen, für die sie stehen) zuschreiben wollten.
Es geht also um Texte, um literarische und essayistische, historische und philosophische, die alle um die Frage kreisen, was das sei, Deutschland und das Deutsche: von der Weimarer Klassik bis zum späten Thomas Mann. Ein überforderter Rezensent hat Dieter Borchmeyer, dem Literaturprofessor, vorgeworfen, dass er ein Gelehrter und kein Intellektueller sei, kein Mann also, der sich ins Handgemenge politischer Debatten stürzte, sondern ein bedächtiger Leser und Deuter, dem seine Bibliothek völlig ausreicht als Erfahrungs- und Erinnerungsraum.
Dabei ist die Gelehrsamkeit Borchmeyers geradezu die Voraussetzung für die Aktualität und die Relevanz seines Buchs. Denn die Frage, was deutsch sei, stellt sich ja nicht bloß dem, der in seiner Bibliothek sitzt und überlegt, ob er die Bücher neu sortieren soll. Die Frage stellt sich heute, weil so viele Deutsche so genau zu wissen scheinen, was undeutsch sei, was nicht dazugehöre, was also gefälligst draußen bleiben solle: es sind die Globalisierung und der Islam, es ist also einerseits das, was linke TTIP-Gegner schon mal "amerikanische Unkultur" nennen, all das Bunte, Grelle, Billige, überdeutlich und ohne alle Voraussetzungen Verständliche, der Pop, der Trash, der angeblich totale Kommerz. Und andererseits sind es die Minarette, die Muezzinrufe, die Kopftücher, die anderen Feste und Dresscodes und Fastenvorschriften.
Es geht im Kern also um die Kultur; und die Frage, was das eigentlich sei, das Deutsche, das da bedroht und gefährdet werde, führt naturgemäß wieder zu Richard Wagners Frage, ob es wirklich reiche, sich einen Deutschen zu nennen, damit man Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven als sein exklusives Erbe und Eigentum beanspruchen könne, gegen die anderen, mit ihrem Muezzin oder ihren komischen englischen Wörtern.
Was Schiller und Beethoven angeht, möchte man, ganz ohne Borchmeyers Hilfe, schon mal allen Deutschtümlern empfehlen, die ohnehin schon etwas abgenudelte Neunte Symphonie sich so lange immer wieder vorzuspielen, bis auch der Letzte begriffen hat, dass da nicht bloß von den Deutschen die Rede ist. Alle Menschen, heißt es, werden Brüder. (Borchmeyer, in seiner Gelehrsamkeit, widmet allein der Hymne ein ganzes Kapitel.)
Was, auch wenn man die hymnische Erregung der "Ode an die Freude" ein bisschen herunterkühlen möchte, doch das Thema der ganzen Weimarer Klassik ist. Wer glaubt, die Frage, was deutsch sei, sei schon beantwortet, indem man sich auf die eigene, geistige Herkunft von Weimar, aufs Erbe Goethes und Schillers beruft: Der hat die Weimarer Klassik nicht wirklich verstanden, der hat nicht gemerkt, dass Goethe und Schiller auf die Frage, was deutsch sei, die einfache Antwort verweigern. Auch sie stellen erst einmal fest, dass es die Einheit von Territorium und Gesellschaft, Staat, Sprache und gemeinsamer Geschichte, die es den Franzosen, trotz all ihrer Kriege und Bürgerkriege, so einfach macht, Franzosen zu sein, in Deutschland nicht gibt und niemals gab.
Wenn das Deutsche im Deutschen aber nicht zu erkennen, nicht zu bestimmen sei: Dann müsse man es vielleicht auch nicht konstruieren. Dann sollte man vielleicht den Mangel als Herausforderung begreifen. Und im Deutschen nicht das Deutsche suchen. Sondern den Menschen, ganz allgemein und universell.
Gerade deshalb, so geht der Weimarer Gedanke weiter, gerade weil deutsch allein keine Eigenschaft ist, sei die deutsche Kultur so offen für und neugierig auf alles Fremde, gerade deshalb könne man als Deutscher so leicht ein Grieche im Geiste und in der Sprache sein, ein Gesinnungsrömer, der literarische Zwilling eines persischen Dichters. Es schwingen in dieser Sicht auf das Deutsche ein Universalismus und ein Kosmopolitismus mit, eine Offenheit, welche im Grunde jede Rede vom Nichtdeutschen, gar vom Undeutschen kategorisch ausschließt, weil das Fremde ja tendenziell nur das Nochnichtdeutsche ist, noch nicht wahr- und aufgenommen und eingemeindet in die universale deutsche Kultur. Man fasst es, wenn man Borchmeyers Referat und den vielen Zitaten folgt, manchmal gar nicht, dass heutige Deutsche, die doch von Weimar auch schon mal gehört haben müssten, tatsächlich in ein paar Minaretten schon die Zeichen ihres baldigen Untergangs sehen.
Und zugleich klingt in dieser Gleichung, dass deutsch sein einfach Mensch sein heiße, eine unangenehme Prätention mit, ein Anspruch auf Besonderheit, ja der Glaube an eine Auserwähltheit, von der es nicht so weit ist zur Behauptung der eigenen Überlegenheit. Borchmeyer folgt auch dieser Spur, und wieder ist es seine Gelehrsamkeit, der auffällt, wie häufig beides, die Offenheit und der Universalismus einerseits und das Erwähltheits- und Überlegenheitsgefühl andererseits, in einem Werk neben- oder gegeneinanderstehen. Der Satz, wonach am deutschen Wesen die Welt genesen solle, war in seinem Ursprung nicht so böse gemeint, wie er dann weitergesagt und angewandt wurde in der Wirklichkeit. Er war nur Teil eines schrecklich schlechten Gedichts, dessen andere Verse man auch nicht mehr hören möchte - nach all dem, was deutsches Wesen der Welt beschert hat. (Aber selbst Karl Marx, der frühe, der alles Deutschtümelnde verachtete, war für das Erwähltheitsdenken empfänglich. Immer wieder spielen seine Texte mit dem Gedanken, dass in Deutschland, wo die Entrechtung der Menschen sich vollendet habe, auch die Befreiung vollendet werden müsste.)
Es sind, wie erwähnt, mehr als tausend Seiten, es ist ein Text, der sich nur von Texten nährt - es wäre ein Wunder, wenn es nichts zu mäkeln gäbe: Von der Architektur ist nicht die Rede, von Malerei und Skulptur noch nicht einmal auf dem Umweg über Texte. Und dass auch die Musik, die Borchmeyer ein ganzes, großes Kapitel wert ist, nur eine Nebenrolle spielt, als Gegenstand von Texten, welche die Musik reflektieren und kritisieren: Das fällt besonders in gewissen Passagen auf, die eigentlich von etwas anderem handeln. Es geht da ums Selbstlob der deutschen Provinz, um die Frage, wie und wo sich geistiges Leben ereignen könne, wenn man einander nicht einfach treffen kann, zum Dinner im "Procope" oder im Palais Royal; wenn man stattdessen korrespondieren muss oder weit reisen, so zwischen Weimar und Königsberg, Göttingen, Heidelberg, Berlin. Die Antwort, dass das geistige Leben im multiprovinziellen Deutschland vielfältiger und individueller gewesen sei, aber dass es ihm zugleich gemangelt habe an der gesellschaftlich-politischen Verbindlichkeit, welche erst in der Metropole erzwungen werde durch die Begegnung mit der Obrigkeit und die Nähe zu Zeitungen, Verlagen, einer mächtigen Publizistik: Diese Antwort ist einerseits sicher richtig. Und wirft zugleich doch die Frage auf, ob Mozart und Beethoven wirklich Provinzler waren. Wien ums Jahr 1800 hatte um die 250 000 Einwohner; das waren halb so viel wie in Paris. Aber Berlin hätte eineinhalb mal hineingepasst, Weimar mehr als dreißigmal. Es gab dort, außer dem Hof und aristokratischen Mäzenen, auch ein sachkundiges bürgerliches Publikum, eine Öffentlichkeit, Konkurrenz, Intrigen, ein kommerzielles Verwertungssystem. Und aus diesen Produktionsbedingungen heraus ist diese Musik entstanden. Die "Pastorale", zum Beispiel, ist Großstadtmusik, die einen Ausflug aufs Land macht; zu Hause ist die Musik dort nicht.
Aber das wäre womöglich ein anderes Buch, noch einmal tausend Seiten - wobei schon das vorliegende, gerade weil es so dick und voller Zitate ist, sich dem Anspruch auf eine vollständige Übersicht völlig entzieht. Im Gegenteil, wer es auf einmal durchzulesen versucht, gerät nur in die Gefahr, dass er die markanten Sätze, die überraschend aktuellen Gedanken behält. Und deren Urheber vergisst, durcheinanderbringt, noch einmal nachschlagen will und sich bei der Suche festliest an einer Stelle, nach der er gar nicht gesucht hat. Wenn also dieses Buch ein Verdienst hat, dann besteht das nicht darin, dass es nach tausend Seiten der Lektüre eine Antwort auf die Titelfrage hätte. Sondern darin, dass es nachweist, wie geist- und traditionslos, man ist versucht zu sagen: wie undeutsch die geläufigen Antworten sind, mit denen heute das vermeintlich Eigene sich gegen das Fremde abzusetzen versucht.
Deutsch sein, der Satz wird Richard Wagner zugeschrieben, heiße, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Kann es sein, dass man den Satz, ohne viel Substanz zu verlieren, fortschreiben kann mit: Wir schaffen das?
CLAUDIUS SEIDL
Dieter Borchmeyer: "Was ist deutsch?". Rowohlt Berlin, 1056 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieter Borchmeyer fragt "Was ist deutsch?" - und verweigert auf mehr als tausend Seiten die Antwort. Das ist kein Mangel, das ist das Verdienst dieses erstaunlich aktuellen Buchs
Die Sätze, die man nicht nur Alexander Gauland und Björn Höcke um die sogenannten Ohren hauen möchte (denen allerdings besonders heftig), sondern auch all den gemäßigteren bürgerlichen Geistern, die sich, mehr oder weniger heimlich, danach sehnen, dass endlich weniger Aufhebens gemacht werde von deutscher Schuld und deutscher Schande, damit der Blick frei werde auf bessere und hellere Zeiten, auf jene Gestalten, Werke, Taten also, die es einem leichter machten, stolz auf Deutschland zu sein, auf Glanz und Größe der deutschen Vergangenheit, diese Sätze hat, ausgerechnet, Richard Wagner geschrieben, klar und unzweideutig, wenn auch in einem eigenwilligen Deutsch: "Daß aus dem Schooße des deutschen Volkes Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven erstanden, verführt die große Zahl der mittelmäßig Begabten gar zu leicht, diese großen Geister als von Rechts wegen zu sich gehörig zu betrachten, und der Masse des Volkes mit demagogischem Behagen vorzureden, sie selbst sei Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven. Nichts schmeichelt dem Hange zur Bequemlichkeit und Trägheit mehr, als sich eine hohe Meinung von sich selbst beigebracht zu wissen, die Meinung, als sei man ganz von selbst etwas Großes und habe sich, um es zu werden, gar keine Mühe erst zu geben. Diese Neigung ist grunddeutsch . . ."
Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche: Genau diese Namen, die Helden aus der Geschichte der Künste und des Geistes, werden befragt, gedeutet und zitiert in Dieter Borchmeyers tausendseitigem Buch "Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst" - und dass es um die andere Geschichte nicht geht, nicht um die Geschichte von Kaisern und Fürsten, Revolutionen, Kriegen, Verträgen und gesellschaftlichem Wandel (oder nur insofern, als all das womöglich reflektiert und vor allem, in seiner deutschen Variante, beklagt wird in der Literatur): Das ist schon eines der wichtigsten Themen dieses Buchs.
Es können nämlich die Deutschtümler von heute, die Bewältigungsgegner und Stolzseinwoller noch so gierig greifen nach dem Mantel der Geschichte, noch so heftig mit dem Fuß auf deutschen Boden stampfen - das deutsche Territorium war immer schon zu unbestimmt, zu unscharf an den Rändern, als dass man irgendwann einfach hätte sagen können, deutsch sei eben das, was innerhalb der deutschen Grenzen geschehe.
Und die Chronik der Ereignisse, die Liste der bedeutenden Akteure geben auch zu wenig her, als dass sich der Wunsch nach klarer Definition und einer Identifikation mit deutscher Größe dort erfüllen könnte. Wer rückwärts blickt, sieht den Bismarckstaat, das preußische Deutschland, dem keine achtzig Jahre Dauer beschieden waren. Und das schon seinen empfindsameren Zeitgenossen, also jenen Autoren, deren Texte Dieter Borchmeyer in seinem Buch zitiert und referiert, als geistlos und barbarisch erschien, ja geradezu als undeutsch in seinem Militarismus und seiner Gier nach immer neuen Territorien.
Und davor, das "liebe Heil'ge Röm'sche Reich" war zu lange schon zu morsch gewesen; als im "Faust" sein Morschen beklagt wurde, war es gerade untergegangen. Immer war es aber zu groß, zu zerstritten und zerrissen, als dass es als Gefäß für deutsches Wesen, deutsche Größe taugte. Einer wie Friedrich, König in Preußen, der Krieg gegen seinen Kaiser führte, Land raubte und die Reichsverfassung verhöhnte, war auch nur aus einer preußischen Perspektive "der Große"; aus jeder anderen eher nicht.
Nein, das ist schon eines der Verdienste, das Borchmeyers Riesenbuch quasi im Vorübergehen erwirbt: dass beim Lesen ganz deutlich wird, dass es die eine deutsche Geschichte, welche, der französischen vergleichbar, einen gemeinsamen Erfahrungs- und Erinnerungsraum formte, eine gemeinsame Leidens- und Erfolgschronik erzählte, nicht gibt.
Und wenn Borchmeyer davon auf dem Weg über die Literaturgeschichte erzählt, wird das umso anschaulicher: Als im 19. Jahrhundert die Deutschen ihre Herkunft und ihr Wesen in den Urwäldern Germaniens suchten, fanden sie Arminius, den Cherusker, den Sieger der sogenannten Hermannsschlacht im Teutoburger Wald. Und Borchmeyer macht sich (und zum Teil auch seinen Lesern) die Mühe, Heinrich von Kleists Drama "Die Hermannsschlacht" noch einmal und so genau und gegen die Intentionen des Autors zu lesen, bis der tiefe innere Widerspruch offensichtlich ist - dass nämlich gerade dieser deutsche Held, dieser Arminius, im Sinne Kleists eigentlich undeutsch handelt: unehrlich, heimtückisch, zynisch und mit jener kalten Grausamkeit, welche die Deutschen doch eigentlich den Römern (und den Franzosen, für die sie stehen) zuschreiben wollten.
Es geht also um Texte, um literarische und essayistische, historische und philosophische, die alle um die Frage kreisen, was das sei, Deutschland und das Deutsche: von der Weimarer Klassik bis zum späten Thomas Mann. Ein überforderter Rezensent hat Dieter Borchmeyer, dem Literaturprofessor, vorgeworfen, dass er ein Gelehrter und kein Intellektueller sei, kein Mann also, der sich ins Handgemenge politischer Debatten stürzte, sondern ein bedächtiger Leser und Deuter, dem seine Bibliothek völlig ausreicht als Erfahrungs- und Erinnerungsraum.
Dabei ist die Gelehrsamkeit Borchmeyers geradezu die Voraussetzung für die Aktualität und die Relevanz seines Buchs. Denn die Frage, was deutsch sei, stellt sich ja nicht bloß dem, der in seiner Bibliothek sitzt und überlegt, ob er die Bücher neu sortieren soll. Die Frage stellt sich heute, weil so viele Deutsche so genau zu wissen scheinen, was undeutsch sei, was nicht dazugehöre, was also gefälligst draußen bleiben solle: es sind die Globalisierung und der Islam, es ist also einerseits das, was linke TTIP-Gegner schon mal "amerikanische Unkultur" nennen, all das Bunte, Grelle, Billige, überdeutlich und ohne alle Voraussetzungen Verständliche, der Pop, der Trash, der angeblich totale Kommerz. Und andererseits sind es die Minarette, die Muezzinrufe, die Kopftücher, die anderen Feste und Dresscodes und Fastenvorschriften.
Es geht im Kern also um die Kultur; und die Frage, was das eigentlich sei, das Deutsche, das da bedroht und gefährdet werde, führt naturgemäß wieder zu Richard Wagners Frage, ob es wirklich reiche, sich einen Deutschen zu nennen, damit man Goethe und Schiller, Mozart und Beethoven als sein exklusives Erbe und Eigentum beanspruchen könne, gegen die anderen, mit ihrem Muezzin oder ihren komischen englischen Wörtern.
Was Schiller und Beethoven angeht, möchte man, ganz ohne Borchmeyers Hilfe, schon mal allen Deutschtümlern empfehlen, die ohnehin schon etwas abgenudelte Neunte Symphonie sich so lange immer wieder vorzuspielen, bis auch der Letzte begriffen hat, dass da nicht bloß von den Deutschen die Rede ist. Alle Menschen, heißt es, werden Brüder. (Borchmeyer, in seiner Gelehrsamkeit, widmet allein der Hymne ein ganzes Kapitel.)
Was, auch wenn man die hymnische Erregung der "Ode an die Freude" ein bisschen herunterkühlen möchte, doch das Thema der ganzen Weimarer Klassik ist. Wer glaubt, die Frage, was deutsch sei, sei schon beantwortet, indem man sich auf die eigene, geistige Herkunft von Weimar, aufs Erbe Goethes und Schillers beruft: Der hat die Weimarer Klassik nicht wirklich verstanden, der hat nicht gemerkt, dass Goethe und Schiller auf die Frage, was deutsch sei, die einfache Antwort verweigern. Auch sie stellen erst einmal fest, dass es die Einheit von Territorium und Gesellschaft, Staat, Sprache und gemeinsamer Geschichte, die es den Franzosen, trotz all ihrer Kriege und Bürgerkriege, so einfach macht, Franzosen zu sein, in Deutschland nicht gibt und niemals gab.
Wenn das Deutsche im Deutschen aber nicht zu erkennen, nicht zu bestimmen sei: Dann müsse man es vielleicht auch nicht konstruieren. Dann sollte man vielleicht den Mangel als Herausforderung begreifen. Und im Deutschen nicht das Deutsche suchen. Sondern den Menschen, ganz allgemein und universell.
Gerade deshalb, so geht der Weimarer Gedanke weiter, gerade weil deutsch allein keine Eigenschaft ist, sei die deutsche Kultur so offen für und neugierig auf alles Fremde, gerade deshalb könne man als Deutscher so leicht ein Grieche im Geiste und in der Sprache sein, ein Gesinnungsrömer, der literarische Zwilling eines persischen Dichters. Es schwingen in dieser Sicht auf das Deutsche ein Universalismus und ein Kosmopolitismus mit, eine Offenheit, welche im Grunde jede Rede vom Nichtdeutschen, gar vom Undeutschen kategorisch ausschließt, weil das Fremde ja tendenziell nur das Nochnichtdeutsche ist, noch nicht wahr- und aufgenommen und eingemeindet in die universale deutsche Kultur. Man fasst es, wenn man Borchmeyers Referat und den vielen Zitaten folgt, manchmal gar nicht, dass heutige Deutsche, die doch von Weimar auch schon mal gehört haben müssten, tatsächlich in ein paar Minaretten schon die Zeichen ihres baldigen Untergangs sehen.
Und zugleich klingt in dieser Gleichung, dass deutsch sein einfach Mensch sein heiße, eine unangenehme Prätention mit, ein Anspruch auf Besonderheit, ja der Glaube an eine Auserwähltheit, von der es nicht so weit ist zur Behauptung der eigenen Überlegenheit. Borchmeyer folgt auch dieser Spur, und wieder ist es seine Gelehrsamkeit, der auffällt, wie häufig beides, die Offenheit und der Universalismus einerseits und das Erwähltheits- und Überlegenheitsgefühl andererseits, in einem Werk neben- oder gegeneinanderstehen. Der Satz, wonach am deutschen Wesen die Welt genesen solle, war in seinem Ursprung nicht so böse gemeint, wie er dann weitergesagt und angewandt wurde in der Wirklichkeit. Er war nur Teil eines schrecklich schlechten Gedichts, dessen andere Verse man auch nicht mehr hören möchte - nach all dem, was deutsches Wesen der Welt beschert hat. (Aber selbst Karl Marx, der frühe, der alles Deutschtümelnde verachtete, war für das Erwähltheitsdenken empfänglich. Immer wieder spielen seine Texte mit dem Gedanken, dass in Deutschland, wo die Entrechtung der Menschen sich vollendet habe, auch die Befreiung vollendet werden müsste.)
Es sind, wie erwähnt, mehr als tausend Seiten, es ist ein Text, der sich nur von Texten nährt - es wäre ein Wunder, wenn es nichts zu mäkeln gäbe: Von der Architektur ist nicht die Rede, von Malerei und Skulptur noch nicht einmal auf dem Umweg über Texte. Und dass auch die Musik, die Borchmeyer ein ganzes, großes Kapitel wert ist, nur eine Nebenrolle spielt, als Gegenstand von Texten, welche die Musik reflektieren und kritisieren: Das fällt besonders in gewissen Passagen auf, die eigentlich von etwas anderem handeln. Es geht da ums Selbstlob der deutschen Provinz, um die Frage, wie und wo sich geistiges Leben ereignen könne, wenn man einander nicht einfach treffen kann, zum Dinner im "Procope" oder im Palais Royal; wenn man stattdessen korrespondieren muss oder weit reisen, so zwischen Weimar und Königsberg, Göttingen, Heidelberg, Berlin. Die Antwort, dass das geistige Leben im multiprovinziellen Deutschland vielfältiger und individueller gewesen sei, aber dass es ihm zugleich gemangelt habe an der gesellschaftlich-politischen Verbindlichkeit, welche erst in der Metropole erzwungen werde durch die Begegnung mit der Obrigkeit und die Nähe zu Zeitungen, Verlagen, einer mächtigen Publizistik: Diese Antwort ist einerseits sicher richtig. Und wirft zugleich doch die Frage auf, ob Mozart und Beethoven wirklich Provinzler waren. Wien ums Jahr 1800 hatte um die 250 000 Einwohner; das waren halb so viel wie in Paris. Aber Berlin hätte eineinhalb mal hineingepasst, Weimar mehr als dreißigmal. Es gab dort, außer dem Hof und aristokratischen Mäzenen, auch ein sachkundiges bürgerliches Publikum, eine Öffentlichkeit, Konkurrenz, Intrigen, ein kommerzielles Verwertungssystem. Und aus diesen Produktionsbedingungen heraus ist diese Musik entstanden. Die "Pastorale", zum Beispiel, ist Großstadtmusik, die einen Ausflug aufs Land macht; zu Hause ist die Musik dort nicht.
Aber das wäre womöglich ein anderes Buch, noch einmal tausend Seiten - wobei schon das vorliegende, gerade weil es so dick und voller Zitate ist, sich dem Anspruch auf eine vollständige Übersicht völlig entzieht. Im Gegenteil, wer es auf einmal durchzulesen versucht, gerät nur in die Gefahr, dass er die markanten Sätze, die überraschend aktuellen Gedanken behält. Und deren Urheber vergisst, durcheinanderbringt, noch einmal nachschlagen will und sich bei der Suche festliest an einer Stelle, nach der er gar nicht gesucht hat. Wenn also dieses Buch ein Verdienst hat, dann besteht das nicht darin, dass es nach tausend Seiten der Lektüre eine Antwort auf die Titelfrage hätte. Sondern darin, dass es nachweist, wie geist- und traditionslos, man ist versucht zu sagen: wie undeutsch die geläufigen Antworten sind, mit denen heute das vermeintlich Eigene sich gegen das Fremde abzusetzen versucht.
Deutsch sein, der Satz wird Richard Wagner zugeschrieben, heiße, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Kann es sein, dass man den Satz, ohne viel Substanz zu verlieren, fortschreiben kann mit: Wir schaffen das?
CLAUDIUS SEIDL
Dieter Borchmeyer: "Was ist deutsch?". Rowohlt Berlin, 1056 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Hymnisch bespricht Rezensent Thomas Schmid dieses mehr als tausend Seiten umfassende Werk des Heidelberger Literaturwissenschaftlers Dieter Borchmeyer. Wie der Autor anhand zahlreicher literarischer und publizistischer Schriften, die er ausführlich zitiert, die Frage nach der deutschen Selbstfindung stellt, hat den Kritiker tief beeindruckt: Er liest hier nicht nur nach, wie Borchmeyer die Weimarer Klassik von "verquasten" Deutungen befreit, indem er etwa aufzeigt, dass Goethe statt nationaler "Selbstlustigkeit" die "Epoche der Welt-Literatur" proklamierte oder Schiller bereits für eine europäische Staatengemeinschaft stritt, sondern staunt auch, wie differenziert und umsichtig der Autor alle Facetten des deutschen Universalismus beleuchtet. Neben den gehaltvollen Ausführungen etwa zu deutschen Nationalhymnen, deutscher Mythologie, Wagner und der Musik oder zu deutschen Universitäten lobt der Kritiker vor allem das Kapitel "Deutschtum und Judentum", das ihm schmerzhaft verdeutlicht, wie leidenschaftlich deutsche Juden versuchten, sich zu assimilieren und wie eng Juden und Deutsche einst miteinander verbunden waren. Nur auf das letzte Kapitel, in dem der Autor mit Blick auf die Wiedervereinigung das neue europäische Deutschland verteidigt, hätte Schmid verzichten können.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Summe eines Lebenswerks und Standortbestimmung in einem ... Borchmeyers Buch ersetzt ein ganzes Studium der Germanistik. taz