Produktdetails
  • Verlag: Suhrkamp
  • Seitenzahl: 62
  • Abmessung: 204mm x 126mm x 11mm
  • Gewicht: 182g
  • ISBN-13: 9783518409572
  • ISBN-10: 3518409573
  • Artikelnr.: 24586612
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.1998

Was wiederholt geschehen ist
Emphatische Beiläufigkeit: Neue Gedichte von Elisabeth Borchers

Lang, lang vorbei sind die Zeiten, in denen ein märchenhaft-surreales Gedicht einen Sturm in den Leserbrief-Spalten erregen konnte. Das war im Jahre 1960. "eia wasser regnet schlaf" begann dieses Gedicht. Es stammte von Elisabeth Borchers, die damals Mitte Dreißig war, und es war eine Provokation - Provokation durch eine fremde Lautlosigkeit. Die Dichterin ist ihr treu geblieben. Nur daß die surrealen Volten nach und nach aus ihren Gedichten verschwanden und anderen, wirklichkeitsnäheren Erfahrungen Platz machten.

"Ein Gedicht ist nicht diktierbar. Es setzt nicht Kenntnisse voraus, sondern Erfahrung", lautet ein Schlüsselsatz in der schönen Selbstinterpretation, die als Zugabe den neuen Gedichtband "Was ist die Antwort" abschließt. Was aber sind die Erfahrungen dieser vierzig neuen Gedichte? Und gibt es eine Antwort auf die Titelfrage?

Es sind Erfahrungen eines Lebens, das nicht ohne langen und intimen Umgang mit Kunst und Poesie zu denken ist. Elisabeth Borchers verleugnet das nicht in ihren Gedichten, und das ist gut so. Sie schreibt Verse zum Tag von Wolfgang Koeppens Beerdigung, schreibt über ihre Lektüre des Koreaners Ko Un, über den virtuos reimenden Poeten K., in dem wir unseren hochgeschätzten Karl Krolow wiedererkennen. Sie macht das Gedicht eines anderen Kollegen im Nach-Schreiben zu einem eigenen: "Am 10. Oktober 1997 las Tadeusz Rózewicz in Schiltigheim das Gedicht ,Alte Frauen'". Solche Aneignung ist nicht bloß Hommage, sondern Selbstvergewisserung, Selbstrettung. Auf der Höhe der Kunst gilt alles gleich, braucht es keinen besonderen Anlaß. Noch eine lustlos absolvierte "Ferienlektüre" - ein Roman und "ein bißchen Hotelrechnung" - transzendiert die Situation, und die lesende Poetin liest in alldem "das bald zu schreibende Gedicht".

Dieses eigene Gedicht, das seinem Text immer voraus ist, zielt weder auf Weltsynthesen, noch bleibt es im Verhau der Alltagstrivialität hängen. Es kann auf einen Vorrat an Wissen und Erfahrung zurückgreifen und sagen: "Alles kehrt wieder / und ist schon zu Ende". Das ist Weisheit, nicht Philosophie. Und wenn die Eule der Minerva wieder erscheint, ist das keine Hegel-Reminiszenz, sondern Bild gewordene historische Erfahrung: "Als die Eule / zur Welt geflogen kam / sah sie die Schrecken".

Von diesen Schrecken ist gar nicht besonders oft die Rede. Die Dichterin setzt einen Leser voraus, dem die Andeutung und ein bitteres Etcetera alles sagen:

Wende den Blick ab

von den Feuern zwischen

den Schneehügeln in Bosnien etc.

Das ist Sodom

Wir sind gegen das Schlimmste gefeit.

Sie weiß, daß fünf poetische Zeilen dieses "Schlimmste" nicht aus der Welt schaffen. "Ich habe Gedichte gelesen, die reimten sich wunderbar", sagt Elisabeth Borchers einmal bewundernd und leise zweifelnd. Sie selbst verzichtet zumeist auf den Reim. Wo sie ihn dennoch verwendet, ja gelegentlich häuft, pointiert er nur das Desperate der Bilanz: "welche Böen werden kommen / unter vielen auch die frommen / und auch dieses wird genommen".

Um so erstaunlicher, daß es in diesen neuen Gedichten eine Bastion gibt, die unbezweifelt vorausgesetzt und angerufen wird. Sie erscheint in der Wiederkehr der Wörter "heilig" und das "Heilige". Die Dichterin setzt diesen starken Akzent gleich beim zweiten Gedicht, in einer Evokation der Provence und der Zuwendung zu einer Freundin. Es heißt "Heiliger Januar" und ist eine Apotheose der Sainte-Victoire und der Heiligen Rhône und nimmt noch den Tod in die Heiligsprechung hinein: "Orkus in den wir hinabschauen / Heiliges Hinab". Diese Apotheose ist nicht bloß religiös zu begreifen. Sie hat durchaus etwas mit der orphischen Preisung der Welt zu tun, mit dem Werk des Dichtens und der Sprache; denn auch die Buchstaben werden dringlich angerufen: "und bitte die Heiligen Buchstaben, mein Leben zu verlängern" - und wie schön ist der dankbar lebensfreudige Zusatz: "Was wiederholt geschehen ist".

"Was ist die Antwort" lautet der Titel des schmalen und gehaltvollen Buches. Er wirkt wie hingesagt, und sein emphatisches Understatement ist wie eine eigentümlich trostvolle Bilanz. Wer die Gedichte der Elisabeth Borchers liest, begreift, daß die Verlängerung des Lebens durch Lektüre kein Paradox ist, sondern Erfahrung: "Was wiederholt geschehen ist". HARALD HARTUNG

Elisabeth Borchers: "Was ist die Antwort". Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 68 S., geb., 28,- DM.

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-Ein Gedicht ist nicht diktierbar. Es setzt nicht Kenntnisse voraus, sondern Erfahrung.- Und in der Tat: Es ist in erster Linie die Erfahrung eines reichen Lebens, die in Elisabeth Borchers neuem Lyrikband in jedem Gedicht und in jeder Zeile spürbar und wirksam wird. Auf nachdenkliche, leise und zuweilen auch heitere und gelassene Weise nähert sich die Lyrikerin ihren Themen: -Als ich mich unbeobachtet sah/tauchte ich eine Hand in das Kadaverwasser/meiner Kindheit./Das ist keine Erzählung./Das ist der Augenblick.- Sechs Jahre nach Erscheinen ihres letzten Buchs legt Elisabeth Borchers nun eine neue Sammlung Gedichte vor, einen ungemein anregenden, klaren, ja schönen Band, in dem das Leichte, das so schwer zu sagen ist, seinen Ausdruck findet: -Heimat ist wo wir waren/oder sein werden ist nicht Krieg/wo der Knopf an der Jacke nicht fehlt/wo die Suppe noch warm ist/Heimat ist ein kurzer Satz ein Vers/ein Wort ein Amen.- So ist Heimat, und so sind die Gedichte einer Autorin, die sich -mit einigen Versen in das Gedächtnis ihrer Leser und wohl auch in die Geschichte der deutschen Lyrik eingeschrieben.- (Frankfurter Allgemeine Zeitung)