Skeptisch und scharfsichtig sucht J. M. Coetzee in seinen Büchern nach einem Bild von der Welt, das nichts verkürzt oder beschönigt. Stilistisch meisterhaft und moralisch unbestechlich legt er das Nervenzentrum der Wirklichkeit bloß und zeigt uns die grausame Unterseite jeder Ungerechtigkeit. Dieses unablässige Suchen und seine unerschrockene Neugier zeichnen auch seine Essays aus, die J. M. Coetzee eigens für seine deutschen Leser zusammengestellt hat. Messerscharf analysiert er das Problem aufgezwungener, aber auch selbst auferlegter Zensur. Auf seine Frage "Was ist ein Klassiker?" findet J. M. Coetzee Antwort in detaillierten und kenntnisreichen Porträts von Autoren wie Erasmus von Rotterdam, Walter Benjamin, Robert Walser und Ossip Mandelstam und überrascht einmal mehr durch die Universalität seines Blicks.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2007Der Wahrheitssucher vom Kap
J. M. Coetzee verlangt Aufrichtigkeit in der Literatur
Doppelbegabungen auf diesem Terrain sind seltene Fälle. Dem gewieften Analytiker mangelt es oft am notwendigen Phantasie- und Schwadronierkoeffizienten, wenn er sich auf das literarische Territorium begibt. Dem erfinderischen Schriftsteller dagegen geht nicht selten die wahre Lust an der spitzfindigen Theorie auf dem Feld der literarischen Exegese ab. Zu den brillanten Ausnahmen gehört der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee, der die Vorteile beider Begabungen in einer scharfsinnigen Synthese verbindet.
Der Nobelpreisträger lehrte von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimat. Der Titel seiner Aufsatzsammlung "Was ist ein Klassiker?" erinnert an Italo Calvinos Buch "Warum Klassiker lesen?". Die meisten Texte stammen aus Sammlungen, die in den achtziger und neunziger Jahren publiziert wurden. Ergänzt sind sie durch zwei neuere Stücke, die Artikel "Robert Walser. Geschichtenerzähler" aus dem Jahre 2000 und "Walter Benjamin. Passagen-Werk" aus dem Jahre 2001. Die Themenspanne ist weit und ohne offensichtlichen Zusammenhang - allerdings liegt das Schwergewicht auf europäischen Autoren: Kafka, Musil, Erasmus, Tolstoi, Rousseau oder Dostojewski. Da sie so verschiedene Textsorten wie Reden, Artikel für "The New York Review of Books" oder wissenschaftliche Essays zusammenführt, ist die Sammlung so amorph wie die Adressaten, für die sie ursprünglich gedacht war.
Das muss nicht nur von Nachteil sein, sondern birgt auch Überraschungen durch schöne, unerwartete Fundstücke, so etwa den Essay "Müßiggang in Südafrika", einen ursprünglich 1988 in "White Writing. On the Culture of Letters in South Africa" publizierten Text - also in einer Sammlung, die sich nicht nur mit südafrikanischer Literatur befasste, sondern auch mit den Verwerfungen in der südafrikanischen Kultur. Scharfsichtig denkt J. M. Coetzee hier über eines der häufigsten Vorurteile über Südafrika nach, das die Kolonialisten zur Rechtfertigung ihrer Handlungen missbrauchten: den Kontrast zwischen afrikanischer Trägheit und europäischem Fleiß. Er untersucht den Wahrheitsgehalt des stereotypen Denkbildes, das unter anderem auch auf ein Raster zurückgeht, das die Reiseschriftsteller bei der Beurteilung des Charakters der Hottentotten verwendeten. Coetzee weist nach, dass diese Beschreibungen sich auf wenige anthropologische Gemeinplätze (Kleidung, Ernährung, Freizeitbeschäftigung, Sprache, Charakter) stützten, deren historischer Wahrheitsgehalt fragwürdig ist, die aber das Bild der Hottentotten in der westlichen Wahrnehmung nachhaltig beschädigten.
Coetzee geht es in der Untersuchung der Beziehung von Buren und Hottentotten um Aufrichtigkeit und Wahrheit. Wenn man einen gemeinsamen Nenner ausmachen wollte, der seine literarischen Recherchen leitmotivisch durchzieht, dann liegt er hier versteckt: in der Frage nach Wahrhaftigkeit und Lüge. Sie gehört zum Kern seines Nachdenkens, sie ist es, der er sich in immer neuen Volten nähert, und sie dokumentiert gleichzeitig die Querverbindung zu seinem literarischen Werk, etwa dem Roman "Schande".
In den Werken Tolstois entdeckt Coetzee als Bedingung der Aufrichtigkeit den Appell des russischen Schriftstellers, auf die innere Stimme zu hören, die Tolstoi eine Regung zu Gott hin nennt. Diese Bedingung sei nach Tolstoi nicht die vollkommene Selbsterkenntnis, sondern das Streben nach der Wahrheit. Im Aufsatz "Ossip Mandelstam und die Stalin-Ode" wirft Coetzee die literarisch brisante Frage nach der Aufrichtigkeit unter den Bedingungen von Zwang und Unterdrückung auf. Mandelstam hatte 1933 ein stalinkritisches Gedicht geschrieben, das zwar nie publiziert, aber Freunden vorgelesen wurde. Ein Jahr später durchsuchte die Geheimpolizei seine Wohnung, es folgten Verhaftung, Verhör, Einkerkerung und schließlich die Verbannung. Der gesundheitlich angeschlagene Mandelstam schrieb später eine Ode an Stalin, die ihn zwar nicht vor einer erneuten Verhaftung schützte, möglicherweise aber das Leben seiner Frau rettete. Coetzee kommt zum Schluss, dass dieses Loblied auf Stalin nicht aufrichtig gewesen sei; wenn es doch so scheine, dann deshalb, weil es nicht vom Dichter Mandelstam kam, sondern von der Stimme des Wahnsinns, die durch ihn sprach.
Die kühne Recherche nach der inneren Wahrheit erfährt in seinem Artikel über "Robert Walser. Geschichtenerzähler" (2000) eine funkelnde Steigerung. J. M. Coetzee zitiert ohne Umschweife den Romancier Canetti, mit dem er das plötzliche Interesse am verstoßenen Außenseiter Walser als eine eigentümliche Form des Skandals bestimmt. "Ich frage mich", schrieb Canetti 1973, "ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt."
Dieser erfrischende Ansatz auf der Suche nach der Aufrichtigkeit fördert auch im Fall Walsers unkonventionelle Ergebnisse zutage, wenn der kritische Röntgenblick des Nobelpreisträgers die tragischen Bedingungen einer Künstlervita ins Zentrum rückt. Dass Robert Walser, der die letzten Jahre seines Lebens im Vollbesitz der geistigen Kräfte in einem Heim in Herisau mit dem Kleben von Tüten verbringen musste, auf die Frage eines Besuchers, warum er denn nicht mehr schreibe, antwortete, er sei nicht zum Schreiben, sondern zum Verrücktsein hier, wirkt wie ein zynisches Echo auf ein nachträglich beweihräuchertes Dichterleben. Auch das ist eine Form der Aufrichtigkeit, die J. M. Coetzee meint.
PIA REINACHER
J. M. Coetzee: "Was ist ein Klassiker?" Essays. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 335 Seiten, geb., 22,90 [Euro].
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J. M. Coetzee verlangt Aufrichtigkeit in der Literatur
Doppelbegabungen auf diesem Terrain sind seltene Fälle. Dem gewieften Analytiker mangelt es oft am notwendigen Phantasie- und Schwadronierkoeffizienten, wenn er sich auf das literarische Territorium begibt. Dem erfinderischen Schriftsteller dagegen geht nicht selten die wahre Lust an der spitzfindigen Theorie auf dem Feld der literarischen Exegese ab. Zu den brillanten Ausnahmen gehört der südafrikanische Nobelpreisträger J. M. Coetzee, der die Vorteile beider Begabungen in einer scharfsinnigen Synthese verbindet.
Der Nobelpreisträger lehrte von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimat. Der Titel seiner Aufsatzsammlung "Was ist ein Klassiker?" erinnert an Italo Calvinos Buch "Warum Klassiker lesen?". Die meisten Texte stammen aus Sammlungen, die in den achtziger und neunziger Jahren publiziert wurden. Ergänzt sind sie durch zwei neuere Stücke, die Artikel "Robert Walser. Geschichtenerzähler" aus dem Jahre 2000 und "Walter Benjamin. Passagen-Werk" aus dem Jahre 2001. Die Themenspanne ist weit und ohne offensichtlichen Zusammenhang - allerdings liegt das Schwergewicht auf europäischen Autoren: Kafka, Musil, Erasmus, Tolstoi, Rousseau oder Dostojewski. Da sie so verschiedene Textsorten wie Reden, Artikel für "The New York Review of Books" oder wissenschaftliche Essays zusammenführt, ist die Sammlung so amorph wie die Adressaten, für die sie ursprünglich gedacht war.
Das muss nicht nur von Nachteil sein, sondern birgt auch Überraschungen durch schöne, unerwartete Fundstücke, so etwa den Essay "Müßiggang in Südafrika", einen ursprünglich 1988 in "White Writing. On the Culture of Letters in South Africa" publizierten Text - also in einer Sammlung, die sich nicht nur mit südafrikanischer Literatur befasste, sondern auch mit den Verwerfungen in der südafrikanischen Kultur. Scharfsichtig denkt J. M. Coetzee hier über eines der häufigsten Vorurteile über Südafrika nach, das die Kolonialisten zur Rechtfertigung ihrer Handlungen missbrauchten: den Kontrast zwischen afrikanischer Trägheit und europäischem Fleiß. Er untersucht den Wahrheitsgehalt des stereotypen Denkbildes, das unter anderem auch auf ein Raster zurückgeht, das die Reiseschriftsteller bei der Beurteilung des Charakters der Hottentotten verwendeten. Coetzee weist nach, dass diese Beschreibungen sich auf wenige anthropologische Gemeinplätze (Kleidung, Ernährung, Freizeitbeschäftigung, Sprache, Charakter) stützten, deren historischer Wahrheitsgehalt fragwürdig ist, die aber das Bild der Hottentotten in der westlichen Wahrnehmung nachhaltig beschädigten.
Coetzee geht es in der Untersuchung der Beziehung von Buren und Hottentotten um Aufrichtigkeit und Wahrheit. Wenn man einen gemeinsamen Nenner ausmachen wollte, der seine literarischen Recherchen leitmotivisch durchzieht, dann liegt er hier versteckt: in der Frage nach Wahrhaftigkeit und Lüge. Sie gehört zum Kern seines Nachdenkens, sie ist es, der er sich in immer neuen Volten nähert, und sie dokumentiert gleichzeitig die Querverbindung zu seinem literarischen Werk, etwa dem Roman "Schande".
In den Werken Tolstois entdeckt Coetzee als Bedingung der Aufrichtigkeit den Appell des russischen Schriftstellers, auf die innere Stimme zu hören, die Tolstoi eine Regung zu Gott hin nennt. Diese Bedingung sei nach Tolstoi nicht die vollkommene Selbsterkenntnis, sondern das Streben nach der Wahrheit. Im Aufsatz "Ossip Mandelstam und die Stalin-Ode" wirft Coetzee die literarisch brisante Frage nach der Aufrichtigkeit unter den Bedingungen von Zwang und Unterdrückung auf. Mandelstam hatte 1933 ein stalinkritisches Gedicht geschrieben, das zwar nie publiziert, aber Freunden vorgelesen wurde. Ein Jahr später durchsuchte die Geheimpolizei seine Wohnung, es folgten Verhaftung, Verhör, Einkerkerung und schließlich die Verbannung. Der gesundheitlich angeschlagene Mandelstam schrieb später eine Ode an Stalin, die ihn zwar nicht vor einer erneuten Verhaftung schützte, möglicherweise aber das Leben seiner Frau rettete. Coetzee kommt zum Schluss, dass dieses Loblied auf Stalin nicht aufrichtig gewesen sei; wenn es doch so scheine, dann deshalb, weil es nicht vom Dichter Mandelstam kam, sondern von der Stimme des Wahnsinns, die durch ihn sprach.
Die kühne Recherche nach der inneren Wahrheit erfährt in seinem Artikel über "Robert Walser. Geschichtenerzähler" (2000) eine funkelnde Steigerung. J. M. Coetzee zitiert ohne Umschweife den Romancier Canetti, mit dem er das plötzliche Interesse am verstoßenen Außenseiter Walser als eine eigentümliche Form des Skandals bestimmt. "Ich frage mich", schrieb Canetti 1973, "ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt."
Dieser erfrischende Ansatz auf der Suche nach der Aufrichtigkeit fördert auch im Fall Walsers unkonventionelle Ergebnisse zutage, wenn der kritische Röntgenblick des Nobelpreisträgers die tragischen Bedingungen einer Künstlervita ins Zentrum rückt. Dass Robert Walser, der die letzten Jahre seines Lebens im Vollbesitz der geistigen Kräfte in einem Heim in Herisau mit dem Kleben von Tüten verbringen musste, auf die Frage eines Besuchers, warum er denn nicht mehr schreibe, antwortete, er sei nicht zum Schreiben, sondern zum Verrücktsein hier, wirkt wie ein zynisches Echo auf ein nachträglich beweihräuchertes Dichterleben. Auch das ist eine Form der Aufrichtigkeit, die J. M. Coetzee meint.
PIA REINACHER
J. M. Coetzee: "Was ist ein Klassiker?" Essays. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 335 Seiten, geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angela Schader freut sich über die Entscheidung des Fischer-Verlages, den zweiten Essay-Band des südafrikanischen Literatur-Nobelpreisträgers in der für derartige Textsammlungen üblichen Form zu veröffentlichen und nicht durch eine fiktive Erzählerfigur literarisch aufzupeppen, wie das bei der ersten deutschsprachigen Veröffentlichung von Essays aus der Feder J. M. Coetzees vor zwei Jahren geschehen war. In dem nun vorliegenden Band sind Texte aus dem Zeitraum von zwanzig Jahren versammelt, die größtenteils recht unterschiedliche Themen bearbeiten, für die Rezensentin ihren "Kernbegriff" letztlich aber in dem der Wahrheit finden. Schader bezweifelt, dass alle Beiträge glücklich ausgewählt wurden, für sie ist die ein oder andere Untersuchung verzichtbar, doch bewundert sie unterm Strich die akribischen Studien zu Kafka, Dostojewski und anderen als "Etüden in intellektueller Gewissenhaftigkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Angela Schader freut sich über die Entscheidung des Fischer-Verlages, den zweiten Essay-Band des südafrikanischen Literatur-Nobelpreisträgers in der für derartige Textsammlungen üblichen Form zu veröffentlichen und nicht durch eine fiktive Erzählerfigur literarisch aufzupeppen, wie das bei der ersten deutschsprachigen Veröffentlichung von Essays aus der Feder J. M. Coetzees vor zwei Jahren geschehen war. In dem nun vorliegenden Band sind Texte aus dem Zeitraum von zwanzig Jahren versammelt, die größtenteils recht unterschiedliche Themen bearbeiten, für die Rezensentin ihren "Kernbegriff" letztlich aber in dem der Wahrheit finden. Schader bezweifelt, dass alle Beiträge glücklich ausgewählt wurden, für sie ist die ein oder andere Untersuchung verzichtbar, doch bewundert sie unterm Strich die akribischen Studien zu Kafka, Dostojewski und anderen als "Etüden in intellektueller Gewissenhaftigkeit".
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