Wir verstehen uns als Europäer, doch unsere traditionell verankerten Vorstellungen von europäischer Kultur sind fragwürdig. Denn wir schleppen aus der Kolonialzeit und aus der Romantik Ansichten mit uns mit, die unseren Blick auf Geschichte und Geographie verzerren und die Zukunft unseres Kontinents belasten. Dag Nikolaus Hasse ermutigt zu einem offeneren Nachdenken über Europa, dessen geistige Wurzeln weiter und dessen Verbindungen zu kontinentalen Nachbarn intensiver sind, als viele glauben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2022Statt Brüssel
Dag Nikolaus Hasse mustert Bestimmungen des Europäischen
Der Neigung wird oft nachgegeben, das Projekt Europa mit historischen Versuchen über das Europäische auszustaffieren. Wobei dann natürlich nicht von zwei Weltkriegen die Rede ist, Religionskriegen oder kolonialen Raubzügen, sondern eher von Wurzeln (griechischen, christlichen, römischen), von Demokratie, Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft. Die daraus resultierenden Elogen auf Europa sollen mehr oder minder nachdrücklich ein europäisches Gemeinschaftsgefühl stärken, das oft als zu schwach diagnostiziert wird. Dagegen wird der Rückgriff in die Geschichte aufgeboten.
Er ist freilich eine heikle und meist zu großzügig zugeschnittene Angelegenheit. Man kann sich davon in dem Essay überzeugen, den Dag Nikolaus Hasse, Würzburger Professor für Geschichte der Philosophie und insbesondere Experte ihrer arabischen Beiträge, dem Thema widmet. Er verzeichnet konzis die Fallstricke, über die ein aufs Ganze gehendes Lob des Europäischen bei etwas genauerer Betrachtung unweigerlich stolpert.
Das Mittelalter weiß fast noch nichts von Europa, das als kultureller Bezugsraum erst deutlich hervortritt, als es um die Abhebung von anderen Weltteilen geht, die mehr oder minder deutlich auf die Ränge verwiesen werden oder allenfalls zu historischen Vergleichsbeispielen der Größe, die Europa mittlerweile erreicht hatte, herangezogen werden. Das ist selbstredend keine gute Voraussetzung für eine solide Einschätzung europäischer Leistungen im Vergleich zu anderen Weltgegenden und Kulturräumen.
Geht man zentrale Motive durch, die die Bestimmung des Europäischen (durch Europäer) tragen, bleibt denn auch an Allgemeingültigem wenig übrig. Entweder hat sich gezeigt, dass die in Frage stehenden Leistungen durchaus auch außereuropäische Ausprägungen haben. Oder es wird von den zur Eloge ansetzenden Autoren als schlicht europäisch verbucht, was allenfalls in bestimmten kulturellen Teilräumen zu finden war - und noch dazu oft in solchen, welche das intendierte Lob des Europäischen gar nicht im Blick hatte; so etwa im Fall seiner muslimischen oder jüdischen Anteile, die insbesondere dann verdeckt werden, wenn das Christentum als eine zentrale Bestimmung des Europäischen hingestellt wird. Womit der Übergang von der kolonial geprägten Selbstüberschätzung des vermeintlich Europäischen zu seiner romantischen Verklärung gemacht ist, die der Untertitel des Essays anvisiert.
Die kulturellen Traditionen, die das Europäische ausmachen sollen, werden in ihm bündig behandelt. Wissenschaft - war kein Neustart bei den Griechen, trotz Euklid, und überdies wäre aus ihr keine tragende Überlieferung geworden, wenn nicht außereuropäische, insbesondere arabische Autoren wissenschaftliche Traditionen am Leben gehalten hätten. Demokratie - kam als Modus der Gesellschaftsorganisation nicht bloß im antiken Griechenland, sondern auch in anderen Weltgegenden auf. Aufklärung - war keine europäische Spezialität im Umgang mit heiligen Texten und ihren Verwaltern, und zudem ließe sich anfügen, dass hoher Aufklärungsbedarf in europäischen Landen gerade deshalb bestand, weil sich dort geistliche und weltliche Macht in einem besonders hohen Maße ineinander verschränkt hatten.
Und wenn es von solchen hoch ansetzenden Bestimmungen zu etwas bescheideneren Angaben von typisch europäischen kulturellen Traditionen geht, wird die Sache nicht überzeugender. Hasse zeigt an einschlägigen Versuchen, wie dann jeweils ein bestimmter kultureller Teilraum zum Statthalter "des Europäischen" promoviert wird.
Das vielleicht nicht überraschende, aber in der bündigen Behandlung lehrreich erreichte Resümee: Keine Essenz europäischer Kultur lässt sich bestimmen, sondern ein Netz kultureller Formen und Praktiken. Was natürlich nicht gegen das europäische Projekt spricht, sondern nur zeigt, dass ihm die allzu großzügigen Beschwörungen eines einigenden kulturellen Erbes gar nicht gerecht werden. Jenseits der Loyalität zu politisch-rechtlichen Rahmungen ist auf allumfassende Gemeinschaftsgefühle, die durch ein solches Erbe zu stabilisieren wären, ohnehin nicht zu setzen. HELMUT MAYER
Dag Nikolaus Hasse: "Was ist europäisch?" Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 137 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dag Nikolaus Hasse mustert Bestimmungen des Europäischen
Der Neigung wird oft nachgegeben, das Projekt Europa mit historischen Versuchen über das Europäische auszustaffieren. Wobei dann natürlich nicht von zwei Weltkriegen die Rede ist, Religionskriegen oder kolonialen Raubzügen, sondern eher von Wurzeln (griechischen, christlichen, römischen), von Demokratie, Vernunft, Aufklärung und Wissenschaft. Die daraus resultierenden Elogen auf Europa sollen mehr oder minder nachdrücklich ein europäisches Gemeinschaftsgefühl stärken, das oft als zu schwach diagnostiziert wird. Dagegen wird der Rückgriff in die Geschichte aufgeboten.
Er ist freilich eine heikle und meist zu großzügig zugeschnittene Angelegenheit. Man kann sich davon in dem Essay überzeugen, den Dag Nikolaus Hasse, Würzburger Professor für Geschichte der Philosophie und insbesondere Experte ihrer arabischen Beiträge, dem Thema widmet. Er verzeichnet konzis die Fallstricke, über die ein aufs Ganze gehendes Lob des Europäischen bei etwas genauerer Betrachtung unweigerlich stolpert.
Das Mittelalter weiß fast noch nichts von Europa, das als kultureller Bezugsraum erst deutlich hervortritt, als es um die Abhebung von anderen Weltteilen geht, die mehr oder minder deutlich auf die Ränge verwiesen werden oder allenfalls zu historischen Vergleichsbeispielen der Größe, die Europa mittlerweile erreicht hatte, herangezogen werden. Das ist selbstredend keine gute Voraussetzung für eine solide Einschätzung europäischer Leistungen im Vergleich zu anderen Weltgegenden und Kulturräumen.
Geht man zentrale Motive durch, die die Bestimmung des Europäischen (durch Europäer) tragen, bleibt denn auch an Allgemeingültigem wenig übrig. Entweder hat sich gezeigt, dass die in Frage stehenden Leistungen durchaus auch außereuropäische Ausprägungen haben. Oder es wird von den zur Eloge ansetzenden Autoren als schlicht europäisch verbucht, was allenfalls in bestimmten kulturellen Teilräumen zu finden war - und noch dazu oft in solchen, welche das intendierte Lob des Europäischen gar nicht im Blick hatte; so etwa im Fall seiner muslimischen oder jüdischen Anteile, die insbesondere dann verdeckt werden, wenn das Christentum als eine zentrale Bestimmung des Europäischen hingestellt wird. Womit der Übergang von der kolonial geprägten Selbstüberschätzung des vermeintlich Europäischen zu seiner romantischen Verklärung gemacht ist, die der Untertitel des Essays anvisiert.
Die kulturellen Traditionen, die das Europäische ausmachen sollen, werden in ihm bündig behandelt. Wissenschaft - war kein Neustart bei den Griechen, trotz Euklid, und überdies wäre aus ihr keine tragende Überlieferung geworden, wenn nicht außereuropäische, insbesondere arabische Autoren wissenschaftliche Traditionen am Leben gehalten hätten. Demokratie - kam als Modus der Gesellschaftsorganisation nicht bloß im antiken Griechenland, sondern auch in anderen Weltgegenden auf. Aufklärung - war keine europäische Spezialität im Umgang mit heiligen Texten und ihren Verwaltern, und zudem ließe sich anfügen, dass hoher Aufklärungsbedarf in europäischen Landen gerade deshalb bestand, weil sich dort geistliche und weltliche Macht in einem besonders hohen Maße ineinander verschränkt hatten.
Und wenn es von solchen hoch ansetzenden Bestimmungen zu etwas bescheideneren Angaben von typisch europäischen kulturellen Traditionen geht, wird die Sache nicht überzeugender. Hasse zeigt an einschlägigen Versuchen, wie dann jeweils ein bestimmter kultureller Teilraum zum Statthalter "des Europäischen" promoviert wird.
Das vielleicht nicht überraschende, aber in der bündigen Behandlung lehrreich erreichte Resümee: Keine Essenz europäischer Kultur lässt sich bestimmen, sondern ein Netz kultureller Formen und Praktiken. Was natürlich nicht gegen das europäische Projekt spricht, sondern nur zeigt, dass ihm die allzu großzügigen Beschwörungen eines einigenden kulturellen Erbes gar nicht gerecht werden. Jenseits der Loyalität zu politisch-rechtlichen Rahmungen ist auf allumfassende Gemeinschaftsgefühle, die durch ein solches Erbe zu stabilisieren wären, ohnehin nicht zu setzen. HELMUT MAYER
Dag Nikolaus Hasse: "Was ist europäisch?" Zur Überwindung kolonialer und romantischer Denkformen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 137 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Dag Nikolaus Hasse hat ein anregendes kleines Buch verfasst zur großen Frage 'Was ist europäisch?' [...] - auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert.« Süddeutsche Zeitung, 09.12.2021 »Ein kluger und klar geschriebener Essay. Dag Nikolaus Hasse feiert die Vielfalt Europas.« FOCUS, 08.01.2022
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Helmut Mayer findet das Fazit des Buches des Historikers Dag Nikolaus Hasse zwar nicht überraschend, wie der Autor die "Fallstricke" eines auf ein irgendwie gemeinschaftliches Europa abzielenden Lobes aufzeigt, scheint ihm aber dennoch lesenswert und lehrreich. Konzis und anhand zentraler Motive und Traditionen wie Wissenschaft, Demokratie und Aufklärung zeigt der Autor laut Mayer, dass im Zweifelsfall muslimische oder jüdische Anteile großzügig ausgeklammert werden, um einen europäischen Sonderweg zu beschwören. Was europäische Kultur ausmacht, so lernt Wagner, lässt sich allenfalls als "Netz kultureller Formen und Praktiken" bestimmen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Stellvertretend für so viele Bände der bunten Reihe 'Was bedeutet das alles?' mit anregender Lektüre für jede Jackentasche. Für alle, die Zwischenzeiten nicht mit dem Smartphone vertun, sondern sich intellektueller Erfrischung widmen wollen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2021 »Dag Nikolaus Hasse hat ein anregendes kleines Buch verfasst zur großen Frage 'Was ist europäisch?' [...] - auf schmalem Raum äußerst faktenreich ausbuchstabiert.« Süddeutsche Zeitung, 09.12.2021 »Ein kluger und klar geschriebener Essay. Dag Nikolaus Hasse feiert die Vielfalt Europas.« FOCUS, 08.01.2022