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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.1997

Ordnung muß sein
Der Ursprung des Lebens: Die Biologie nach Erwin Schrödinger

Vor gut einem halben Jahrhundert erschien ein Buch mit dem Titel "Was ist Leben?". Es veränderte die Wissenschaft vom Leben, die Biologie. Dabei war der Verfasser gar kein Biologe, sondern ein Physiker, nämlich der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger. Ihm zu Ehren trafen sich fünfzig Jahre später, im September 1993, am Trinity College in Dublin führende Naturwissenschaftler, um die Frage nach dem Leben erneut zu erörtern und sich an Vorhersagen für die Zukunft der Biologie zu versuchen. Was sie zustande brachten, ist nun in einem Sammelband dokumentiert.

Er wurde gut doppelt so umfangreich wie das Vorbild, was bei den meisten der zwölf Beiträge (der dreizehnte enthält Erinnerungen von Ruth Braunizer, der Tochter Erwin Schrödingers) eine starke Verdichtung des Textes zur Folge hatte. In dieser Hinsicht sind die Einzelbeiträge dem Vorbild recht ähnlich, denn Schrödinger verstand es zwar meisterhaft, seinen Begriff von Leben und dessen Auftauchen aus der physikalisch-chemischen Gesetzlichkeit der Natur darzustellen, leicht zu lesen ist sein Buch aber nicht.

So sind sich denn die Autoren auch jetzt noch keineswegs einig, was Schrödinger eigentlich gemeint habe. Sie interpretieren die beiden Kernsätze aus seinem Werk auf jeweils ihre Weise: Ordnung aus Ordnung und Ordnung aus Unordnung. Dennoch lassen sich verschiedene Grundlinien erkennen. Am ehesten stimmen die geistigen Nachfolger Schrödingers darin überein, daß er geradezu visionär die Natur des Erbmaterials und damit auch die besondere Art und Weise der Übermittlung von fester Information an die nachfolgenden Generationen erkannt und vorausgesagt habe. Es hatte auch nur ein Jahrzehnt gedauert, bis Watson und Crick jenes Molekül im Erbgut entdeckt hatten, das die Erbinformation speichert und weitergibt.

Während dieser Teil, gleichsam die praktische Lösung, weder im allgemeinen Naturverständnis noch in der Biologie größere Probleme verursachte, widersetzte sich der andere, er handelt von der Entstehung geordneter Strukturen und Prozesse, weit mehr den Forschungen und Erklärungsversuchen. Basierend auf seiner umfassenden Kenntnis der Thermodynamik und ihrer Gesetze hatte Schrödinger auch gefordert, daß irgendwie Ordnung aus der vorher vorhandenen Unordnung entstehen müsse. Das war und ist ungleich schwieriger zu verstehen als die Weitergabe von Ordnung aus bereits vorhandener.

Den möglicherweise entscheidenden Lösungsansatz fand er zwar nicht, aber er bereitete dessen Entdeckung vor: Das Leben lebe nicht im Gleichgewicht mit seiner Umwelt, sondern fern vom Gleichgewicht, am Rande des Chaos im Ungleichgewicht. Später brachte die Entdeckung und genauere Beschreibung dieses Zustandes Ilya Prigogine den Nobelpreis ein. Aber auch diese Erkenntnis reichte noch nicht, um daraus die notwendigerweise stattfindende Entstehung von Leben abzuleiten. Tiefere Einstiege in diese Grundproblematik zu Entstehung und Natur des Lebens gelangen erst den beiden deutschen Forschern Manfred Eigen, gleichfalls Nobelpreisträger, und Hermann Hakan, dem Begründer der modernen "Synergetik", der Wissenschaft von der Selbstorganisation.

Die Selbstorganisation muß eine maßgebliche Rolle in der Entstehung des Lebens gespielt haben. Darin stimmen fast alle Jubiläumsteilnehmer überein. Aber welche wären das? Noch immer kann niemand die Rahmenbedingungen für spontane Lebensentstehung angeben, geschweige denn so simulieren, daß tatsächlich neues Leben hervorkommt. Die Physik ist in dieser Hinsicht unvergleichlich weiter. Sie hat neue Elemente und neue Teilchen künstlich hergestellt.

Die gewaltigen Widerstände, die der Gentechnologie entgegengebracht werden, sind bekannt. Manfred Eigen benutzt daher auch das Forum, das dieses Buch bietet, zu einer Kritik an den Vorbehalten gegenüber der modernen, gerade auch der gentechnischen Forschung. Er plädiert mit Leidenschaft und Überzeugungskraft für die Benutzung der Vernunft in der Diskussion um Forschung und Zukunft.

Weit entfernt von einer einstimmigen Meinung und vom Verständnis dessen, was Leben nun eigentlich ist, präsentiert dieser Band auch die Breite und Tiefe der Unsicherheit über die Natur und ihre Gesetze. Der Zugriff auf immer feinere Details wird zum Griff in den Nebel, und wenn fast am Ende des Buches der Wiener Physiker Walter Thirring auch noch die eherne Gültigkeit der Naturgesetze in Frage stellt und die Möglichkeit einer "Evolution der Naturgesetze" ernsthaft erwägt, scheint nichts Gewisses mehr übrigzubleiben.

Wer sich dennoch durchzubeißen versucht und das Buch ganz liest, wird Trost beim charmanten Nachwort von Schrödingers Tochter und einem Ausspruch von Albert Einstein finden, der sagte: "Am besten kann man bei einem Studium der Lebewesen abschätzen, wie primitiv die Physik noch ist." Schrödingers Original und dieser Folgeband haben eine gemeinsame Schwäche: Die Biologie selbst kommt kaum zu Wort. Aber vielleicht kann man über sich selbst und die eigene Wissenschaft am wenigsten urteilen. Blicke über die Grenzen sind oft erhellender als eine Nabelschau. JOSEF H. REICHHOLF

Michael P. Murphy, Luke A. J. O'Neill (Hrsg.): "Was ist Leben?" Die Zukunft der Biologie. Übersetzt von Susanne Kuhlmann-Krieg, Juliane Meyerhoff, Ina Raschkeund Michael Stöltzner. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997. 208 S., Abb., geb., 48,- DM.

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