Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.09.1996Die Weisheit blieb bei den Griechen nur hängen
Gilles Deleuze, Félix Guattari und ihre späte Antwort auf die alte Frage "Was ist Philosophie?"
Die Frage "Was ist Philosophie?" ist eine Frage nach dem Ursprung des Begriffs. Und nicht nur nach dem der Philosophie, sondern nach der Herkunft jeglichen Begriffs, denn die Philosophie ist auf Begriffe angewiesen und verweist auf sie. Die "Freundschaft zur Weisheit", als die man "Philosophie" übersetzen könnte, hat sinnigerweise im Deutschen auch das "Weisen" als Beiklang. "Weisen" ist nur transitiv verwendbar; die Frage nach der Philosophie ist somit eine Richtungsfrage.
Philosophen, die über ihre Beschäftigung reflektieren, sind deshalb schnell in einem Dickicht von Pfeilen gefangen, die unterschiedlichste Ziele markieren. Das ist unerquicklich für Theoretiker, die das Dasein als zielgerichteten Prozeß verstehen wollen. Die dialektische Philosophie hat deshalb die Einheit in den Widersprüchen zu finden gesucht. Die analytische Philosophie will die Begriffe auf einheitliche logische oder konsensuelle Modelle zurückführen. Beide Denkschulen haben Probleme mit dem Begriff: Hegel baute auf den absoluten Geist, um die gegebenen idealen Begriffe mit der wirklichen Welt zu versöhnen; Russell träumte von der Konstruktion der idealen Sprache. Beide indes konnten zumindest einen Anfang des Begriffs postulieren.
Gilles Deleuze und Félix Guattari schrieben gegen diese Positionen an. In ihrem letzten gemeinsamen Buch von 1991, ein Jahr vor Guattaris und vier Jahre vor Deleuzes Tod verfaßt, wagten sie sich an die große Frage "Was ist Philosophie?". Deleuze und Guattari haben in ihrem überaus anregenden und komplexen Buch nicht nur eine philosophische Frage erörtert - sie haben ein philosophisches System entworfen.
Als treue Jünger Nietzsches gestehen sie den Griechen zwar zu, als erste philosophiert zu haben, weil nur in der frühesten Demokratie ein Freundschaftsbegriff ausgebildet werden konnte, der überhaupt erlaubte, von "Freundschaft für die Weisheit" zu sprechen. Doch ihren Ursprung hat die Philosophie nicht dort; sie hat wie ihr Gegenstand, die Begriffe, überhaupt keinen Ursprung. Sie ist ein Komet, der vom attraktiven Milieu der griechischen Polis angezogen wurde, sich also mehr bei den Hellenen verfing, als daß er dort ersonnen worden wäre. Dann aber konnte die Philosophie ihre Bestimmung erfüllen und Begriffe erschaffen.
Allerdings stellt sie keineswegs den Ursprung der Begriffe dar, denn jeder Begriff besteht aus unzertrennbaren Komponenten, die wiederum Begriffe sind und seiner Konstruktion also vorgeordnet scheinen. Es entsteht durch diesen infiniten Regreß auch keine Begriffshierarchie, weil die begrifflichen Komponenten den aus ihnen gebildeten Begriff nur vorbereiten, nicht aber konstruieren konnten. Sie befanden sich auf einer anderen Ebene als der neue Begriff; und die Vielzahl der Ebenen ist prinzipiell nicht vergleichbar, weil sie sich in steter Bewegung befindet, um gegenseitige Berührungspunkte zu finden. Deshalb ist die Geschichte der Philosophie eine Geschichte von Mißverständnissen, denn jede Position argumentierte von ihrer eigenen Ebene aus, die nicht notwendig bereits Berührungspunkte mit früheren Ebenen besaß.
Diese "Immanenzebenen", wie Deleuze und Guattari sie nennen, sind vorphilosophische Institutionen, die Philosophie begründen. Auf ihnen kann die Philosophie mit ihren Begriffen Ereignisse zum Erscheinen bringen, das ist dann der Anfang der Philosophie. Er ist zeitlich aber nicht zu verorten, weil die Philosophie ihre Tätigkeit lange vor der Konstitution ihres eigenen Begriffs aufnahm. In Griechenland bekam sie lediglich ihre Bezeichnung und konnte damit selbst Ereignis werden.
Analoge Strukturen erkennen die Autoren für die zwei weiteren großen Denkformen: Wissenschaft und Kunst. Erstere läßt aus ihrer "Referenzebene" die Funktionen entstehen, letztere gewinnt aus der "Kompositionsebene" die Empfindungen. Alle drei Ebenen werden vom Gehirn verknüpft, womit Deleuze und Guattari das individuelle Element, das schon in den früheren Büchern der psychoanalytisch geschulten Verfasser große Bedeutung besaß, erneut stark machen. Die Theorie orientiert sich jedoch nicht nur bei der Einteilung der Denkformen an der magischen philosophiegeschichtlichen Zahl Drei - auch innerhalb der Ebenen, Begriffe und Empfindungen werden jeweils drei Formen unterschieden. Es ist nett zu beobachten, wie Hegels Schatten, gegen den Deleuze so lange angekämpft hat, durch diese Obsession mit der Dreizahl, die an das triadische Grundmuster der Dialektik erinnert (These, Antithese, Synthese), immer wieder auf sein Denken fällt.
Diese mechanisch wirkende Ordnung ist durch den Widerstand gegen das Chaos begründet, gegen das "sich selbst entgleitende Denken". Vor ihm bietet scheinbar aber auch eine Institution Schutz, die schon die platonische Philosophie als Gegnerin von Wahr- und Weisheit ausmachte: die Meinung. Sie zwingt Philosophie, Wissenschaft und Kunst zu einem unfreiwilligen Bündnis mit dem Chaos: "Der Kampf mit dem Chaos ist lediglich das Instrument eines tiefgründigeren Kampfes gegen die Meinung, denn das Unglück der Menschen rührt von der Meinung her." Die Einwirkung des Chaos auf seine Gegner schafft chaoide Strukturen in ihnen, die sich dann aber als nützlich erweisen, wenn die im Konsens gebildete Meinung, daß den drei Denkformen jeweils Einheit zuzusprechen sei, an ihnen zerbricht.
Dieser moderne Fakultätenstreit gibt den Hintergrund für eine schnelle Verabschiedung aller Konsenstheorien à la Habermas ab. Schon die verschiedenen Ebenen verhindern die notwendige globale Kommunikation, außerdem kann es Philosophie nur um die Erschaffung von Begriffen, nie aber um Konsens im Sinne einer allgemeinen Meinung gehen. Hier entlarve sich eine philosophische Schule als Spiegelbild des Kapitalismus, der auch die antike Gesellschaft der Freunde durch eine Versammlung von Brüdern ersetzt habe. In der per se unfreiwilligen Bruderschaft kann aber die Philosophie keine Freunde mehr finden. Sie muß hoffen, daß aus der Macht des Chaos das nicht-denkende Denken in ihr und in Wissenschaft und Kunst entsteht. Dann "werden die Begriffe, die Empfindungen, die Funktionen unentscheidbar, wie gleichzeitig Philosophie, Kunst und Wissenschaft ununterscheidbar werden, so als teilten sie denselben Schatten, der sich über ihre unterschiedliche Natur ausbreitet und sie auf immer begleitet". Natürlich ist es wieder Hegels Schatten. ANDREAS PLATTHAUS
Gilles Deleuze und Félix Guattari: "Was ist Philosophie?". Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 263 S., geb. 48,- DM.
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Gilles Deleuze, Félix Guattari und ihre späte Antwort auf die alte Frage "Was ist Philosophie?"
Die Frage "Was ist Philosophie?" ist eine Frage nach dem Ursprung des Begriffs. Und nicht nur nach dem der Philosophie, sondern nach der Herkunft jeglichen Begriffs, denn die Philosophie ist auf Begriffe angewiesen und verweist auf sie. Die "Freundschaft zur Weisheit", als die man "Philosophie" übersetzen könnte, hat sinnigerweise im Deutschen auch das "Weisen" als Beiklang. "Weisen" ist nur transitiv verwendbar; die Frage nach der Philosophie ist somit eine Richtungsfrage.
Philosophen, die über ihre Beschäftigung reflektieren, sind deshalb schnell in einem Dickicht von Pfeilen gefangen, die unterschiedlichste Ziele markieren. Das ist unerquicklich für Theoretiker, die das Dasein als zielgerichteten Prozeß verstehen wollen. Die dialektische Philosophie hat deshalb die Einheit in den Widersprüchen zu finden gesucht. Die analytische Philosophie will die Begriffe auf einheitliche logische oder konsensuelle Modelle zurückführen. Beide Denkschulen haben Probleme mit dem Begriff: Hegel baute auf den absoluten Geist, um die gegebenen idealen Begriffe mit der wirklichen Welt zu versöhnen; Russell träumte von der Konstruktion der idealen Sprache. Beide indes konnten zumindest einen Anfang des Begriffs postulieren.
Gilles Deleuze und Félix Guattari schrieben gegen diese Positionen an. In ihrem letzten gemeinsamen Buch von 1991, ein Jahr vor Guattaris und vier Jahre vor Deleuzes Tod verfaßt, wagten sie sich an die große Frage "Was ist Philosophie?". Deleuze und Guattari haben in ihrem überaus anregenden und komplexen Buch nicht nur eine philosophische Frage erörtert - sie haben ein philosophisches System entworfen.
Als treue Jünger Nietzsches gestehen sie den Griechen zwar zu, als erste philosophiert zu haben, weil nur in der frühesten Demokratie ein Freundschaftsbegriff ausgebildet werden konnte, der überhaupt erlaubte, von "Freundschaft für die Weisheit" zu sprechen. Doch ihren Ursprung hat die Philosophie nicht dort; sie hat wie ihr Gegenstand, die Begriffe, überhaupt keinen Ursprung. Sie ist ein Komet, der vom attraktiven Milieu der griechischen Polis angezogen wurde, sich also mehr bei den Hellenen verfing, als daß er dort ersonnen worden wäre. Dann aber konnte die Philosophie ihre Bestimmung erfüllen und Begriffe erschaffen.
Allerdings stellt sie keineswegs den Ursprung der Begriffe dar, denn jeder Begriff besteht aus unzertrennbaren Komponenten, die wiederum Begriffe sind und seiner Konstruktion also vorgeordnet scheinen. Es entsteht durch diesen infiniten Regreß auch keine Begriffshierarchie, weil die begrifflichen Komponenten den aus ihnen gebildeten Begriff nur vorbereiten, nicht aber konstruieren konnten. Sie befanden sich auf einer anderen Ebene als der neue Begriff; und die Vielzahl der Ebenen ist prinzipiell nicht vergleichbar, weil sie sich in steter Bewegung befindet, um gegenseitige Berührungspunkte zu finden. Deshalb ist die Geschichte der Philosophie eine Geschichte von Mißverständnissen, denn jede Position argumentierte von ihrer eigenen Ebene aus, die nicht notwendig bereits Berührungspunkte mit früheren Ebenen besaß.
Diese "Immanenzebenen", wie Deleuze und Guattari sie nennen, sind vorphilosophische Institutionen, die Philosophie begründen. Auf ihnen kann die Philosophie mit ihren Begriffen Ereignisse zum Erscheinen bringen, das ist dann der Anfang der Philosophie. Er ist zeitlich aber nicht zu verorten, weil die Philosophie ihre Tätigkeit lange vor der Konstitution ihres eigenen Begriffs aufnahm. In Griechenland bekam sie lediglich ihre Bezeichnung und konnte damit selbst Ereignis werden.
Analoge Strukturen erkennen die Autoren für die zwei weiteren großen Denkformen: Wissenschaft und Kunst. Erstere läßt aus ihrer "Referenzebene" die Funktionen entstehen, letztere gewinnt aus der "Kompositionsebene" die Empfindungen. Alle drei Ebenen werden vom Gehirn verknüpft, womit Deleuze und Guattari das individuelle Element, das schon in den früheren Büchern der psychoanalytisch geschulten Verfasser große Bedeutung besaß, erneut stark machen. Die Theorie orientiert sich jedoch nicht nur bei der Einteilung der Denkformen an der magischen philosophiegeschichtlichen Zahl Drei - auch innerhalb der Ebenen, Begriffe und Empfindungen werden jeweils drei Formen unterschieden. Es ist nett zu beobachten, wie Hegels Schatten, gegen den Deleuze so lange angekämpft hat, durch diese Obsession mit der Dreizahl, die an das triadische Grundmuster der Dialektik erinnert (These, Antithese, Synthese), immer wieder auf sein Denken fällt.
Diese mechanisch wirkende Ordnung ist durch den Widerstand gegen das Chaos begründet, gegen das "sich selbst entgleitende Denken". Vor ihm bietet scheinbar aber auch eine Institution Schutz, die schon die platonische Philosophie als Gegnerin von Wahr- und Weisheit ausmachte: die Meinung. Sie zwingt Philosophie, Wissenschaft und Kunst zu einem unfreiwilligen Bündnis mit dem Chaos: "Der Kampf mit dem Chaos ist lediglich das Instrument eines tiefgründigeren Kampfes gegen die Meinung, denn das Unglück der Menschen rührt von der Meinung her." Die Einwirkung des Chaos auf seine Gegner schafft chaoide Strukturen in ihnen, die sich dann aber als nützlich erweisen, wenn die im Konsens gebildete Meinung, daß den drei Denkformen jeweils Einheit zuzusprechen sei, an ihnen zerbricht.
Dieser moderne Fakultätenstreit gibt den Hintergrund für eine schnelle Verabschiedung aller Konsenstheorien à la Habermas ab. Schon die verschiedenen Ebenen verhindern die notwendige globale Kommunikation, außerdem kann es Philosophie nur um die Erschaffung von Begriffen, nie aber um Konsens im Sinne einer allgemeinen Meinung gehen. Hier entlarve sich eine philosophische Schule als Spiegelbild des Kapitalismus, der auch die antike Gesellschaft der Freunde durch eine Versammlung von Brüdern ersetzt habe. In der per se unfreiwilligen Bruderschaft kann aber die Philosophie keine Freunde mehr finden. Sie muß hoffen, daß aus der Macht des Chaos das nicht-denkende Denken in ihr und in Wissenschaft und Kunst entsteht. Dann "werden die Begriffe, die Empfindungen, die Funktionen unentscheidbar, wie gleichzeitig Philosophie, Kunst und Wissenschaft ununterscheidbar werden, so als teilten sie denselben Schatten, der sich über ihre unterschiedliche Natur ausbreitet und sie auf immer begleitet". Natürlich ist es wieder Hegels Schatten. ANDREAS PLATTHAUS
Gilles Deleuze und Félix Guattari: "Was ist Philosophie?". Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Joseph Vogl. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 263 S., geb. 48,- DM.
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