'Der werdende Dichter hat nichts, letztlich nicht einmal sich selbst, sondern nur den Satz und seine Erscheinungsweisen, das spannungsvolle Verhältnis des Satzes zu unseren Vorstellungen von ihm und zu seinen Teilen, die den Aufstand proben'. Diese Erkenntnis ist die Grundlage einer Untersuchung, in der Sebastian Kiefer vorführt, wie Literatur zu betrachten und zu bewerten wäre, würde ihr dieselbe methodische Aufmerksamkeit zuteil werden wie den anderen Künsten, etwa der Musik und der Malerei. Anders als die Bildende Kunst hat die Literatur nie eine systematische - und vor allem: bleibende - Modernisierung erlebt; die Grundlagen für poetisches Sprechen sind seit Klopstock und Hölderlin kaum ernsthaft untersucht und noch viel weniger ernst genommen worden.Sebastian Kiefer, seit seinen streitbaren Aufsätzen und Analysen zu Paul Celan oder Franz Josef Czernin kein Unbekannter mehr, führt in faszinierenden Detailstudien an Hölderlin, Gertrude Stein, Brecht, Bobrowski, Priessnitz und Schmatz vor, wie Poesie [das Machen, Verfertigen!] als eine besondere Arbeitsweise am Satz adäquat zu lesen und zu verstehen ist. Er plädiert sogar in echter Bauhaus-Manier für einen 'Ton-Satz-Unterricht', in dem 'Satz-Modelle im historischen Bedingungsfeld' erlernt und angewendet werden sollen, was nichts anderes heißt als das Verhältnis von Laut, Körper, Bewusstsein und Welt jeweils neu zu organisieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2006Spiel, Satz und Sieg
Sebastian Kiefer vermißt die Grenzen des literarischen Ausdrucks
Daß Kunst Erkenntnis sei und Erkennen die spezifische Lust der Kunst bereite, ist seit Aristoteles Einsicht einer Minderheit geblieben. Emotionale Berührungswünsche und biographische Anekdoten bestimmen Publikumsgeschmack und Kunstkritik wie immer und, realistisch gesehen, auf alle Zeit. Wer indes wissen möchte, worauf Literatur als Kunst geht, lese den Essay des Literatur- und Musikwissenschaftlers Sebastian Kiefer.
Sein Fokus ist der "Satz", verstanden als Einheit sprachlicher Bezugnahme, aber auch im Sinn von musikalischem "Ton-Satz". Für beide gilt Kiefers Prinzip: "Wer nicht demonstrieren kann, daß seine eigene Weise des Ton-Satzes epistemisch originär ist, scheidet aus dem literarischen Diskurs aus." Zwar gesteht Kiefer der Literatur Unreformierbarkeit zu, weil Sprache anders als Musik immer auf Außersprachliches bezogen ist. Dies bedeutet jedoch keinen Freibrief für poetisches Abschildern, sondern radikale Unruhe: Nur durch Satz-Kunst können wir unsere sonst unentrinnbaren Klischees von Welt, Ich und Sprache insgesamt durchschauen.
Dieses Credo wird in den Einzelstudien des Bandes ebenso wuchtig wie brillant entwickelt. Lautpoesie, Lettrismus und Konkrete Poesie, die den Bezug auf Nichtsprachliches unterlaufen wollen, werden knapp abgefertigt, um die Stufen des "Ton-Satzes" seit Klopstock im Detail zu demonstrieren. Klopstock revolutionierte die Sprache, indem er rhetorische Regelpoetik in Sprachdynamik umwandelte und emotional-kognitive Bewegung durch Ausreizen sprachlicher Konstruktionen erzielte. Aus diesem allgemein zugänglichen Repertoire, das Kiefer in einer Art "Bauhaus"-Poetik umreißt, bedient sich deutsche Dichtung noch heute: Komposita, Partizipien, Anrufungen und bestimmter Artikel bei Abstrakta - oder deren Vermeidung durch Alltagssprache. Kiefer zeichnet die verblaßten Linien bewußter Avantgarde von Hölderlin, Goethe und Brentano in die Gegenwart nach - und verwirft zuhauf.
Läßt man den Zeitgeist beiseite, trifft es Brecht und Celan am härtesten. Kiefers Beispiele dafür, wie Brecht Schlichtheit inszeniert und Celan mechanisch Tiefe bastelt, sind erdrückend. Das Pauschalurteil reizt aber zum Widerspruch, zumal Kiefer so furios formuliert wie einst Pound im "ABC of Reading". Nur muß man von jetzt an nachweisen, daß ein Gedicht Brechts, Celans oder einer aktuellen Dichtergröße in jedem Moment seinen Ich-Welt-Sprachbezug so schöpferisch einsetzt, wie Kiefer es an Hölderlin oder Gertrude Stein zeigt.
Wer sich einmal auf den "Satz" als Kriterium literarischer Kunst einläßt, braucht dessen Einsicht auch, um zu widersprechen. So gesehen, können die Literatur und der nötige Streit um sie jetzt erst beginnen. Der ewige Rest ist Belletristik.
THOMAS POISS
Sebastian Kiefer: "Was kann Literatur?" Literaturverlag Droschl, Graz - Wien 2006. 184 S. br., 15,50 .
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sebastian Kiefer vermißt die Grenzen des literarischen Ausdrucks
Daß Kunst Erkenntnis sei und Erkennen die spezifische Lust der Kunst bereite, ist seit Aristoteles Einsicht einer Minderheit geblieben. Emotionale Berührungswünsche und biographische Anekdoten bestimmen Publikumsgeschmack und Kunstkritik wie immer und, realistisch gesehen, auf alle Zeit. Wer indes wissen möchte, worauf Literatur als Kunst geht, lese den Essay des Literatur- und Musikwissenschaftlers Sebastian Kiefer.
Sein Fokus ist der "Satz", verstanden als Einheit sprachlicher Bezugnahme, aber auch im Sinn von musikalischem "Ton-Satz". Für beide gilt Kiefers Prinzip: "Wer nicht demonstrieren kann, daß seine eigene Weise des Ton-Satzes epistemisch originär ist, scheidet aus dem literarischen Diskurs aus." Zwar gesteht Kiefer der Literatur Unreformierbarkeit zu, weil Sprache anders als Musik immer auf Außersprachliches bezogen ist. Dies bedeutet jedoch keinen Freibrief für poetisches Abschildern, sondern radikale Unruhe: Nur durch Satz-Kunst können wir unsere sonst unentrinnbaren Klischees von Welt, Ich und Sprache insgesamt durchschauen.
Dieses Credo wird in den Einzelstudien des Bandes ebenso wuchtig wie brillant entwickelt. Lautpoesie, Lettrismus und Konkrete Poesie, die den Bezug auf Nichtsprachliches unterlaufen wollen, werden knapp abgefertigt, um die Stufen des "Ton-Satzes" seit Klopstock im Detail zu demonstrieren. Klopstock revolutionierte die Sprache, indem er rhetorische Regelpoetik in Sprachdynamik umwandelte und emotional-kognitive Bewegung durch Ausreizen sprachlicher Konstruktionen erzielte. Aus diesem allgemein zugänglichen Repertoire, das Kiefer in einer Art "Bauhaus"-Poetik umreißt, bedient sich deutsche Dichtung noch heute: Komposita, Partizipien, Anrufungen und bestimmter Artikel bei Abstrakta - oder deren Vermeidung durch Alltagssprache. Kiefer zeichnet die verblaßten Linien bewußter Avantgarde von Hölderlin, Goethe und Brentano in die Gegenwart nach - und verwirft zuhauf.
Läßt man den Zeitgeist beiseite, trifft es Brecht und Celan am härtesten. Kiefers Beispiele dafür, wie Brecht Schlichtheit inszeniert und Celan mechanisch Tiefe bastelt, sind erdrückend. Das Pauschalurteil reizt aber zum Widerspruch, zumal Kiefer so furios formuliert wie einst Pound im "ABC of Reading". Nur muß man von jetzt an nachweisen, daß ein Gedicht Brechts, Celans oder einer aktuellen Dichtergröße in jedem Moment seinen Ich-Welt-Sprachbezug so schöpferisch einsetzt, wie Kiefer es an Hölderlin oder Gertrude Stein zeigt.
Wer sich einmal auf den "Satz" als Kriterium literarischer Kunst einläßt, braucht dessen Einsicht auch, um zu widersprechen. So gesehen, können die Literatur und der nötige Streit um sie jetzt erst beginnen. Der ewige Rest ist Belletristik.
THOMAS POISS
Sebastian Kiefer: "Was kann Literatur?" Literaturverlag Droschl, Graz - Wien 2006. 184 S. br., 15,50 .
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Polemisch ist das schon, dogmatisch auch und lehrreich sowieso, meint Nicolai Kobus in einem durchaus selbstkritischen Moment. Denn schließlich geht, was Sebastian Kiefer hier über Literatur und den Umgang mit ihr zu sagen hat, nicht zuletzt gegen die Kritik und ihre erstarrten Manierismen. Macht nichts, denkt der Rezensent, im Gegenteil. Den Vorschlag, Literatur wieder substanzieller zu betrachten, als Möglichkeit, "konventionelle Satzerwartungen zu unterlaufen", will Kobus sich zu Herzen nehmen. Dass Kiefer aus dieser Perspektive "sprachanalytisch grundiert" und "erkenntnistheoretisch abgefedert" mit einer wesentlich syntaktisch konformen Literaturgeschichte abrechnet, lässt er dem Autor durchgehen, weil er es mit "polemischer Verve" tut. Dogmatisch findet er die Missachtung anderer literarischer Spielarten aber dennoch. Nur fühlt er sich durch diese hier immerhin aufgefordert, über Literatur nachzudenken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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