Von den zahllosen Lebenden und Toten, die Wien bevölkern, hebt Thomas Stangl in seinem dritten Roman zwei Personen heraus: Emilia, 17, die wir im Sommer 1937 kennenlernen, am Vorabend der historischen Katastrophe, und Andreas, den Pubertierenden, der vierzig Jahre später, Ende der 70er Jahre, wie Emilia allein mit seiner Großmutter lebt und ebenfalls in eine private? politische? Katastrophe gerät. Geschichte ist nicht nur das, was sich schon ereignet hat, 'Geschichte heißt, das kommt erst', schreibt Thomas Stangl. Für seinen Roman bedeutet das, dass sich verborgene Motive, kaum merkliche Anklänge, Wiederholungen, Blicke, ja auch Menschen quer durch das Buch und die Zeiten ziehen, das Wiedergänger-Motiv, Elemente der Gespenstergeschichte spielen schon in Ihre Musik eine gewisse Rolle (wie wir auch Emilia Degen schon aus diesem Roman kennen, als die ältere der beiden Frauen). In überwältigenden, auch schockierenden Bildern hält Stangl das fest, was sich der Beschreibung - zumindestin der gegenwärtigen Literatur - entzieht und wofür wir höchstens den Film als zuständig erachten: er schafft Räume des Übergangs, der Unschärfen, der Ahnungen und Déjà-vus, Räume für die Lebenden und die Toten, die Geschichte und ihre Opfer, Sterben und Verschwinden, Wirklichkeit und Traum. Thomas Stangls Sätze sind ein Rausch der Wahrnehmung, der die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst und eine befreiende Wirkung hat wie wenige Bücher, ein barock-romantisches Meisterwerk.Der immer gegenwärtige Alptraum der Geschichte und der Skandal des Todes: ein literarisches Meisterwerk.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sibylle Cramer ist offensichtlich sehr fasziniert von diesem neuen, inzwischen dritten Roman Thomas Stangls und bezeichnet den Autor als würdigen Erben von Thomas Bernhard und Robert Musil - auch wenn er einige Prämissen des Letzteren revidiert hat. Beispielsweise wirkt der "k.u.k.-Hintergrund" der Erzählung "nicht mehr liebenswert altväterlich" wie bei Musil, sondern "gewalttätig". Cramer ist begeistert, wie Stangl den Leser durch sein "radikal subjektives erzählerisches Verfahren" am Bewusstseinsstrom seiner Figuren teilhaben lässt und eine vielschichtige Wahrnehmung der Realität entwirft. Das Buch ist ihrer Meinung nach weniger "Geschichtsroman" als "zeitkritischer Roman", der den gesellschaftlichen Status quo vor der Katastrophe untersucht. Cramer findet den Roman schlichtweg "grandios".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2009Labyrinth mit Gespenstern
Thomas Stangls Zeitroman "Was kommt"
Von Oliver Pfohlmann
Dies ist ein Roman des Dazwischen: zwischen Erzählen und Nichterzählen, Vergangenheit und Zukunft, zwischen Raum und Zeit, Leben und Tod, Möglichkeit und Wirklichkeit. Selbst seine Protagonisten wirken seltsam halbfertig, wie "Gebilde aus Draht und Wörtern" oder verblassende Porträts, gewinnen immer nur vorübergehend Form und Kontur, kämpfen mit ihrer Sprache, ihrer Identität, ihrem Geschlecht.
Die Figuren, von denen der Österreicher Thomas Stangl abwechselnd berichtet, das sind: Emilia Degen, die man schon aus Stangls Roman "Ihre Musik" kennt, und Andreas, zwei Pubertierende in Wien. Emilia lebt im Sommer 1937, also kurz vor dem "Anschluss", als die Schulstunden noch mit dem gemeinsamen Ruf "Österreich" beginnen, in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt; Andreas irgendwann Ende der siebziger Jahre, als Hans Rosenthal noch in die Höhe springt und im Radio "I don't like Mondays" neu ist.
Eine unüberwindbare Barriere sind die vierzig Jahre Zeitunterschied jedoch nicht. Nicht für den Leser dieses ebenso faszinierenden wie anspruchsvollen Geschichts- und Zeitromans, dem sich überall überraschende Verbindungen und Übergänge auftun. Nicht für die Figuren, die sich manchmal an bestimmten Orten wie dem Vorkai am Donaukanal fast zu begegnen scheinen. Und auch nicht für einen namenlosen Dritten, einen christusähnlichen Wanderer zwischen den Zeiten eines kulissenhaften Wiens, dessen Identität erst gegen Ende offenbar wird. Zwischen Emilia und Andreas bestehen viele Gemeinsamkeiten: Beide leben bei ihren Großmüttern, beide sind in ihren Schulen Außenseiter und vielleicht deshalb sensibel für Stimmungen, Erlebnisse der Zeitdehnung und der Erfahrung, mit Räumen oder Personen scheinbar zu verschmelzen.
Doch es gibt auch Unterschiede: Die siebzehnjährige Emilia leidet unter der Dumpfheit und Enge des austrofaschistischen Ständestaates, will studieren, andere Länder kennenlernen. Sie "weiß, die wirklichere Welt ist die Welt des Verbotenen, kleine Inseln, ausgeschnittene Orte, die sich ausdehnen können, über die Grenzen hinweg ins Feindesland". Andreas dagegen, der in der Klasse gemobbt wird, ist von eher regressiven Wünschen erfüllt: Nacht für Nacht bohrt er mit dem Finger in einem Loch in der Wand, träumt davon, sich so eine Öffnung zu schaffen, in der er verschwinden kann, "die Enge soll ihn umschließen: im Inneren der Höhlungen, die erst im allerengsten Raum entstehen, entdeckt er Weiten, die sich nicht ermessen lassen".
Als Abkömmling aus dem Geschlecht der Chandos ist ihm die Sprache unheimlich, vermag ihn doch jedes Wort und jeder Satz unfreiwillig festzulegen. So kritzelt er in sein Schulheft hilflos das Hakenkreuz neben den RAF-Stern und schockiert seine Umwelt mit von der Großmutter aufgeschnappten Phrasen ("Ich mag den Kreisky auch nicht, mit seiner Judennase"), die ihn erst recht zum Paria werden lassen. Er nennt das die "Wörter vor die Angst stellen".
Andreas' Antisemitismus ist nur ein sinnentleertes Zitat der Vergangenheit, für Emilia ist er Gegenwart und Zukunft. "Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei", erklärt Emilias Geschichtslehrer kurz vor seiner Emigration. "Geschichte heißt, das kommt erst." Anders als Emilia weiß der Leser, was kommen wird. Zumindest für kurze Zeit wird Emilia die ersehnte Weite und die Liebe kennenlernen, wird verbotene Bücher lesen und Jura-Soyfer-Abende besuchen, gemeinsam mit einem jungen jüdischen Kommunisten, der bald spurlos verschwinden wird. "Jetzt sind wir unter uns", erklärt ihr Deutschlehrer, nachdem auf vielen Schaufenstern "Ist in Dachau" steht. Emilia wird nicht studieren, sondern in einer Fabrik arbeiten und eine Tochter bekommen, von einem Mann, der für sie "nur ein Stück Fleisch" ist, und wird irgendwann die Hoffnung aufgeben, Georg je wiederzusehen.
Geschichte wird in diesem bemerkenswerten Stück Literatur zu einem dekonstruktivistischen Labyrinth ohne Hoffnung oder Trost, aber voller Gespenster. Zu einem kubistischen Raum der Gleichzeitigkeit, in dem allein der Alltag, die gelebte Gegenwart der Individuen der "großen" Geschichte Widerstand leistet: Ganz nah an seine Protagonisten begibt sich der 1966 geborene Stangl, lässt den Leser jede ihrer Körper- oder Geruchssensationen wahrnehmen. In virtuos verschlungenen, konsequent in Präsens und Futur gehaltenen Sätzen erzählt der gebürtige Wiener zwei Lebensschicksale in verschiedenen und doch im Detail verblüffend ähnlichen Epochen, Sätze, die man zweimal lesen sollte, um ihre Vielschichtigkeit, ihren Anspielungsreichtum ganz aufnehmen zu können.
Thomas Stangl: "Was kommt". Roman. Droschl Verlag, Graz und Wien 2009. 183 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Stangls Zeitroman "Was kommt"
Von Oliver Pfohlmann
Dies ist ein Roman des Dazwischen: zwischen Erzählen und Nichterzählen, Vergangenheit und Zukunft, zwischen Raum und Zeit, Leben und Tod, Möglichkeit und Wirklichkeit. Selbst seine Protagonisten wirken seltsam halbfertig, wie "Gebilde aus Draht und Wörtern" oder verblassende Porträts, gewinnen immer nur vorübergehend Form und Kontur, kämpfen mit ihrer Sprache, ihrer Identität, ihrem Geschlecht.
Die Figuren, von denen der Österreicher Thomas Stangl abwechselnd berichtet, das sind: Emilia Degen, die man schon aus Stangls Roman "Ihre Musik" kennt, und Andreas, zwei Pubertierende in Wien. Emilia lebt im Sommer 1937, also kurz vor dem "Anschluss", als die Schulstunden noch mit dem gemeinsamen Ruf "Österreich" beginnen, in der jüdisch geprägten Wiener Leopoldstadt; Andreas irgendwann Ende der siebziger Jahre, als Hans Rosenthal noch in die Höhe springt und im Radio "I don't like Mondays" neu ist.
Eine unüberwindbare Barriere sind die vierzig Jahre Zeitunterschied jedoch nicht. Nicht für den Leser dieses ebenso faszinierenden wie anspruchsvollen Geschichts- und Zeitromans, dem sich überall überraschende Verbindungen und Übergänge auftun. Nicht für die Figuren, die sich manchmal an bestimmten Orten wie dem Vorkai am Donaukanal fast zu begegnen scheinen. Und auch nicht für einen namenlosen Dritten, einen christusähnlichen Wanderer zwischen den Zeiten eines kulissenhaften Wiens, dessen Identität erst gegen Ende offenbar wird. Zwischen Emilia und Andreas bestehen viele Gemeinsamkeiten: Beide leben bei ihren Großmüttern, beide sind in ihren Schulen Außenseiter und vielleicht deshalb sensibel für Stimmungen, Erlebnisse der Zeitdehnung und der Erfahrung, mit Räumen oder Personen scheinbar zu verschmelzen.
Doch es gibt auch Unterschiede: Die siebzehnjährige Emilia leidet unter der Dumpfheit und Enge des austrofaschistischen Ständestaates, will studieren, andere Länder kennenlernen. Sie "weiß, die wirklichere Welt ist die Welt des Verbotenen, kleine Inseln, ausgeschnittene Orte, die sich ausdehnen können, über die Grenzen hinweg ins Feindesland". Andreas dagegen, der in der Klasse gemobbt wird, ist von eher regressiven Wünschen erfüllt: Nacht für Nacht bohrt er mit dem Finger in einem Loch in der Wand, träumt davon, sich so eine Öffnung zu schaffen, in der er verschwinden kann, "die Enge soll ihn umschließen: im Inneren der Höhlungen, die erst im allerengsten Raum entstehen, entdeckt er Weiten, die sich nicht ermessen lassen".
Als Abkömmling aus dem Geschlecht der Chandos ist ihm die Sprache unheimlich, vermag ihn doch jedes Wort und jeder Satz unfreiwillig festzulegen. So kritzelt er in sein Schulheft hilflos das Hakenkreuz neben den RAF-Stern und schockiert seine Umwelt mit von der Großmutter aufgeschnappten Phrasen ("Ich mag den Kreisky auch nicht, mit seiner Judennase"), die ihn erst recht zum Paria werden lassen. Er nennt das die "Wörter vor die Angst stellen".
Andreas' Antisemitismus ist nur ein sinnentleertes Zitat der Vergangenheit, für Emilia ist er Gegenwart und Zukunft. "Geschichte heißt nicht, all das ist aus und vorbei", erklärt Emilias Geschichtslehrer kurz vor seiner Emigration. "Geschichte heißt, das kommt erst." Anders als Emilia weiß der Leser, was kommen wird. Zumindest für kurze Zeit wird Emilia die ersehnte Weite und die Liebe kennenlernen, wird verbotene Bücher lesen und Jura-Soyfer-Abende besuchen, gemeinsam mit einem jungen jüdischen Kommunisten, der bald spurlos verschwinden wird. "Jetzt sind wir unter uns", erklärt ihr Deutschlehrer, nachdem auf vielen Schaufenstern "Ist in Dachau" steht. Emilia wird nicht studieren, sondern in einer Fabrik arbeiten und eine Tochter bekommen, von einem Mann, der für sie "nur ein Stück Fleisch" ist, und wird irgendwann die Hoffnung aufgeben, Georg je wiederzusehen.
Geschichte wird in diesem bemerkenswerten Stück Literatur zu einem dekonstruktivistischen Labyrinth ohne Hoffnung oder Trost, aber voller Gespenster. Zu einem kubistischen Raum der Gleichzeitigkeit, in dem allein der Alltag, die gelebte Gegenwart der Individuen der "großen" Geschichte Widerstand leistet: Ganz nah an seine Protagonisten begibt sich der 1966 geborene Stangl, lässt den Leser jede ihrer Körper- oder Geruchssensationen wahrnehmen. In virtuos verschlungenen, konsequent in Präsens und Futur gehaltenen Sätzen erzählt der gebürtige Wiener zwei Lebensschicksale in verschiedenen und doch im Detail verblüffend ähnlichen Epochen, Sätze, die man zweimal lesen sollte, um ihre Vielschichtigkeit, ihren Anspielungsreichtum ganz aufnehmen zu können.
Thomas Stangl: "Was kommt". Roman. Droschl Verlag, Graz und Wien 2009. 183 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main