Nach einer wahren Geschichte
1843 wird der junge Matrose Narcisse Pelletier von seinem Kapitän versehentlich an der australischen Ostküste zurückgelassen. Als man ihn nach siebzehn Jahren zufällig wiederfindet, lebt er inmitten eines Stamms von Jägern und Sammlern: Er ist nackt und tätowiert, spricht nur noch deren Sprache, hat seinen Namen vergessen. Ein Wissenschaftler aber führt ihn zurück in die Zivilisation und nimmt ihn mit nach Paris - ein gewagtes Unterfangen.
1843 wird der junge Matrose Narcisse Pelletier von seinem Kapitän versehentlich an der australischen Ostküste zurückgelassen. Als man ihn nach siebzehn Jahren zufällig wiederfindet, lebt er inmitten eines Stamms von Jägern und Sammlern: Er ist nackt und tätowiert, spricht nur noch deren Sprache, hat seinen Namen vergessen. Ein Wissenschaftler aber führt ihn zurück in die Zivilisation und nimmt ihn mit nach Paris - ein gewagtes Unterfangen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2018NEUE TASCHENBÜCHER
Gleichzeitig weiß
und wild
Zuletzt ist François Garde in einem Reportage-Buch über Wale dem Charme der Meeresgiganten erlegen. Weil deren Leben in den Ozeantiefen uns so unglaublich fremd ist. Um Fremdheit und -sein geht es auch im vielfach preisgekrönten Debüt Gardes, der einst Verwaltungsbeamter in Neukaledonien war. „Was mit dem weißen Wilden geschah“ beruht auf der wahren Geschichte des Matrosen Narcisse Pelletier, der es 1843 nach einem Landgang an der Ostküste Australiens nicht mehr auf die Saint-Paul schaffte, ehe diese ablegte. Pelletier, damals 18 Jahre alt, wurde von den Aborigines aufgenommen.
17 Jahre lebte er bei ihnen, bis man ihn, der inzwischen seinen richtigen Namen vergessen hatte und dessen weiße Haut von Tattoos überschrieben war, fand und in die Heimat zurückverfrachtete. Ein gebrochener Mensch, verstummt: „Reden ist wie Sterben … Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer und Wilder zu sein.“ Garde erzählt Pelletiers Schicksal in einer Mischung aus Abenteuerstory und Briefroman. Der eurozentristische Blick auf das Fremde (man denke an den „Edlen Wilden“), fällt hier auf die Europäer selbst zurück. Was ist zivilisiert? FLORIAN WELLE
François Garde: Was mit dem weißen Wilden geschah. Aus dem Französischen von Sylvia Spatz. dtv, München 2017. 318 Seiten, 10,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gleichzeitig weiß
und wild
Zuletzt ist François Garde in einem Reportage-Buch über Wale dem Charme der Meeresgiganten erlegen. Weil deren Leben in den Ozeantiefen uns so unglaublich fremd ist. Um Fremdheit und -sein geht es auch im vielfach preisgekrönten Debüt Gardes, der einst Verwaltungsbeamter in Neukaledonien war. „Was mit dem weißen Wilden geschah“ beruht auf der wahren Geschichte des Matrosen Narcisse Pelletier, der es 1843 nach einem Landgang an der Ostküste Australiens nicht mehr auf die Saint-Paul schaffte, ehe diese ablegte. Pelletier, damals 18 Jahre alt, wurde von den Aborigines aufgenommen.
17 Jahre lebte er bei ihnen, bis man ihn, der inzwischen seinen richtigen Namen vergessen hatte und dessen weiße Haut von Tattoos überschrieben war, fand und in die Heimat zurückverfrachtete. Ein gebrochener Mensch, verstummt: „Reden ist wie Sterben … Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer und Wilder zu sein.“ Garde erzählt Pelletiers Schicksal in einer Mischung aus Abenteuerstory und Briefroman. Der eurozentristische Blick auf das Fremde (man denke an den „Edlen Wilden“), fällt hier auf die Europäer selbst zurück. Was ist zivilisiert? FLORIAN WELLE
François Garde: Was mit dem weißen Wilden geschah. Aus dem Französischen von Sylvia Spatz. dtv, München 2017. 318 Seiten, 10,90 Euro.
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Garde erzählt Pelletiers Schicksal in einer Mischung aus Abenteuerstory und Briefroman. Florian Welle sueddeutsche.de 20180108
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2014Europäischen Damen gefällt der durchdringende Blick
François Garde erzählt in seinem Roman "Was mit dem weißen Wilden geschah" vom Weg aus der Zivilisation heraus und wieder zurück.
Die Robinsonade hat den Charme eines Kochrezepts oder eines Laborversuchs: Mit ein paar Zutaten und wenigen Handgriffen erreicht man komplexe Ergebnisse. Man lasse einen Jedermann Schiffbruch erleiden, auf einer einsamen Insel landen und quasi aus dem Nichts ein neues Leben beginnen; früher oder später konfrontiere man ihn mit Ureinwohnern und destilliere Gedanken zum Wesen der Zivilisation. Schließlich biete man Robinson die Möglichkeit zur Heimkehr - fertig ist das Inseltörtchen.
Die Varianten beginnen freilich schon bei der Ausgangslage: Kann der Schiffbrüchige Werkzeug für Körper und Geist retten? Daniel Defoes Ur-Robinson hat nicht nur Schusswaffen, sondern führt - weit wichtiger! - die Bibel in Hand und Herz. Und: Wie sieht das neue Leben aus? Imitiert es die Zivilisation? Oder mischt der Autor eine Prise Utopie bei? In der französischen Literatur haben etwa Jules Verne und Michel Tournier mögliche Antworten durchgespielt. Auch François Garde lehnt seinen ersten Roman "Was mit dem weißen Wilden geschah" an die Robinsonade an: Narcisse Pelletier, ein Matrose aus der Vendée, findet sich 1843 allein im Nordosten Australiens wieder: Während er nach Trinkwasser sucht, hisst die "Saint-Paul" überraschend die Segel, um Korallenriffen und einem Sturm zu entgehen. Der achtzehnjährige Junge ist ganz auf sich gestellt und droht zu verdursten; eine Gruppe Aborigines nimmt ihn auf. Achtzehn Jahre später finden ihn englische Matrosen und bringen ihn nach Sydney. Narcisse ist nicht wiederzuerkennen: "Ein nackter Wilder, am ganzen Körper tätowiert und von der Sonne verbrannt, keiner Sprache mächtig außer irgendeinem Kauderwelsch, und doch der Haut, dem Haar und der Größe nach eindeutig ein Weißer."
Wie sich herausstellen wird, kann er nicht mehr schreiben, zeichnet stattdessen "eine klare Abfolge von unterbrochenen Linien, Kreisen, Spiralen und Punkten", von denen eine "geheimnisvolle Harmonie" ausgeht, die auf europäische Gemüter "barbarisch" wirkt. Er ist hilfreich, jagt und sammelt, kennt freilich weder Scham noch Futur - dieser Robinson hat seine Zivilisation hinter sich gelassen. Vorerst entringt ihm der Gouverneur nur ein paar französische Worte und vertraut ihn dem einzigen Landsmann an, der gerade zur Hand ist: dem Vicomte de Vallombrun.
Garde berichtet Narcisses Schicksal mittels zweier sich abwechselnder Erzählungen, die zwei Metamorphosen zum Gegenstand haben: Die erste Geschichte erzählt, wie der Matrose zurückgelassen wird, ums Überleben kämpft, auf Aborigines trifft und adoptiert wird - Narcisse verwandelt sich in Amglo ("Sonne"). Eine zweite Geschichte entsteht in insgesamt vierzehn Briefen, die Vallombrun an den Präsidenten der Pariser Société de Géographie schreibt: Sie berichten von der Rückwandlung Amglos in Narcisse sowie vom Versuch des Vicomte, seines Zeichens Amateurgeograph, dem "weißen Wilden" die Geheimnisse der Aborigineskultur zu entlocken. Zwei Briefe der Schwester Vallombruns ergänzen dieses Konvolut.
Die erste Geschichte ist die der Begegnung mit einer völlig anderen Kultur: Ob in Kleidung, Ernährung, Sexualität, Familien- oder Gruppenverhalten, der zurückgelassene Narcisse ist mit hermetischer Fremdheit konfrontiert. Eines Tages steht er vor der Alternative, entweder allein zugrunde zu gehen oder eben Amglo zu werden. Er entscheidet sich fürs Überleben und verdrängt sein altes Ich; erst als Vallombrun sich seiner annimmt, steigt es wieder auf.
Die Wiedergeburt von Narcisse wiederum kann nur um den Preis des Todes von Amglo geschehen. Das heikle Gleichgewicht, das Narcisse als Leuchtturmwärter auf der Île de Ré findet, wird zerstört, als der ansonsten sensible und scharfsinnige Vicomte zu tief bohrt.
Garde, geboren 1959, Absolvent der Elite-Schule ENA und hoher Verwaltungsbeamter, der lange im Pazifikraum gelebt und gearbeitet hat, greift in seinem Roman einen historischen Stoff auf: Narcisse Pelletier hat existiert, und seine Erlebnisse wurden aufgezeichnet (der Vicomte freilich ist erfunden). Garde erzählt das Abenteuer einfühlsam. Den Fall hält er für einzigartig: "Niemand hat wie Narcisse Pelletier die Reise von der einen Welt in die andere zweimal hinter sich gebracht."
Wie kaum anders zu erwarten, werden abendländische Vorurteile treffsicher aufgespießt. "Das Paradox eines weißen Wilden", so ahnt Vallombrun voraus, "würde die Herren amüsieren und die Damen erschaudern lassen." Tatsächlich: Bei der Rückkehr nach Europa stürzen sich Zeitungen und Schaulustige auf Narcisse, ja selbst die ehrwürdige Société de Géographie macht kein gutes Bild; den Damen hingegen gefällt "der durchdringende und starre Blick".
Radikaler wird die Kritik an Borniertheit und Rassismus durch die Geisteshaltung des Vicomte, der Narcisse zwar aufrichtig Gutes will, die Fremdheit letzten Endes aber nicht erträgt. Früh begreift er, dass die zentrale Frage - "Was ist ein Wilder?" - mehr meint als einen Definitionsversuch; er will ihr durch die Erfindung einer neuen Wissenschaft beikommen, der "Adamologie". Erst spät, als er gescheitert ist, begreift der Vicomte, dass er Narcisse nicht verstehen kann, ohne zu einem neuen "Ufer menschlicher Universalgelehrtheit" aufzubrechen, das weit ferner liegt als Australien.
Philosophisch wird der Roman durch die Figur Narcisse: Die Fremdheit der Kulturen ist so groß, die Normen der westlichen sind so stark, dass er in eine milde Form der Schizophrenie getrieben wird. Seine zwei Persönlichkeiten - "Matrose" und "kleiner Teufel" - schließen einander aus: Es ist unmöglich, "zugleich Weißer und Wilder zu sein". Die Konsequenz ist radikal: "Reden, das hätte bedeutet, das Unaussprechliche dieser dort unten verbrachten Tage in Worte zu fassen, zu erzählen, über die Erinnerungen, die ich unaufhörlich von ihm forderte, zu sprechen und somit ein Gelübde zu brechen." Narcisse schweigt, denn: "Reden ist wie Sterben."
In seiner Reflektiertheit ist "Was mit dem weißen Wilden geschah" ein typischer Thesenroman. Neben psychologischem Feingefühl zeichnen ihn jedoch Plastizität und Eindringlichkeit der Schilderung aus; das legt den Vergleich zu Michel Tourniers "Freitag oder Im Schoß des Pazifik" aus dem Jahr 1967 nahe. Kurz: Gardes Buch ist ein packender Erstling, den man mit melancholischem Genuss liest und als Denkanregung ernst nehmen muss.
NIKLAS BENDER
François Garde: "Was mit dem weißen Wilden geschah". Roman.
Aus dem Französischen von Sylvia Spatz. Verlag C. H. Beck, München 2014. 318 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
François Garde erzählt in seinem Roman "Was mit dem weißen Wilden geschah" vom Weg aus der Zivilisation heraus und wieder zurück.
Die Robinsonade hat den Charme eines Kochrezepts oder eines Laborversuchs: Mit ein paar Zutaten und wenigen Handgriffen erreicht man komplexe Ergebnisse. Man lasse einen Jedermann Schiffbruch erleiden, auf einer einsamen Insel landen und quasi aus dem Nichts ein neues Leben beginnen; früher oder später konfrontiere man ihn mit Ureinwohnern und destilliere Gedanken zum Wesen der Zivilisation. Schließlich biete man Robinson die Möglichkeit zur Heimkehr - fertig ist das Inseltörtchen.
Die Varianten beginnen freilich schon bei der Ausgangslage: Kann der Schiffbrüchige Werkzeug für Körper und Geist retten? Daniel Defoes Ur-Robinson hat nicht nur Schusswaffen, sondern führt - weit wichtiger! - die Bibel in Hand und Herz. Und: Wie sieht das neue Leben aus? Imitiert es die Zivilisation? Oder mischt der Autor eine Prise Utopie bei? In der französischen Literatur haben etwa Jules Verne und Michel Tournier mögliche Antworten durchgespielt. Auch François Garde lehnt seinen ersten Roman "Was mit dem weißen Wilden geschah" an die Robinsonade an: Narcisse Pelletier, ein Matrose aus der Vendée, findet sich 1843 allein im Nordosten Australiens wieder: Während er nach Trinkwasser sucht, hisst die "Saint-Paul" überraschend die Segel, um Korallenriffen und einem Sturm zu entgehen. Der achtzehnjährige Junge ist ganz auf sich gestellt und droht zu verdursten; eine Gruppe Aborigines nimmt ihn auf. Achtzehn Jahre später finden ihn englische Matrosen und bringen ihn nach Sydney. Narcisse ist nicht wiederzuerkennen: "Ein nackter Wilder, am ganzen Körper tätowiert und von der Sonne verbrannt, keiner Sprache mächtig außer irgendeinem Kauderwelsch, und doch der Haut, dem Haar und der Größe nach eindeutig ein Weißer."
Wie sich herausstellen wird, kann er nicht mehr schreiben, zeichnet stattdessen "eine klare Abfolge von unterbrochenen Linien, Kreisen, Spiralen und Punkten", von denen eine "geheimnisvolle Harmonie" ausgeht, die auf europäische Gemüter "barbarisch" wirkt. Er ist hilfreich, jagt und sammelt, kennt freilich weder Scham noch Futur - dieser Robinson hat seine Zivilisation hinter sich gelassen. Vorerst entringt ihm der Gouverneur nur ein paar französische Worte und vertraut ihn dem einzigen Landsmann an, der gerade zur Hand ist: dem Vicomte de Vallombrun.
Garde berichtet Narcisses Schicksal mittels zweier sich abwechselnder Erzählungen, die zwei Metamorphosen zum Gegenstand haben: Die erste Geschichte erzählt, wie der Matrose zurückgelassen wird, ums Überleben kämpft, auf Aborigines trifft und adoptiert wird - Narcisse verwandelt sich in Amglo ("Sonne"). Eine zweite Geschichte entsteht in insgesamt vierzehn Briefen, die Vallombrun an den Präsidenten der Pariser Société de Géographie schreibt: Sie berichten von der Rückwandlung Amglos in Narcisse sowie vom Versuch des Vicomte, seines Zeichens Amateurgeograph, dem "weißen Wilden" die Geheimnisse der Aborigineskultur zu entlocken. Zwei Briefe der Schwester Vallombruns ergänzen dieses Konvolut.
Die erste Geschichte ist die der Begegnung mit einer völlig anderen Kultur: Ob in Kleidung, Ernährung, Sexualität, Familien- oder Gruppenverhalten, der zurückgelassene Narcisse ist mit hermetischer Fremdheit konfrontiert. Eines Tages steht er vor der Alternative, entweder allein zugrunde zu gehen oder eben Amglo zu werden. Er entscheidet sich fürs Überleben und verdrängt sein altes Ich; erst als Vallombrun sich seiner annimmt, steigt es wieder auf.
Die Wiedergeburt von Narcisse wiederum kann nur um den Preis des Todes von Amglo geschehen. Das heikle Gleichgewicht, das Narcisse als Leuchtturmwärter auf der Île de Ré findet, wird zerstört, als der ansonsten sensible und scharfsinnige Vicomte zu tief bohrt.
Garde, geboren 1959, Absolvent der Elite-Schule ENA und hoher Verwaltungsbeamter, der lange im Pazifikraum gelebt und gearbeitet hat, greift in seinem Roman einen historischen Stoff auf: Narcisse Pelletier hat existiert, und seine Erlebnisse wurden aufgezeichnet (der Vicomte freilich ist erfunden). Garde erzählt das Abenteuer einfühlsam. Den Fall hält er für einzigartig: "Niemand hat wie Narcisse Pelletier die Reise von der einen Welt in die andere zweimal hinter sich gebracht."
Wie kaum anders zu erwarten, werden abendländische Vorurteile treffsicher aufgespießt. "Das Paradox eines weißen Wilden", so ahnt Vallombrun voraus, "würde die Herren amüsieren und die Damen erschaudern lassen." Tatsächlich: Bei der Rückkehr nach Europa stürzen sich Zeitungen und Schaulustige auf Narcisse, ja selbst die ehrwürdige Société de Géographie macht kein gutes Bild; den Damen hingegen gefällt "der durchdringende und starre Blick".
Radikaler wird die Kritik an Borniertheit und Rassismus durch die Geisteshaltung des Vicomte, der Narcisse zwar aufrichtig Gutes will, die Fremdheit letzten Endes aber nicht erträgt. Früh begreift er, dass die zentrale Frage - "Was ist ein Wilder?" - mehr meint als einen Definitionsversuch; er will ihr durch die Erfindung einer neuen Wissenschaft beikommen, der "Adamologie". Erst spät, als er gescheitert ist, begreift der Vicomte, dass er Narcisse nicht verstehen kann, ohne zu einem neuen "Ufer menschlicher Universalgelehrtheit" aufzubrechen, das weit ferner liegt als Australien.
Philosophisch wird der Roman durch die Figur Narcisse: Die Fremdheit der Kulturen ist so groß, die Normen der westlichen sind so stark, dass er in eine milde Form der Schizophrenie getrieben wird. Seine zwei Persönlichkeiten - "Matrose" und "kleiner Teufel" - schließen einander aus: Es ist unmöglich, "zugleich Weißer und Wilder zu sein". Die Konsequenz ist radikal: "Reden, das hätte bedeutet, das Unaussprechliche dieser dort unten verbrachten Tage in Worte zu fassen, zu erzählen, über die Erinnerungen, die ich unaufhörlich von ihm forderte, zu sprechen und somit ein Gelübde zu brechen." Narcisse schweigt, denn: "Reden ist wie Sterben."
In seiner Reflektiertheit ist "Was mit dem weißen Wilden geschah" ein typischer Thesenroman. Neben psychologischem Feingefühl zeichnen ihn jedoch Plastizität und Eindringlichkeit der Schilderung aus; das legt den Vergleich zu Michel Tourniers "Freitag oder Im Schoß des Pazifik" aus dem Jahr 1967 nahe. Kurz: Gardes Buch ist ein packender Erstling, den man mit melancholischem Genuss liest und als Denkanregung ernst nehmen muss.
NIKLAS BENDER
François Garde: "Was mit dem weißen Wilden geschah". Roman.
Aus dem Französischen von Sylvia Spatz. Verlag C. H. Beck, München 2014. 318 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Philippe Panizzon geht leicht schwermütig aus der Lektüre von François Gardes Erstlingsroman hervor. Das auf der wahren Geschichte des 1843 in Australien "gestrandeten" französischen Matrosen Narcisse Pelletier basierende Buch ist für Panizzon zwar als Thesenroman kenntlich, der Fragen nach Identität, Zivilisation und Fremdheit nachgeht, fesselnd ist das Buch für ihn aber auch, und zwar sowohl als Robinsonade, die das entbehrungsreiche Leben auf der Insel zeigt, als auch in der Schilderung der Narcisses versuchter Reintegration in die Zivilisation durch den Forscher Octave de Vallombrun und der "schmerzvollen Erfahrungen mit Geld, Schuld und Scham - den dunkleren Blüten unserer Zivilisation", fasst Panizzon zusammen. Dass der Autor, der seinen Stoff mit Mitteln des Brief- und Abenteuerromans ordnet, nicht didaktisch zu Werke geht, nimmt der Rezensent erleichtert zur Kenntnis.
© Perlentaucher Medien GmbH
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