Charles Fox ist fünfzehn, als er dem Paradies entrissen wird. Er wuchs in Australien umgeben von unberührtem Buschland auf, doch nun beginnt sein neues Leben in einem Internat, wo Knaben zu Männern geformt werden sollen. Die Mitschüler drangsalieren ihn, Freundschaft findet er ausgerechnet bei einem Lehrer, der sich erotisch zu ihm hingezogen fühlt. Als er in den Ferien endlich wieder in die geliebte Natur eintaucht und der gleichaltrigen Margaret begegnet, spürt Charles zum ersten Mal ein großes, ungekanntes Verlangen. "Was sie begehren" ist ein Roman der ersten Liebe, der unvergleichlichen Intensität der Jugend. Als er 1937 erschien, wurde er zu einer Sensation. Jetzt endlich liegt er auf Deutsch vor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.01.2015Die keusche Zauberkunst der Intimität
Eine Wiederentdeckung aus Australien: Kenneth Mackenzie erzählt von ersten Lektionen und erster Liebe
"Was sie begehren, ist die Freiheit der Selbstbestimmung" lautet das Motto dieses Buches mit dem schönen Knabenkopf auf dem Umschlag. Welcher zeitgenössische Roman, der von der Jugend handelt, könnte sich nicht Gleiches oder Ähnliches vorsetzen! Und doch ist dieses Buch vor fast achtzig Jahren zuerst erschienen und heute nur als Rarität wieder ans Licht gebracht worden, im englischen Original zuerst und nun auch in einer ganz vorzüglichen deutschen Übersetzung von Viola Siegemund. Sein Autor, der Australier Kenneth "Seaford" Mackenzie, hat es als Siebzehnjähriger begonnen und dann 1937 abgeschlossen. Da war er gerade einmal 24 Jahre alt.
Keines seiner späteren Bücher oder Gedichte hat danach noch nennenswerten Erfolg gehabt. Mackenzie starb 1955 beim Schwimmen; ob es ein Unfall war oder Freitod, ist nie geklärt worden. Heute jedenfalls kommt dieser Roman als Wiederentdeckung aus einer schon fern gewordenen Vergangenheit ans Licht und fasziniert wie einst, als dem Autor in seiner australischen Heimat Lob und flüchtige Anerkennung zuteilwurden.
Der Held Charles Fox ist fünfzehn und Schüler einer Internatsschule in Perth, der Hauptstadt Westaustraliens. Das, was zunächst als wohlbekanntes Milieu der Mittelschicht erscheint, wird mit großer Subtilität und Einsicht in das Erwachsenwerden, in das Lösen aus den natürlichen Bindungen zwischen den Generationen erzählt. Es sind Schritte auf dem Weg ins Geflecht von Neigungen oder Abneigungen, die jedes Leben unverändert darstellt.
Das historische Fundament des Buches ist das britische Commonwealth; noch heute ist die englische Königin Australiens Staatsoberhaupt und hält solche Bindung durch gelegentliche eigene Besuche oder die ihrer großen Familie auf dem fernen fünften Kontinent aufrecht. Der "England-mein-England-Kult", der noch aus Mackenzies Buch spricht, ist allerdings inzwischen verdrängt von den großen Einwandererscharen aus dem Vorderen Orient, aus Ostasien und Afrika, die in den letzten Jahren in Australien aufgenommen worden sind. Im Roman wirkt jener Kult noch mittels der Erziehung der teuren Privatschulen.
Repräsentiert wird die dabei zugrundeliegende Gesinnung durch den jungen Sprach- und Geschichtslehrer Penworth, der wie die Mehrzahl der Lehrer aus Großbritannien stammt. Sein Interesse an dem intelligenten Schüler Charles beruht freilich nicht allein auf dessen allerdings hoher Intelligenz. Penworth ist homosexuell - eine nicht unübliche Neigung innerhalb der Privatschulsysteme. Eines Tages jedenfalls wird er seinen Schüler überraschen und ihn "stürmisch und fest auf den Mund" küssen. Charles indes ist "wie gelähmt", ihn versetzt der Übergriff seines Lehrers in "tiefe Zweifel und hilflose Scham": "Ihm war klar, dass gerade etwas passiert war, das nicht sein durfte."
Penworth ist intelligent genug, dergleichen zu spüren, den Jungen loszulassen und die Spannung in Lachen und später in das Angebot von Freundschaft aufzulösen. Denn Charles blickt nun mit anderen Augen und Sinnen auf die Welt. Er hat auf dem Landsitz seiner verwitweten Mutter die mit ihm gleichaltrige Margaret getroffen. Das Wachsen ihrer Neigung zueinander, die Sprünge und Klippen, denen ihre Beziehung ausgesetzt sein wird bis hin zum beklemmenden Schluss, der geplanten Abreise des Mädchens zu Verwandten nach England - diese Spannung wird die Handlung des Buchs durchziehen und sie prägen.
Die Annäherung der beiden jungen Leute vollzieht sich subtil und mit großer Zartheit. Es ist der Gewinn und das Besondere dieses Buchs, dass seine Sprache solchen Vorgängen angemessen ist. Der Abschnitt über die erste zärtliche Verabredung in freier Natur, einem Wäldchen in der Nähe des Landsitzes der Mutter, beginnt mit dem Satz: "Als er kam, war sie schon da." Und so tritt Charles Margaret mit einem schlichten "Hier bin ich" gegenüber. Worauf sie schlicht erwidert: "Ich wusste, dass du da bist." Und dann folgt der erklärende Satz: "Beim Namen konnten sie einander nicht nennen, denn die Intimität dieser Geste war ihnen bewusst und sie war auch gar nicht nötig, denn der Himmel und das Licht und die Stille auf diesem Flecken Erde, sie kannten die beiden längst. Je länger sie einander ansahen, desto deutlicher nahm er sie wahr."
Und so schreitet das Gespräch der beiden in Sätzen einfacher Erkenntnisse fort: ",Gefällt es dir hier?' wollte er wissen. ,Ja, es gefällt mir.' ,Du siehst so schön aus, wie du da liegst.' ,Ja', flüsterte sie, als hörte jemand mit. ,Warum sagst du so was?' ,Ja, warum eigentlich? Ich weiß nicht. Aber es stimmt.' ,Du bist komisch', stellte sie mit großem Ernst fest. ,So etwas würde sonst niemand laut sagen. Ich kenne ja außer dir keine Jungs.' ,Und ich weiß nichts über Mädchen.'" Erst hier greift der Erzähler ein mit dem Satz: "Mit diesen letzten Worten war eine Art Zauberbann über sie gefallen." Und bald darauf folgt die Beobachtung weiterer Wirkung: "Sie konnten den Blick jetzt nicht mehr abwenden. Sein Herz klopfte so laut, dass er das Gefühl hatte, der Erdball prallte gegen seine Brust." Aus der Liebe wird ein kosmisches Ereignis.
Es ist die Kraft der Sprache, mit der Mackenzie eine durchweg eigene Atmosphäre der Intimität schafft. Hier noch einmal ein Lob für die Übersetzerin, die ihren Text auf eine Weise klingen lässt, als wäre er ein Verwandter deutscher romantischer Literatur. Kenneth Mackenzies Roman ist eine Liebesgeschichte von beträchtlichen Dimensionen, aber äußerster Keuschheit. Die Konfliktsituationen, so etwa die mit der eifersüchtig werdenden Mutter, sind zahlreich, aber subtil. Nur sind die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts dann doch entschiedener zum Widerstand bereit. Das "weiße Feuer", das das Mädchen im Herzen des jungen Mannes entfacht hat, lässt ihn auffahren mütterlichen Vorwürfen gegenüber: "Was fällt dir ein, Mutter! Was fällt dir ein? Sie mir folgen? Was ... ach! Ich folge ihr, wenn du's genau wissen willst. So ist es, und so wird es sein, das sage ich dir."
Wir lesen also einen modernen Roman mit einem etwas betrübten Ausklang, denn Margaret muss nach England gehen, der Verwandten wegen. Heute haben moderne Frauen das auch in Australien nicht mehr nötig - sie können im Lande bleiben und in "freier Selbstbestimmung" Abstecher nach Indien, China oder dem Rest der Welt machen.
GERHARD SCHULZ
Kenneth Mackenzie: "Was sie begehren". Roman.
Aus dem Englischen von Viola Siegemund. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2014. 352 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Wiederentdeckung aus Australien: Kenneth Mackenzie erzählt von ersten Lektionen und erster Liebe
"Was sie begehren, ist die Freiheit der Selbstbestimmung" lautet das Motto dieses Buches mit dem schönen Knabenkopf auf dem Umschlag. Welcher zeitgenössische Roman, der von der Jugend handelt, könnte sich nicht Gleiches oder Ähnliches vorsetzen! Und doch ist dieses Buch vor fast achtzig Jahren zuerst erschienen und heute nur als Rarität wieder ans Licht gebracht worden, im englischen Original zuerst und nun auch in einer ganz vorzüglichen deutschen Übersetzung von Viola Siegemund. Sein Autor, der Australier Kenneth "Seaford" Mackenzie, hat es als Siebzehnjähriger begonnen und dann 1937 abgeschlossen. Da war er gerade einmal 24 Jahre alt.
Keines seiner späteren Bücher oder Gedichte hat danach noch nennenswerten Erfolg gehabt. Mackenzie starb 1955 beim Schwimmen; ob es ein Unfall war oder Freitod, ist nie geklärt worden. Heute jedenfalls kommt dieser Roman als Wiederentdeckung aus einer schon fern gewordenen Vergangenheit ans Licht und fasziniert wie einst, als dem Autor in seiner australischen Heimat Lob und flüchtige Anerkennung zuteilwurden.
Der Held Charles Fox ist fünfzehn und Schüler einer Internatsschule in Perth, der Hauptstadt Westaustraliens. Das, was zunächst als wohlbekanntes Milieu der Mittelschicht erscheint, wird mit großer Subtilität und Einsicht in das Erwachsenwerden, in das Lösen aus den natürlichen Bindungen zwischen den Generationen erzählt. Es sind Schritte auf dem Weg ins Geflecht von Neigungen oder Abneigungen, die jedes Leben unverändert darstellt.
Das historische Fundament des Buches ist das britische Commonwealth; noch heute ist die englische Königin Australiens Staatsoberhaupt und hält solche Bindung durch gelegentliche eigene Besuche oder die ihrer großen Familie auf dem fernen fünften Kontinent aufrecht. Der "England-mein-England-Kult", der noch aus Mackenzies Buch spricht, ist allerdings inzwischen verdrängt von den großen Einwandererscharen aus dem Vorderen Orient, aus Ostasien und Afrika, die in den letzten Jahren in Australien aufgenommen worden sind. Im Roman wirkt jener Kult noch mittels der Erziehung der teuren Privatschulen.
Repräsentiert wird die dabei zugrundeliegende Gesinnung durch den jungen Sprach- und Geschichtslehrer Penworth, der wie die Mehrzahl der Lehrer aus Großbritannien stammt. Sein Interesse an dem intelligenten Schüler Charles beruht freilich nicht allein auf dessen allerdings hoher Intelligenz. Penworth ist homosexuell - eine nicht unübliche Neigung innerhalb der Privatschulsysteme. Eines Tages jedenfalls wird er seinen Schüler überraschen und ihn "stürmisch und fest auf den Mund" küssen. Charles indes ist "wie gelähmt", ihn versetzt der Übergriff seines Lehrers in "tiefe Zweifel und hilflose Scham": "Ihm war klar, dass gerade etwas passiert war, das nicht sein durfte."
Penworth ist intelligent genug, dergleichen zu spüren, den Jungen loszulassen und die Spannung in Lachen und später in das Angebot von Freundschaft aufzulösen. Denn Charles blickt nun mit anderen Augen und Sinnen auf die Welt. Er hat auf dem Landsitz seiner verwitweten Mutter die mit ihm gleichaltrige Margaret getroffen. Das Wachsen ihrer Neigung zueinander, die Sprünge und Klippen, denen ihre Beziehung ausgesetzt sein wird bis hin zum beklemmenden Schluss, der geplanten Abreise des Mädchens zu Verwandten nach England - diese Spannung wird die Handlung des Buchs durchziehen und sie prägen.
Die Annäherung der beiden jungen Leute vollzieht sich subtil und mit großer Zartheit. Es ist der Gewinn und das Besondere dieses Buchs, dass seine Sprache solchen Vorgängen angemessen ist. Der Abschnitt über die erste zärtliche Verabredung in freier Natur, einem Wäldchen in der Nähe des Landsitzes der Mutter, beginnt mit dem Satz: "Als er kam, war sie schon da." Und so tritt Charles Margaret mit einem schlichten "Hier bin ich" gegenüber. Worauf sie schlicht erwidert: "Ich wusste, dass du da bist." Und dann folgt der erklärende Satz: "Beim Namen konnten sie einander nicht nennen, denn die Intimität dieser Geste war ihnen bewusst und sie war auch gar nicht nötig, denn der Himmel und das Licht und die Stille auf diesem Flecken Erde, sie kannten die beiden längst. Je länger sie einander ansahen, desto deutlicher nahm er sie wahr."
Und so schreitet das Gespräch der beiden in Sätzen einfacher Erkenntnisse fort: ",Gefällt es dir hier?' wollte er wissen. ,Ja, es gefällt mir.' ,Du siehst so schön aus, wie du da liegst.' ,Ja', flüsterte sie, als hörte jemand mit. ,Warum sagst du so was?' ,Ja, warum eigentlich? Ich weiß nicht. Aber es stimmt.' ,Du bist komisch', stellte sie mit großem Ernst fest. ,So etwas würde sonst niemand laut sagen. Ich kenne ja außer dir keine Jungs.' ,Und ich weiß nichts über Mädchen.'" Erst hier greift der Erzähler ein mit dem Satz: "Mit diesen letzten Worten war eine Art Zauberbann über sie gefallen." Und bald darauf folgt die Beobachtung weiterer Wirkung: "Sie konnten den Blick jetzt nicht mehr abwenden. Sein Herz klopfte so laut, dass er das Gefühl hatte, der Erdball prallte gegen seine Brust." Aus der Liebe wird ein kosmisches Ereignis.
Es ist die Kraft der Sprache, mit der Mackenzie eine durchweg eigene Atmosphäre der Intimität schafft. Hier noch einmal ein Lob für die Übersetzerin, die ihren Text auf eine Weise klingen lässt, als wäre er ein Verwandter deutscher romantischer Literatur. Kenneth Mackenzies Roman ist eine Liebesgeschichte von beträchtlichen Dimensionen, aber äußerster Keuschheit. Die Konfliktsituationen, so etwa die mit der eifersüchtig werdenden Mutter, sind zahlreich, aber subtil. Nur sind die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts dann doch entschiedener zum Widerstand bereit. Das "weiße Feuer", das das Mädchen im Herzen des jungen Mannes entfacht hat, lässt ihn auffahren mütterlichen Vorwürfen gegenüber: "Was fällt dir ein, Mutter! Was fällt dir ein? Sie mir folgen? Was ... ach! Ich folge ihr, wenn du's genau wissen willst. So ist es, und so wird es sein, das sage ich dir."
Wir lesen also einen modernen Roman mit einem etwas betrübten Ausklang, denn Margaret muss nach England gehen, der Verwandten wegen. Heute haben moderne Frauen das auch in Australien nicht mehr nötig - sie können im Lande bleiben und in "freier Selbstbestimmung" Abstecher nach Indien, China oder dem Rest der Welt machen.
GERHARD SCHULZ
Kenneth Mackenzie: "Was sie begehren". Roman.
Aus dem Englischen von Viola Siegemund. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2014. 352 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Gerhard Schulz ist hin und weg von dieser Wiederentdeckung. Kenneth Mackenzies Roman aus den schönen fernen Tagen des England-Kultes im australischen Perth, mit Mittelschichtsdünkel und Internatsatmo hat es ihm angetan. Vor allem Mackenzies Gefühl für die sprachliche Umsetzung homosexueller Intimität hat ihn beeindruckt. Subtil und zart scheint ihm die Annäherung zweier junger Männer gefasst, und die Liebe als "kosmisches Ereignis" zelebriert. Dass sich all das auch auf Deutsch lesen lässt, verdankt der Rezensent nicht zuletzt der ihn an deutsche Romantiker erinnernden Übersetzung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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