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In Was sie trugen erzählt Tim O'Brien von Vietnam: von Jimmy Cross, Norman Bowker, Rat Kiley, Mitchell Sanders, Henry Dobbins, Kiowa und den anderen Männern der Alpha Company, mit denen er einen Platoon bildete Kindern im Grunde, die wie der Erzähler aus einem scheinbar vorgezeichneten Lebensweg gerissen wurden. Er erzählt ohne zu beschönigen und mit genauem Blick für Einzelheiten. In der Titelgeschichte etwa schildert er nicht direkt die Angst der Soldaten, sondern die Mühe des Marsches und des Schleppens. Und während nüchtern Pfund für Pfund aufgezählt wird, was die Männer trugen, wird…mehr

Produktbeschreibung
In Was sie trugen erzählt Tim O'Brien von Vietnam: von Jimmy Cross, Norman Bowker, Rat Kiley, Mitchell Sanders, Henry Dobbins, Kiowa und den anderen Männern der Alpha Company, mit denen er einen Platoon bildete Kindern im Grunde, die wie der Erzähler aus einem scheinbar vorgezeichneten Lebensweg gerissen wurden. Er erzählt ohne zu beschönigen und mit genauem Blick für Einzelheiten. In der Titelgeschichte etwa schildert er nicht direkt die Angst der Soldaten, sondern die Mühe des Marsches und des Schleppens. Und während nüchtern Pfund für Pfund aufgezählt wird, was die Männer trugen, wird deutlich, was jedes zusätzliche Gramm Gewicht für sie bedeutet und wie riesengroß die Angst ist, die sie vergeblich versuchen läßt, mit noch einem Patronengurt, einem weiteren Päckchen Be-ruhigungstabletten, der Bibel oder auch nur einer Dose Pfirsiche die Gefahr zu bannen. Die einzelnen Erzählungen stehen für sich selbst und bilden doch ein Ganzes. Es sind Geschichten über einzelne Menschen, über ihre ganz persönlichen Formen der Angst, ihre Beschwörungsrituale und Freundschaften, ihren Mut und ihre Grausamkeit. Und gerade durch die Beschränkung auf das Konkrete werden aus den Geschichten über den Vietnamkrieg zugleich Geschichten über die Begegnung des einzelnen mit den Abgründen in den anderen und in sich selbst.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.1999

Krieg auf der Schreibtischplatte
Flacher Mythos: Tim O'Brien im Dschungel der Geschichten

Ein Roman über den Vietnamkrieg. Er ist, so steht es auf der ersten Seite, "den Männern der Alpha-Company gewidmet, insbesondere Jimmy Cross, Norman Bowker, Rat Kiley, Mitchell Sanders, Henry Dobbins und Kiowa". Alle Bücher des Autors verdanken sich - wenn man diese Vokabel hierfür verwenden will - dem Vietnamkrieg. Tim O'Brien war selber dort im Einsatz, 1969-1970. Seine Erinnerungen "If I Die in a Combat Zone, Box me Up and Ship me Home" erschienen 1973 als eines der ersten Bücher aus der Sicht eines der damaligen Bodensoldaten. "In the Lake of the Woods" (1994) wurde unter dem Titel "Geheimnisse und Lügen" sogleich auch auf deutsch veröffentlicht; "Was sie trugen" heißen, enger am Original, die jetzt nachgetragenen Erzählungen.

Die Widmung klingt männerherrlich, ist so aber gewiß nicht gemeint. Da ist zuerst Jimmy Cross, Lieutenant oder "Zugführer" des Platoons, dessen Geschichten O'Brien erzählt. Cross träumt von seiner College-Liebe daheim in den Staaten und verliert so seinen ersten Mann, Ted Lavender, weggeputzt von einer "Kugel in den Kopf, als er gerade vom Pinkeln zurückkam. Er fiel mit offenem Mund um. Seine Zähne waren kaputt. Unter dem linken Auge hatte er eine schwarze Schwellung. Der Wangenknochen war weggerissen. Ach, du Scheiße, sagte Rat Kiley. Der Typ ist tot. Der Typ ist tot, sagte er immer wieder, bis es sich sehr tiefsinnig anhörte. Der Typ ist tot. Echt wahr." Dann Norman Bowker. Man begegnet ihm wieder, wie er Jahre später zweck- und ziellos um den See seiner Heimatstadt fährt, weil er keinen Veteranenklub hat, um sich "mal richtig schön auszuquatschen" - und weil, worüber er gerne reden würde, für Veteranenohren ohnehin nicht geeignet wäre. Es geht um den Orden, den er nicht bekam, weil er die Rettung eines Kameraden versäumte.

Oder war es der Ich-Erzähler selbst, den vor Gestank der Mut verließ? Diese Möglichkeit besteht, denn sein Thema ist weder die Unfaßbarkeit sinnloser Tode, noch die Unmöglichkeit, Heldengeschichten von solchem Tod zu berichten. Sein Anliegen sind die verschiedenen Versionen derselben Geschichte, die im variierenden Erzählen sich ihrer Wahrheit nähern. Darum steht Bowker in der nächsten Episode ganz anders da, während der Erzähler selbst die Schuld auf sich nimmt, dem Freund das Leben nicht gerettet zu haben. Und so widerfährt es allen Hauptfiguren von O'Brien, auch Rat Kiley, Henry Dobbins und Kiowa. Daß sie durch alle Episoden hindurch wiederkehren, verleiht dem Ganzen den Zusammenhang eines Romans.

Es ist ein Grundproblem moderner Literatur oder jedenfalls der modernen Literatur über den Krieg, dem dieser Text zu begegnen versucht. Seit Stendhals Marchesino Fabrizio in die Schlacht bei Waterloo zog, gehört das perspektivische Erzählen zum festen Repertoire der Literatur. Nach dem Ersten Weltkrieg hieß es, die Kunst, Geschichten zu erzählen, sei an ihr Ende gekommen, weil solche Erfahrungswelt nicht mitgeteilt werden könne. O'Briens Roman müht sich, dieses Paradox zu unterschreiben und gerade dadurch zu jener Erzählkunst zurückzufinden.

"Die folgende Geschichte, zum Beispiel, haben wir alle schon einmal gehört", heißt es in einer Schlüsselstelle: "Vier Jungs gehen einen Pfad entlang. Eine Granate kommt auf sie zu. Einer von ihnen wirft sich darauf, bekommt die volle Sprengladung ab und rettet seinen drei Freunden das Leben." So, weiß O'Brien, ist das nicht. Eine billige Heldenfabel, Hollywoodkitsch, die reine Unwahrheit. Dennoch könnte es so geschehen sein, und deshalb zählt weniger, was faktisch war, als vielmehr das, was sich dem Reich der Fakten entzieht, doch um der Wahrheit willen hinzuerfunden werden kann. Zum Beispiel in "Dead Troops Talk"-Manier: "Vier Jungs gehen einen Pfad entlang. Eine Granate kommt auf sie zu. Einer von ihnen wirft sich darauf und bekommt die volle Sprengladung ab, aber es ist eine richtige Killergranate, und es sterben sowieso alle. Doch bevor sie sterben, sagt einer der Toten: ,Was war denn das für eine Schnapsidee, du Arsch?' Und der, der gesprungen ist, sagt: ,Leben und leben lassen, Mann.' Und der andere will lachen, aber er ist tot."

Immer wieder beteuert O'Brien, daß die Fiktion auf diese Weise der Wahrheit näher komme als die wahre Geschichte, denn sie handelt von hautnah Erlebtem. Das ist ihre Treue zur Wahrheit, die mehr als nur die Wahrheit zu sagen verlangt. "In jeder Kriegsgeschichte, vor allem aber in einer wahren Kriegsgeschichte, ist es schwierig, zwischen dem, was wirklich geschah, und dem, was nur zu geschehen schien, zu unterscheiden. Was zu geschehen scheint, wird selbst zum Geschehen und muß auch so erzählt werden." Statt von der ersten Episode hätte das Buch seinen Titel daher auch von einem der folgenden Kapitel hernehmen können, dessen Überschrift lautet: "Wie man eine wahre Kriegsgeschichte erzählt". Jimmy Cross, Rat Kiley, die ganze Alpha-Company: Für sie alle gilt der Hinweis, "alle Ereignisse, Namen und Charaktere" seien "frei erfunden". Man könnte auch sagen: Die Widmung auf dem Titelblatt, die genau diese frei erfundenen Namen nennt, ist bereits Teil des Romans. Und alles, was folgt, mag als Versuch gelesen werden, diese Version sowohl weiter auszuschreiben als auch gegen sie anzuschreiben.

Daran allerdings scheitert O'Brien gründlich. Schon das formale Spiel mit der Zweideutigkeit literarischer Wahrheitsansprüche kommt selten über die Anwendung von Creative-writing-Faustregeln hinaus. Als wäre sie nicht deutlich genug, muß die Hauptmaxime auch noch von einer der Figuren wiederholt werden: "Nach acht Monaten im Land der Phantasie verschwimmen die Grenzen ein bißchen. Manchmal weiß ich überhaupt nicht mehr, was echt ist und was nicht." Die vorgeführte Erzählhaltung wäre somit besonders eng mit Vietnam verbunden. Aber es ist das Vietnam, das längst zum Klischee verkommen ist.

Die Episode "Das Schätzchen vom Song Tra Bong" etwa handelt von der Verlobten eines Soldaten, die nur zu Besuch in den Krieg kommen wollte, bald aber seiner Faszination erliegt. Eines Nachts schleicht sie sich davon, um mit den Green Berets in den Dschungel vorzudringen. Dadurch steckt sie sich mit dem "Nam-Virus" an und endet schließlich wie Colonel Kurtz in Francis Ford Coppolas "Apocalypse Now", mit einer "Halskette aus menschlichen Zungen": "Die Spitzen krümmten sich nach oben, wie beim letzten entsetzten Laut erstarrt. So sah man sie zuletzt. Anschließend ward sie nie mehr wieder gesehen."

Die Beantwortung der Frage, wie man eine wahre Kriegsgeschichte erzählt, bleibt ohne die Frage unvollständig, wozu sie überhaupt erzählt werden muß. Immerhin bliebe ja, wenn das Buch literarisch nicht überzeugt, ein möglicher politischer Wert. Der Kriegsliteratur, alter wie neuer, eignet gerade seit dem Zeitpunkt, zu dem dieses Buch im Original erschien, eine fatale neue Aktualität. O'Brien, der nur den flachen Mythos Vietnam pflegt, wird ihr in keiner Weise gerecht.

BERNHARD DOTZLER

Tim O'Brien: "Was sie trugen". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Regina Rawlinson. Luchterhand Literaturverlag, München 1999. 253 S., geb., 38,- DM.

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