Antisemitismus hat viele Gesichter - und die meisten davon sind sehr freundlich. Doch auch die besten Manieren schützen nicht davor, Unsinn zu glauben. Wie zum Beispiel, dass alle Juden große Nasen hätten. Oder gut mit Geld umgehen könnten.Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer wurde nie verprügelt, weil er Jude ist. Aber viele Male verspottet, beleidigt und mit irrwitzigen Behauptungen konfrontiert. Wie zum Beispiel, dass seine Nase typisch jüdisch sei. Widersprach er, widersprach man ihm: Doch, doch, das sei eindeutig eine jüdische Nase. Genau so sähen die aus! Irgendwann hörte er auf zu diskutieren und begann, seine Erlebnisse mit dem alltäglichen Antisemitismus aufzuschreiben.Entstanden ist ein kompakter Essay mit großer Wirkung. Die Alltäglichkeit und die oft erschreckende Direktheit von Meyers antisemitischen Erlebnissen nimmt uns als Leserinnen und Leser voll in die Pflicht. Und Meyer schont auch sich selbst nicht, denn er geht seinen eigenen Ressentiments in diesem bewegenden Text ebenso auf den Grund. Meyers Essay ist ein radikal subjektiver, persönlicher Beitrag zur Antisemitismus-Debatte - ein dichtes Buch mit großer Sprengkraft.Und seine Nase ist ganz normal, übrigens.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.07.2021„Man muss jeden Fehltritt ansprechen“
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer über Alltagsantisemitismus, Nazi-Witze und die Kabarettistin Lisa Eckhart
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer hat nie physische Gewalt erfahren, weil er Jude ist, aber er wurde oft beleidigt und mit absurden Vorurteilen konfrontiert. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben.
SZ: Herr Meyer, in Ihrem Buch über Antisemitismus heißt es: „Was auch immer Sie von Antisemiten halten: Die meisten von ihnen sind sehr nett.“ Ich bin nicht sicher, ob ich da zustimmen würde.
Thomas Meyer: Vielleicht kann ich es so sagen: Die meisten Menschen sind sehr nett. Und es gibt darunter viele Antisemiten.
Sie leben in Zürich. Hier gibt es eine orthodoxe Community, Kippas und Schläfenlocken gehören mit zum Straßenbild. Von Gewalt gegen Synagogen oder Juden dagegen hört man – anders als in Deutschland – kaum. Warum also dieses Buch?
Weil Antisemitismus nicht nur eine gewalttätige Form hat. Die ist in der Schweiz sehr selten. Die letzten organisierten Übergriffe gegen Juden sind mehrere hundert Jahre her. Auch glauben viele Schweizer: „Wir haben das hier nicht.“
Sie sehen das anders.
Der Antisemitismus in der Schweiz ist vermeintlich harmlos. Ich nenn das gewaltlosen Antisemitismus: Er schlägt nie mit Fäusten zu, aber permanent mit Worten.
Wie sieht gewaltloser Antisemitismus aus?
Der klingt meist sogar freundlich. Etwa: „Ihr Juden habt einen guten Humor.“ Oder: „Schätz mal, wie viel das kostet. Du kannst das sicher, ihr habt ja Geschäftssinn.“
Erleben Sie das oft?
Etwa einmal im Monat, seit Corona zum Glück seltener. Ein Klassiker: Ich sitze mit jemandem im Café, die Rechnung kommt, und ich übernehme den Kaffee des anderen. Dann heißt es gerne mal: „Jetzt bist du aber ein schlechter Jude.“ Denn offenbar laden gute Juden nie jemanden ein. Was auch oft kommt: „Was ihr da mit den Palästinensern macht…“
Ihr?
Genau. Ich mache nichts mit denen. Ich werde als Ansprechperson für die Empörung missbraucht. Natürlich hat Israel ein fragwürdiges politisches Verhalten. Nur hat das nichts mit mir zu tun. Ich bin Schweizer. Wenn jemand darauf beharrt, mir das sagen zu dürfen, frage ich mich schon: Was ist denn mit dir los?
Wie reagieren Sie auf solche Sprüche?
Ich lasse das nicht so stehen. Aber dann setzen die Verteidigungsmechanismen ein. Man will nicht hören, dass man gerade etwas Falsches gesagt hat, etwas, das auch Nazis gesagt haben. Das passt nicht zum Selbstbild. Die Leute werden defensiv.
Das klingt anstrengend.
Ist es auch. Um das eigene Ego zu retten, wird auf einer Meinung beharrt, die verletzend ist. Diese Gespräche enden dann oft bei Sätzen wie: „Ihr Juden seid auch immer gleich so empfindlich.“
Und rechthaberisch?
Auch das hört man. Krasses antisemitisches Klischee. Oder auch: „Also wenn du so reagierst, dann musst du dich nicht wundern über den Antisemitismus.“
Sie haben vor ein paar Jahren einen Roman geschrieben, der die orthodoxe jüdische Szene in Zürich auf die Schippe nimmt: „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“. Ein großer Erfolg, der sogar verfilmt wurde und auf Netflix zu finden ist.
Ich nehme die Orthodoxen weder im Buch noch im Film auf die Schippe.
In der orthodoxen Gemeinschaft in Zürich wird der Roman aber durchaus kritisch gesehen. Ist es nicht so, dass Sie auch mit Klischees spielen?
Doch. Aber ich mache mich an keiner Stelle über Juden lustig. Wenn ich mich über etwas lustig mache, dann über Mütter.
Wurde Ihnen gesagt: Sie sind Jude, Sie dürfen so ein Buch schreiben?
Ja, und das stimmt auch. Ich darf als Jude auch Holocaust- und Nazi-Witze machen und habe das oft getan und so begründet. Aber die Frage, die mich längst mehr interessiert, ist: Muss ich solche Witze machen? Und: Wenn ich sie bei anderen nicht mag - sind sie vielleicht wirklich nicht lustig?
Sie haben aufgehört mit diesen Witzen?
Ja. Es gibt genug andere lustige Dinge.
Man darf über Zürcher, Katholiken und Bayern lachen, nicht über Juden. Wieso?
Mir ist kein Fall bekannt, wo Zürcher getötet wurden, weil sie Zürcher sind. Man sollte sich fragen: Vor welchem Hintergrund mache ich hier Witze? Das ist ja das Problem mit Lisa Eckhart. Sie macht eindeutig antisemitische Bemerkungen und tut so, als wäre das Humor. Dabei ist es einfach nur ekelhafter Spott. Sie sollte damit nicht auftreten dürfen.
Das Publikum schreit vor Lachen.
Man kann lange darüber diskutieren, warum wir lachen. Für mich ist es jedenfalls kein Beweis dafür, dass die Grundlage tatsächlich witzig ist. Letztlich geht es beim Humor auch um Konsens. Meine Partnerin zum Beispiel kommt aus Deutschland und fand es total doof, als ich anfangs Nazi-Deutsch sprach, weil ich das lustig fand.
Das sind Scherze, die Deutsche in der Schweiz gut kennen.
Ja, und eine frühere deutsche Freundin von mir lachte herzlich darüber. Meine jetzige aber nicht. Das muss ich akzeptieren. Ich kann niemandem diktieren, was er oder sie lustig zu finden hat.
Mich regt es auch immer auf, wenn es heißt, Frauen seien emotionaler, kommunikativer oder die besseren Regierungschefs. Obwohl es ja nett klingt.
Es ist problematisch, weil es das Individuum nicht als Individuum betrachtet, sondern als Vertreter eines Kollektivs. Man spricht ihm das Recht ab, eine Person zu sein. Im Sinne von: „Ich kenne dich. Du gehörst einer Gruppe an, die ich kenne.“
Wie würden Sie Antisemitismus von Sexismus oder Rassismus abgrenzen?
Ich glaube, der Unterschied ist, dass Sexismus und Rassismus eine den anderen entwertende Haltung haben. Der Antisemitismus dagegen hat eine sich selbst entwertende Haltung. Man denkt: Die Juden sind reicher und schlauer und mächtiger als ich. Aber letztlich spielt es keine Rolle, in welche Richtung man hasst.
Wie sieht Ihre jüdische Spiritualität aus?
Die hatte ich nie, ich verstehe Religion grundsätzlich nicht. Ich bin jüdisch, weil meine Mutter jüdisch ist. Ich habe mir das Leben nicht einfacher gemacht, indem ich mich immer wieder geoutet habe. Mittlerweile finde ich aber, es ist wichtig, das zu tun. Und es ist wichtig, Widerstand gegen Diskriminierung zu üben.
Wie bedeutet das konkret?
Man muss ausnahmslos jeden sexistischen, rassistischen und antisemitischen Fehltritt als solchen ansprechen. Auch wenn er „nicht böse gemeint“ ist. Es gibt in meinen Augen eine Bürgerpflicht, andere darauf hinzuweisen, dass das, was sie sagen, nicht in Ordnung ist.
Das mögen viele Leute nicht besonders.
Das stimmt. Aber wenn wir uns von niemandem mehr etwas sagen lassen, können wir den Laden auch dicht machen.
INTERVIEW: CHARLOTTE THEILE
Thomas Meyer: Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?
– Über den Antisemitismus im Alltag. Salis Verlag, Zürich, 2021. 120 Seiten, 18 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer über Alltagsantisemitismus, Nazi-Witze und die Kabarettistin Lisa Eckhart
Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer hat nie physische Gewalt erfahren, weil er Jude ist, aber er wurde oft beleidigt und mit absurden Vorurteilen konfrontiert. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben.
SZ: Herr Meyer, in Ihrem Buch über Antisemitismus heißt es: „Was auch immer Sie von Antisemiten halten: Die meisten von ihnen sind sehr nett.“ Ich bin nicht sicher, ob ich da zustimmen würde.
Thomas Meyer: Vielleicht kann ich es so sagen: Die meisten Menschen sind sehr nett. Und es gibt darunter viele Antisemiten.
Sie leben in Zürich. Hier gibt es eine orthodoxe Community, Kippas und Schläfenlocken gehören mit zum Straßenbild. Von Gewalt gegen Synagogen oder Juden dagegen hört man – anders als in Deutschland – kaum. Warum also dieses Buch?
Weil Antisemitismus nicht nur eine gewalttätige Form hat. Die ist in der Schweiz sehr selten. Die letzten organisierten Übergriffe gegen Juden sind mehrere hundert Jahre her. Auch glauben viele Schweizer: „Wir haben das hier nicht.“
Sie sehen das anders.
Der Antisemitismus in der Schweiz ist vermeintlich harmlos. Ich nenn das gewaltlosen Antisemitismus: Er schlägt nie mit Fäusten zu, aber permanent mit Worten.
Wie sieht gewaltloser Antisemitismus aus?
Der klingt meist sogar freundlich. Etwa: „Ihr Juden habt einen guten Humor.“ Oder: „Schätz mal, wie viel das kostet. Du kannst das sicher, ihr habt ja Geschäftssinn.“
Erleben Sie das oft?
Etwa einmal im Monat, seit Corona zum Glück seltener. Ein Klassiker: Ich sitze mit jemandem im Café, die Rechnung kommt, und ich übernehme den Kaffee des anderen. Dann heißt es gerne mal: „Jetzt bist du aber ein schlechter Jude.“ Denn offenbar laden gute Juden nie jemanden ein. Was auch oft kommt: „Was ihr da mit den Palästinensern macht…“
Ihr?
Genau. Ich mache nichts mit denen. Ich werde als Ansprechperson für die Empörung missbraucht. Natürlich hat Israel ein fragwürdiges politisches Verhalten. Nur hat das nichts mit mir zu tun. Ich bin Schweizer. Wenn jemand darauf beharrt, mir das sagen zu dürfen, frage ich mich schon: Was ist denn mit dir los?
Wie reagieren Sie auf solche Sprüche?
Ich lasse das nicht so stehen. Aber dann setzen die Verteidigungsmechanismen ein. Man will nicht hören, dass man gerade etwas Falsches gesagt hat, etwas, das auch Nazis gesagt haben. Das passt nicht zum Selbstbild. Die Leute werden defensiv.
Das klingt anstrengend.
Ist es auch. Um das eigene Ego zu retten, wird auf einer Meinung beharrt, die verletzend ist. Diese Gespräche enden dann oft bei Sätzen wie: „Ihr Juden seid auch immer gleich so empfindlich.“
Und rechthaberisch?
Auch das hört man. Krasses antisemitisches Klischee. Oder auch: „Also wenn du so reagierst, dann musst du dich nicht wundern über den Antisemitismus.“
Sie haben vor ein paar Jahren einen Roman geschrieben, der die orthodoxe jüdische Szene in Zürich auf die Schippe nimmt: „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“. Ein großer Erfolg, der sogar verfilmt wurde und auf Netflix zu finden ist.
Ich nehme die Orthodoxen weder im Buch noch im Film auf die Schippe.
In der orthodoxen Gemeinschaft in Zürich wird der Roman aber durchaus kritisch gesehen. Ist es nicht so, dass Sie auch mit Klischees spielen?
Doch. Aber ich mache mich an keiner Stelle über Juden lustig. Wenn ich mich über etwas lustig mache, dann über Mütter.
Wurde Ihnen gesagt: Sie sind Jude, Sie dürfen so ein Buch schreiben?
Ja, und das stimmt auch. Ich darf als Jude auch Holocaust- und Nazi-Witze machen und habe das oft getan und so begründet. Aber die Frage, die mich längst mehr interessiert, ist: Muss ich solche Witze machen? Und: Wenn ich sie bei anderen nicht mag - sind sie vielleicht wirklich nicht lustig?
Sie haben aufgehört mit diesen Witzen?
Ja. Es gibt genug andere lustige Dinge.
Man darf über Zürcher, Katholiken und Bayern lachen, nicht über Juden. Wieso?
Mir ist kein Fall bekannt, wo Zürcher getötet wurden, weil sie Zürcher sind. Man sollte sich fragen: Vor welchem Hintergrund mache ich hier Witze? Das ist ja das Problem mit Lisa Eckhart. Sie macht eindeutig antisemitische Bemerkungen und tut so, als wäre das Humor. Dabei ist es einfach nur ekelhafter Spott. Sie sollte damit nicht auftreten dürfen.
Das Publikum schreit vor Lachen.
Man kann lange darüber diskutieren, warum wir lachen. Für mich ist es jedenfalls kein Beweis dafür, dass die Grundlage tatsächlich witzig ist. Letztlich geht es beim Humor auch um Konsens. Meine Partnerin zum Beispiel kommt aus Deutschland und fand es total doof, als ich anfangs Nazi-Deutsch sprach, weil ich das lustig fand.
Das sind Scherze, die Deutsche in der Schweiz gut kennen.
Ja, und eine frühere deutsche Freundin von mir lachte herzlich darüber. Meine jetzige aber nicht. Das muss ich akzeptieren. Ich kann niemandem diktieren, was er oder sie lustig zu finden hat.
Mich regt es auch immer auf, wenn es heißt, Frauen seien emotionaler, kommunikativer oder die besseren Regierungschefs. Obwohl es ja nett klingt.
Es ist problematisch, weil es das Individuum nicht als Individuum betrachtet, sondern als Vertreter eines Kollektivs. Man spricht ihm das Recht ab, eine Person zu sein. Im Sinne von: „Ich kenne dich. Du gehörst einer Gruppe an, die ich kenne.“
Wie würden Sie Antisemitismus von Sexismus oder Rassismus abgrenzen?
Ich glaube, der Unterschied ist, dass Sexismus und Rassismus eine den anderen entwertende Haltung haben. Der Antisemitismus dagegen hat eine sich selbst entwertende Haltung. Man denkt: Die Juden sind reicher und schlauer und mächtiger als ich. Aber letztlich spielt es keine Rolle, in welche Richtung man hasst.
Wie sieht Ihre jüdische Spiritualität aus?
Die hatte ich nie, ich verstehe Religion grundsätzlich nicht. Ich bin jüdisch, weil meine Mutter jüdisch ist. Ich habe mir das Leben nicht einfacher gemacht, indem ich mich immer wieder geoutet habe. Mittlerweile finde ich aber, es ist wichtig, das zu tun. Und es ist wichtig, Widerstand gegen Diskriminierung zu üben.
Wie bedeutet das konkret?
Man muss ausnahmslos jeden sexistischen, rassistischen und antisemitischen Fehltritt als solchen ansprechen. Auch wenn er „nicht böse gemeint“ ist. Es gibt in meinen Augen eine Bürgerpflicht, andere darauf hinzuweisen, dass das, was sie sagen, nicht in Ordnung ist.
Das mögen viele Leute nicht besonders.
Das stimmt. Aber wenn wir uns von niemandem mehr etwas sagen lassen, können wir den Laden auch dicht machen.
INTERVIEW: CHARLOTTE THEILE
Thomas Meyer: Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein?
– Über den Antisemitismus im Alltag. Salis Verlag, Zürich, 2021. 120 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de