Von Abendlied bis Zahlenteufel:100 Werke, die man kennen mussSeit Jahren wird bis zum Überdruss über Strukturen und Formendes Lernens gestritten. Das geht aber am Kern der Sache vorbei, erklärt Thomas Kerstan, Bildungsredakteur der ZEIT. Stattdessen muss wieder über die Inhalte diskutiert werden. Kerstan begreift Bildung als den Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält: Indem wir uns über das verständigen, was wissenswert ist, definieren wir zugleich die Leitplanken unseres Zusammenlebens.Hundert Werke, die unsere Kinder - und nicht nur die - kennen müssen, stellt Thomas Kerstan kurz und unterhaltsam vor. Hundert Werke aus Musik, Mathematik und Malerei, aus Literatur und Naturwissenschaft, aus Geschichte, Philosophie und Politik. Bücher sind ebenso darunter wie Filme, TV-Serien, Songs, Gemälde oder Fotos.Mit seinem Kanon öffnet Thomas Kerstan den Blick für die Breite der Allgemeinbildung. Er will dazu inspirieren, sich einmal auf die Relativitätstheorie einzulassen, ein Computerspiel kennenzulernen oder die Geschichte unseres Landes aus anderen Blickwinkeln zu entdecken. Oder ganz allgemein: Wissenslücken zu schließen. Und er lädt dazu ein, in Schulen, der Familie und mit Freunden darüber zu diskutieren, welche Bildung uns wichtig ist und was wir für eine gute Zukunft wissen müssen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2018Alibifrauen
Thomas Kerstans Bildungskanon
Kein Zufall, dass sich Thomas Kerstan überschwänglich für die „engagierte, sachkundige und streitlustige“ Arbeit seiner Lektorin bedankt. Die Frau muss ganz schön gelitten haben. Auf gut 200 Seiten exemplifiziert der langjährige Zeit-Redakteur „Was unsere Kinder wissen müssen“. Dabei bleiben die Herren unter sich. Genau acht von hundert Positionen in Kerstans „Kanon für das 21. Jahrhundert“ sind weiblich besetzt. Das nennt man eine patriarchale Veranstaltung comme il faut und eine vertane Chance. Das verzopfte Konzept beruht auf der Annahme, dass die „stilprägenden, typischen, populären Werke der Vergangenheit vorwiegend von Männern stammen“. Ob diese Einschätzung etwas mit Wahrnehmungsmustern zu tun hat, interessiert Kerstan nicht. Klar aber ist: Wenn James Joyce zu den Top 100 zählt, darf Virginia Woolf nicht fehlen; Hilary Mantels historistische Erzählkunst kann es durchaus mit Stefan Zweigs Biografistik aufnehmen; und ob Chuck Berry wirklich bedeutender war als Ella Fitzgerald, darüber lässt sich trefflich streiten.
Selbst die Auswahl aus dem männlichen Werkkosmos, die auch bei den Lesern der Zeit eine erregte Debatte auslöste, wirkt recht beliebig. Bahnbrechende Filme wie Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltall“ oder „Blade Runner“ werden zugunsten gehobener Unterhaltungserzeugnisse wie Oliver Stones „Wall Street“ unterschlagen. Zudem klaffen in der Gesamtarchitektur erstaunliche Lücken. Keine Spur von Baukunst, Tanz oder Mode – muss man über Palladio, Ballett und Coco Chanel im 21. Jahrhunderts so gar nichts wissen?
Immerhin gliedert der Autor seine Hitliste angenehm übersichtlich in ästhetische, sprachliche, historische und mathematisch-naturwissenschaftliche Kategorien und stellt die Werke bündig vor. Aber da er nun mal digital sozialisierte Millennials für analoges Wissen begeistern will, hätten mehr Pfiff und weniger Paternalismus nicht geschadet.
DORION WEICKMANN
Thomas Kerstan: Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert. Edition Körber, Hamburg 2018. 256 Seiten, 20 Euro.
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Thomas Kerstans Bildungskanon
Kein Zufall, dass sich Thomas Kerstan überschwänglich für die „engagierte, sachkundige und streitlustige“ Arbeit seiner Lektorin bedankt. Die Frau muss ganz schön gelitten haben. Auf gut 200 Seiten exemplifiziert der langjährige Zeit-Redakteur „Was unsere Kinder wissen müssen“. Dabei bleiben die Herren unter sich. Genau acht von hundert Positionen in Kerstans „Kanon für das 21. Jahrhundert“ sind weiblich besetzt. Das nennt man eine patriarchale Veranstaltung comme il faut und eine vertane Chance. Das verzopfte Konzept beruht auf der Annahme, dass die „stilprägenden, typischen, populären Werke der Vergangenheit vorwiegend von Männern stammen“. Ob diese Einschätzung etwas mit Wahrnehmungsmustern zu tun hat, interessiert Kerstan nicht. Klar aber ist: Wenn James Joyce zu den Top 100 zählt, darf Virginia Woolf nicht fehlen; Hilary Mantels historistische Erzählkunst kann es durchaus mit Stefan Zweigs Biografistik aufnehmen; und ob Chuck Berry wirklich bedeutender war als Ella Fitzgerald, darüber lässt sich trefflich streiten.
Selbst die Auswahl aus dem männlichen Werkkosmos, die auch bei den Lesern der Zeit eine erregte Debatte auslöste, wirkt recht beliebig. Bahnbrechende Filme wie Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltall“ oder „Blade Runner“ werden zugunsten gehobener Unterhaltungserzeugnisse wie Oliver Stones „Wall Street“ unterschlagen. Zudem klaffen in der Gesamtarchitektur erstaunliche Lücken. Keine Spur von Baukunst, Tanz oder Mode – muss man über Palladio, Ballett und Coco Chanel im 21. Jahrhunderts so gar nichts wissen?
Immerhin gliedert der Autor seine Hitliste angenehm übersichtlich in ästhetische, sprachliche, historische und mathematisch-naturwissenschaftliche Kategorien und stellt die Werke bündig vor. Aber da er nun mal digital sozialisierte Millennials für analoges Wissen begeistern will, hätten mehr Pfiff und weniger Paternalismus nicht geschadet.
DORION WEICKMANN
Thomas Kerstan: Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert. Edition Körber, Hamburg 2018. 256 Seiten, 20 Euro.
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