Eine Dreiecksbeziehung in Künstlerkreisen der 20er Jahre, eine bürgerliche Ehe zur Nazizeit, eine moderne Beziehungsgeschichte - ein berührender Roman über das Leben und die Liebe in bewegten Zeiten
Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz am Bauhaus des Ruhrgebiets, der heutigen Folkwangschule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora - und auf sich selbst.
Ein ergreifender Roman über die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration sich im eigenen Leben zu verankern und eine faszinierende Spurensuche, in der sich die Leserinnen und Leser immer wieder selbst begegnen.
Großmutter und Enkelin - und ein ganzes Jahrhundert in Deutschland
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Isa steckt in einer Ehekrise. Tief verletzt flüchtet sie an den Bodensee. Im Gepäck alte Briefe und Tagebücher ihrer rätselhaften Großmutter Dora. Um den Schmerz zu verdrängen, befasst sie sich mit deren Geschichte: Dora studierte in den 1920er Jahren zusammen mit dem Bergarbeitersohn Frantek und der extravaganten Maritz am Bauhaus des Ruhrgebiets, der heutigen Folkwangschule. Aus einer intensiven Freundschaft entsteht ein Liebesdreieck. Später heiratet Dora einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben. Gesprochen wurde darüber in Isas Familie kaum. Welche Rolle spielte Isas Großvater im Zweiten Weltkrieg? Und warum besuchte ihr Vater eine der berüchtigten Napola-Schulen? Je tiefer Isa in ihre Familiengeschichte vordringt, umso klarer wird ihr Blick auf Dora - und auf sich selbst.
Ein ergreifender Roman über die Schwierigkeit der Kriegsenkelgeneration sich im eigenen Leben zu verankern und eine faszinierende Spurensuche, in der sich die Leserinnen und Leser immer wieder selbst begegnen.
Großmutter und Enkelin - und ein ganzes Jahrhundert in Deutschland
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2021Jedem Erzählen wohnt die Fälschung inne
Anja Hirschs Debütroman "Was von Dora blieb" taucht in die Abgründe einer Familie ein
"Dieses Buch ist ein Roman", beteuert Anja Hirsch in der Nachbemerkung zu ihrem Debüt, und sie fährt fort: "Als literarisches Werk knüpft es in einzelnen Passagen an reale Geschehen und an Personen der Zeitgeschichte an. Es verbindet Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen und schafft so eine ästhetisch neue, künstlerisch überhöhte Wirklichkeit."
Die Literaturkritikerin Anja Hirsch, 1969 in Frankfurt geboren, heute in Unna lebend, erzählt eine Familiengeschichte auf zwei Ebenen. Sie beginnt 1914 mit ihrer Großmutter Dora und schildert kapitelweise abwechselnd die Bemühungen der Enkelin Isa im Jahr 2014 am Bodensee, wohin sie sich wegen eines Ehezwistes zurückgezogen hat, die Dokumente ihrer Großeltern und ihres Vaters nachzuvollziehen. Isa ist eine "Kriegsenkelin", die die Leerstellen der Vergangenheit aufhellen und verstehen möchte, teils mithilfe realer Dokumente, teils mit ihrer Fantasie. Als anregendes Bild steht der Ich-Erzählerin eine kurze, aber eindrückliche Szene aus dem Dokumentarfilm "Die Frau mit den fünf Elefanten" über Leben und Arbeit der großen Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier vor Augen. Die alte Dame betrachtet ein Stück Stoff, streicht liebevoll darüber und sinniert dabei: "Auch beim Übersetzen macht man erst Gewebe kaputt, dann füllt man es wieder aus."
Dieses Bild nimmt die Ich-Erzählerin als Anregung für ihren Roman: "Ich war zu einer Art Übersetzerin geworden. Ich übersetzte meine Familiengeschichte und machte dabei Gewebe kaputt. Ich zerstörte die Vorstellungen, die ich anfänglich über alle hatte; über Dora, die ich mir gern mondän und kreativ vorstellte, über meinen Vater, den ich so sah, wie es mir in den Kram passt. Danach begann ich auszufüllen: Dora mit den zuvor verborgenen Stellen ihres Charakters. Und auch mein Vater erhielt allmählich Profil."
Beim Eintauchen in die Lebensläufe der Familienmitglieder spürt Isa immer heftiger, dass die ganze Kriegsgeneration traumatisiert wurde. Die Großmutter Dora war in den zwanziger Jahren eine aufgeweckte junge Frau, die nicht Hauswirtschaft betreiben wollte, sondern sich von der Gegenwartskunst angezogen fühlte. Sie besuchte die Kunstgewerbeschule in Essen, die spätere Folkwangschule. Zusammen mit ihrem Jugendfreund Frantek, einem Bergarbeitersohn, will sie sich eine moderne Welt erobern. In Essen lernt Dora die Mitstudentin Maritz kennen, die keck und unkonventionell ihr Leben und die Kunst herausfordert. Es kommt zu einer Dreiecksfreundschaft, sie lernen Oskar Kokoschka kennen und lassen sich hinreißen von Paul Hindemiths Einakter "Nusch-Nuschi", der in Essen aufgeführt wird.
Die lichten Jahre der Freundschaft verdunkeln sich, als Dora erfahren muss, das Maritz von ihrem besten Freund Frantek ein Kind erwartet. Dora verlässt das Kunstinstitut und schlägt einen Weg ein, den sie nie gehen wollte; sie lernt Hauswirtschaft und verheiratet sich mit einem gutbürgerlichen Mann, der später Verwaltungsdirektor bei der IG Farben wird. Viele Jahre danach, erst während des Krieges, wird die alte Freundschaft neu geknüpft. Frantek ist tot, er hat sich der Opposition gegen Hitler angeschlossen und ist ermordet worden.
Dora ist nicht mehr die mondäne, eigenwillige Frau, sie wird wohlsituierte Mutter und schickt ihren ältesten Sohn auf ein Napola-Internat, eine Eliteschule der Nazis. Hier beginnt ein zweiter Strang der Erinnerungen: Warum wurde Isas Vater auf diese Schule geschickt, was vermerkt er als Junge darüber in seinem Tagebuch, warum wurde all dies in der Familie verschwiegen? Und was war mit dem Großvater, der in leitender Position bei der IG Farben tätig war, was wusste er von den Verstrickungen der Firma mit der Tötungsmaschinerie von Auschwitz, wie verlief sein Entnazifizierungsverfahren? Statt Klarheit tun sich immer mehr bedrohliche Fragen auf.
Isa diskutiert ihre Recherchen mit einem Nachbarn im Bodensee-Asyl. Sie liest Bücher von anderen Kriegskindern und fragt sich, was deren Motivation war, sich ihren Familiengeschichten zu stellen? Und was sparten sie aus? Ihr Fazit: "Es gab die Besessenen, die Fakten türmten. Sie taten so, als diene jedes Detail der Wahrheitsfindung, und sicher war auch ich in Gefahr, mich in Details zu verlieren, unter denen der Schmerz der Opfer zu verschwinden drohte. Es gab die Fantasten, die ihre Fiktionen trotz der offensichtlichen Fantasterei als Wahrheiten präsentierten, ohne dabei kenntlich zu machen, dass Erzählen und Erinnern immer schon Fälschung beinhaltete. Es gab die Missionarischen, die Quellen zitierten, um anderen Recherchewerkzeuge an die Hand zu geben. Es gab die hochmütigen Deuter, die so taten, als wäre alles, was geschehen war, 'schicksalhaft' - und sich damit jeglicher Verantwortung entzogen." Isa gesteht sich ein, sie habe von dem allem etwas.
Ihr eigenes Leben verlief außer Beziehungsproblemen ereignislos. Es bedarf des Echoraums der Familie, um die Beziehungen zu den Vorfahren emotional zu erforschen, zu klären, warum sie so waren, wie sie waren, und wie sich darauf für die nachfolgende Generation ein überzeugtes und überzeugendes eigenes Dasein aufbauen lässt. Anja Hirsch versteht es, ohne Pathos oder Sentimentalität, Zeit- und Familiengeschichte in deren Höhenflügen und Abstürzen lebensnah und spannungsvoll zu verdichten.
LERKE VON SAALFELD.
Anja Hirsch: "Was von Dora blieb". Roman. C. Bertelsmann Verlag, München 2021. 335 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Anja Hirschs Debütroman "Was von Dora blieb" taucht in die Abgründe einer Familie ein
"Dieses Buch ist ein Roman", beteuert Anja Hirsch in der Nachbemerkung zu ihrem Debüt, und sie fährt fort: "Als literarisches Werk knüpft es in einzelnen Passagen an reale Geschehen und an Personen der Zeitgeschichte an. Es verbindet Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen und schafft so eine ästhetisch neue, künstlerisch überhöhte Wirklichkeit."
Die Literaturkritikerin Anja Hirsch, 1969 in Frankfurt geboren, heute in Unna lebend, erzählt eine Familiengeschichte auf zwei Ebenen. Sie beginnt 1914 mit ihrer Großmutter Dora und schildert kapitelweise abwechselnd die Bemühungen der Enkelin Isa im Jahr 2014 am Bodensee, wohin sie sich wegen eines Ehezwistes zurückgezogen hat, die Dokumente ihrer Großeltern und ihres Vaters nachzuvollziehen. Isa ist eine "Kriegsenkelin", die die Leerstellen der Vergangenheit aufhellen und verstehen möchte, teils mithilfe realer Dokumente, teils mit ihrer Fantasie. Als anregendes Bild steht der Ich-Erzählerin eine kurze, aber eindrückliche Szene aus dem Dokumentarfilm "Die Frau mit den fünf Elefanten" über Leben und Arbeit der großen Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier vor Augen. Die alte Dame betrachtet ein Stück Stoff, streicht liebevoll darüber und sinniert dabei: "Auch beim Übersetzen macht man erst Gewebe kaputt, dann füllt man es wieder aus."
Dieses Bild nimmt die Ich-Erzählerin als Anregung für ihren Roman: "Ich war zu einer Art Übersetzerin geworden. Ich übersetzte meine Familiengeschichte und machte dabei Gewebe kaputt. Ich zerstörte die Vorstellungen, die ich anfänglich über alle hatte; über Dora, die ich mir gern mondän und kreativ vorstellte, über meinen Vater, den ich so sah, wie es mir in den Kram passt. Danach begann ich auszufüllen: Dora mit den zuvor verborgenen Stellen ihres Charakters. Und auch mein Vater erhielt allmählich Profil."
Beim Eintauchen in die Lebensläufe der Familienmitglieder spürt Isa immer heftiger, dass die ganze Kriegsgeneration traumatisiert wurde. Die Großmutter Dora war in den zwanziger Jahren eine aufgeweckte junge Frau, die nicht Hauswirtschaft betreiben wollte, sondern sich von der Gegenwartskunst angezogen fühlte. Sie besuchte die Kunstgewerbeschule in Essen, die spätere Folkwangschule. Zusammen mit ihrem Jugendfreund Frantek, einem Bergarbeitersohn, will sie sich eine moderne Welt erobern. In Essen lernt Dora die Mitstudentin Maritz kennen, die keck und unkonventionell ihr Leben und die Kunst herausfordert. Es kommt zu einer Dreiecksfreundschaft, sie lernen Oskar Kokoschka kennen und lassen sich hinreißen von Paul Hindemiths Einakter "Nusch-Nuschi", der in Essen aufgeführt wird.
Die lichten Jahre der Freundschaft verdunkeln sich, als Dora erfahren muss, das Maritz von ihrem besten Freund Frantek ein Kind erwartet. Dora verlässt das Kunstinstitut und schlägt einen Weg ein, den sie nie gehen wollte; sie lernt Hauswirtschaft und verheiratet sich mit einem gutbürgerlichen Mann, der später Verwaltungsdirektor bei der IG Farben wird. Viele Jahre danach, erst während des Krieges, wird die alte Freundschaft neu geknüpft. Frantek ist tot, er hat sich der Opposition gegen Hitler angeschlossen und ist ermordet worden.
Dora ist nicht mehr die mondäne, eigenwillige Frau, sie wird wohlsituierte Mutter und schickt ihren ältesten Sohn auf ein Napola-Internat, eine Eliteschule der Nazis. Hier beginnt ein zweiter Strang der Erinnerungen: Warum wurde Isas Vater auf diese Schule geschickt, was vermerkt er als Junge darüber in seinem Tagebuch, warum wurde all dies in der Familie verschwiegen? Und was war mit dem Großvater, der in leitender Position bei der IG Farben tätig war, was wusste er von den Verstrickungen der Firma mit der Tötungsmaschinerie von Auschwitz, wie verlief sein Entnazifizierungsverfahren? Statt Klarheit tun sich immer mehr bedrohliche Fragen auf.
Isa diskutiert ihre Recherchen mit einem Nachbarn im Bodensee-Asyl. Sie liest Bücher von anderen Kriegskindern und fragt sich, was deren Motivation war, sich ihren Familiengeschichten zu stellen? Und was sparten sie aus? Ihr Fazit: "Es gab die Besessenen, die Fakten türmten. Sie taten so, als diene jedes Detail der Wahrheitsfindung, und sicher war auch ich in Gefahr, mich in Details zu verlieren, unter denen der Schmerz der Opfer zu verschwinden drohte. Es gab die Fantasten, die ihre Fiktionen trotz der offensichtlichen Fantasterei als Wahrheiten präsentierten, ohne dabei kenntlich zu machen, dass Erzählen und Erinnern immer schon Fälschung beinhaltete. Es gab die Missionarischen, die Quellen zitierten, um anderen Recherchewerkzeuge an die Hand zu geben. Es gab die hochmütigen Deuter, die so taten, als wäre alles, was geschehen war, 'schicksalhaft' - und sich damit jeglicher Verantwortung entzogen." Isa gesteht sich ein, sie habe von dem allem etwas.
Ihr eigenes Leben verlief außer Beziehungsproblemen ereignislos. Es bedarf des Echoraums der Familie, um die Beziehungen zu den Vorfahren emotional zu erforschen, zu klären, warum sie so waren, wie sie waren, und wie sich darauf für die nachfolgende Generation ein überzeugtes und überzeugendes eigenes Dasein aufbauen lässt. Anja Hirsch versteht es, ohne Pathos oder Sentimentalität, Zeit- und Familiengeschichte in deren Höhenflügen und Abstürzen lebensnah und spannungsvoll zu verdichten.
LERKE VON SAALFELD.
Anja Hirsch: "Was von Dora blieb". Roman. C. Bertelsmann Verlag, München 2021. 335 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Lerke von Saalfeld hält Anja Hirschs Zeit- und Familiengeschichte für gelungen. Vor allem gefällt ihr der Umstand, dass die Autorin ohne Pathos auskommt, wenn sie ihre Erzählerin aus Familiendokumenten die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern im Zweiten Weltkrieg rekonstruieren lässt, die Wendepunkte und Verstrickungen in Schuld. Wie Hirsch unterschiedliche Erzählstränge kombiniert und verdichtet und die Gegenwart der Erzählerin in ihrem Bodenseerefugium hineinschneidet, findet Saalfeld überzeugend gemacht und lebendig und spannend zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Anja Hirsch versteht es, ohne Pathos oder Sentimentalität, Zeit- und Familiengeschichte in deren Höhenflügen und Abstürzen lebensnah und spannungsvoll zu verdichten.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, Lerke von Saalfeld