Der Überraschungserfolg aus Brasilien - eine umwerfende Vater-Sohn-Geschichte
"Vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Geschichte Brasiliens zeichnet der Autor José Henrique Bortoluci das Leben seines Vaters nach, der als Lkw-Fahrer tätig war. Gleichzeitig analysiert er seinen eigenen Weg als Aufsteiger in eine andere soziale Klasse. Ein großartiges Buch." DIDIER ERIBON
Was der Familie bleibt, sind nur zwei Postkarten und ein paar vergilbte Rechnungen. Fünfzig Jahre lang hat Didi, der Vater von José Henrique Bortoluci, als LKW-Fahrer in Brasilien gearbeitet und Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt, immer auf der Straße, immer allein, weit weg von der Familie. In diesem Buch lässt Bortoluci seinen Vater erstmals von seinen Erlebnissen erzählen. Er schafft das Porträt eines einfachen Mannes, der den Bau der Transamazônica, die Abholzung des Regenwalds, den rasanten Ausbau des Landes und die Spuren des vermeintlichen Fortschritts erlebt hat. Die Strecke, die Didi mit dem LKW zurücklegt, ist dabei auch die Kluft, die sich zwischen seinem Leben und dem seines Sohnes, dem der soziale Aufstieg gelingt, auftut. Eine berührende Hommage an die Beziehung von Vater und Sohn, und an ein Leben, das bleibt.
»Eine herausragende Geschichte über Männlichkeit, Vaterschaft und über den sozialen Aufstieg von Bortoluci, dem Sohn von Eltern, die keinen Zugang zu Bildung hatten.« Folha de S. Paulo
"Vor dem Hintergrund der sozialen und politischen Geschichte Brasiliens zeichnet der Autor José Henrique Bortoluci das Leben seines Vaters nach, der als Lkw-Fahrer tätig war. Gleichzeitig analysiert er seinen eigenen Weg als Aufsteiger in eine andere soziale Klasse. Ein großartiges Buch." DIDIER ERIBON
Was der Familie bleibt, sind nur zwei Postkarten und ein paar vergilbte Rechnungen. Fünfzig Jahre lang hat Didi, der Vater von José Henrique Bortoluci, als LKW-Fahrer in Brasilien gearbeitet und Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt, immer auf der Straße, immer allein, weit weg von der Familie. In diesem Buch lässt Bortoluci seinen Vater erstmals von seinen Erlebnissen erzählen. Er schafft das Porträt eines einfachen Mannes, der den Bau der Transamazônica, die Abholzung des Regenwalds, den rasanten Ausbau des Landes und die Spuren des vermeintlichen Fortschritts erlebt hat. Die Strecke, die Didi mit dem LKW zurücklegt, ist dabei auch die Kluft, die sich zwischen seinem Leben und dem seines Sohnes, dem der soziale Aufstieg gelingt, auftut. Eine berührende Hommage an die Beziehung von Vater und Sohn, und an ein Leben, das bleibt.
»Eine herausragende Geschichte über Männlichkeit, Vaterschaft und über den sozialen Aufstieg von Bortoluci, dem Sohn von Eltern, die keinen Zugang zu Bildung hatten.« Folha de S. Paulo
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
"Eine brasilianische Sozialgeschichte" erzählt dieses Buch, das José Henrique Bortoluci über seinen Vater geschrieben hat, konstatiert Kritikerin Katharina Teutsch: Sein Vater war fünfzig Jahre lang Fernfahrer, unter anderem auf der Transamazonas-Route, die als nationalistisch-kolonialistisch geprägtes Großprojekt dargestellt wird. Bortolucis Text erinnert Teutsch in seiner autofiktionalen Ausprägung an Tove Ditlevsen und Didier Eribon, an manchen Stellen sind ihr die Bezüge zu Susan Sontag und Bertolt Brecht aber zu explizit. Ansonsten aber ein "taktvolles Buch" für die Rezensentin, das von gegenseitigem Respekt getragen wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.07.2024Als die Trucks den Urwald teilten
Von Elena Witzeck
Wer einmal in Brasilien gereist ist, weiß von der Weite des Landes, den schier unendlichen Landschaften und plötzlich auftauchenden natürlichen Grenzen; kennt womöglich das Gefühl, am Fenster eines Reisebusses zu sitzen, mit Blick auf überwältigende Orte, während es im Schritttempo eine unbefestigte Straße entlanggeht; hat gelernt: bloß nie die Entfernungen, den Eigensinn dieser wilden Natur unterschätzen. Und dafür muss man noch nicht einmal in die Nähe der Amazonasregion gekommen sein.
In den Sechzigern entstand ein gewagtes Projekt mitten im Dschungel, die Transamazônica, eine Straße, die auf 4000 Kilometern Asphalt Atlantik und Pazifik verbinden sollte, bis zur Grenze Perus. Zu diesem Projekt gehörte der Plan, den Urwald im Dienst des Kapitals nutzbar zu machen, für Minen, Weideflächen, Kraftwerke abzuholzen, gewissermaßen zu kolonisieren, bevor es andere taten. Zu den zahllosen Arbeitern, die daran mitwirkten, gehörten auch viele Lkw-Fahrer, die unter hohen Risiken über Tausende Kilometer Material transportierten, im Schlamm und in Schlaglöchern stecken blieben, die Nächte durch fuhren und sich mit Speed oder Kokain wachhielten.
Um einen dieser Männer geht es in José Henrique Bortolucis Buch "Was von meinem Vater bleibt". Bortoluci hat im Coronajahr 2021 angefangen, seinen Vater zu interviewen und dessen Geschichte aufzuschreiben, die zugleich eine Geschichte über die brasilianische Arbeiterklasse ist, über die radikale Expansion dieser Zeit. Das Buch hat in Brasilien viele Leser gefunden, was grundsätzlich schon etwas Besonderes ist in einem Land, in dem Lesen immer noch als Luxus gilt, den man sich leisten können muss. Die perfekt temperierten Buchhandlungen in den Millionenstädten erzählen davon. Bortolucis internationaler Erfolg ist auch deshalb etwas Besonderes, weil es sich bei seinem Buch nicht um einen Krimi im Stil Patrícia Melos handelt, nicht um poetische Introspektive in der Tradition Clarice Lispectors, sondern um eine Art Memoir mit Theorieansatz, das voller harter Urteile über sein Land und die Vorstellung von unbegrenztem Wachstum steckt.
Man kann den Soziologen Bortoluci, geboren im Jahr 1984, als Brasilien seine Demokratie nach Jahren der Militärdiktatur wiederbekam, auf seiner Lesereise durch Europa treffen, zum Beispiel in Leipzig. Er wartet schon vor seinem Hotel und raucht und sieht dabei drahtig und unbescholten aus, um ihn herum Bildschirme und Hinweise auf das nächste EM-Spiel. Für Fußball interessiert sich Bortoluci aber gar nicht, dafür umso mehr für Sprache, wie er sagt. Sitzt ein paar Minuten später in einem Café vor einem Stück Nusskuchen, spricht ein freundliches amerikanisches Englisch, zitiert Roland Barthes und Annie Ernaux. In den letzten Monaten hat er in Paris gelebt, Französisch kann er auch. Für sein Buch hat Bortoluci Dialekt und Sprachrhythmus seines Vaters, der in längeren Passagen zu Wort kommt, akribisch verschriftlicht, was auf Portugiesisch sehr authentisch, in der Übersetzung vor allem engagiert klingt: "Von Nestor weiß ich auch, wie man auf dem Lkw-Auspuff grillt. Oben auf der Auspuffanlage sitzt eine Platte, die glühend heiß wird. (...) Wenn man da morgens oben drauf ein Stück Fleisch festgebunden hat, ist es mittags, wenn man angehalten hat, durch gewesen. Und das schmeckt lecker, richtig lecker."
Dieser Bortoluci senior also, genannt Didi, ist der abwesende Vater, der seinem Sohn sagenhafte Geschichten von der Straße mitbringt, von Riesenvögeln im Urwald und Schafsböcken, die per Anhalter mitfahren, der aber auch die ganze Last der Arbeiterklasse mit auf seine Reisen nimmt. 1943 wird er als fünftes Kind in einer ländlichen Gegend von São Paulo geboren. Seine Schulzeit ist nach vier Jahren vorbei, von da an arbeitet er, erst auf dem Bauernhof der Familie, dann, von 22 an, als Fernfahrer. Er hilft, den Flughafen von Manaus mitzubauen, das Atomkraftwerk in Angra dos Reis, die gewaltigen Symbole der brasilianischen Wirtschaftskraft. Fährt nächtelang durch, wenn eine Fracht sonst verderben würde. Raucht und hört laut Musik, um nicht einzuschlafen und gegen einen Baum zu fahren. Auf einem Abschnitt der Transamazônica geht es 500 Kilometer schnurgerade dahin, "ein Waldtunnel ohne Tankstelle oder irgendein Dorf oder irgendwas auf dem Weg". Glaubt an Kameradschaft und die Sünde der Faulheit.
Mit Ende 40 erkrankt Bortoluci senior schwer, investiert aber weiter in seine Fahrzeuge, sieht dabei zu, wie sein Verdienst von Wartungskosten und Treibstoff verschluckt wird, und gibt die Hoffnung auf finanzielle Sicherheit nicht auf, eine Hoffnung, die schon die europäischen Großeltern mitbrachten, die sich als Bauern in Brasilien niederließen und statt eines Neuanfangs ein von Rassismus und Patriarchat beherrschtes Leben bekamen, wie Bortoluci gnadenlos schreibt. Denn waren es nicht sie, die die Arbeitskraft von Sklaven ersetzten, zwar wegen ihrer Hautfarbe unter etwas besseren Bedingungen als die Nachkommen von Indigenen oder versklavten Afrikanern, aber natürlich ohne Chancen, die "Hierarchie der Herkunft" zu durchbrechen?
Es ist eine bemerkenswerte Perspektive auf Brasilien, dieses vom Stolz auf kulturelle Vielfalt, Toleranz und dem Glauben an Meritokratie getragene Land. Zumal von einem, der am Ende doch profitiert hat, der als Kind die mit der neuen Verfassung im Jahr 1988 geschaffenen Veränderungen zu spüren bekommen hat, dessen Generation für eine Weile die Chancen, den langsamen und stetigen Fortschritt in den sozialen Bedingungen erlebte und der jetzt mit Nusskuchen in Leipzig sitzt. Bortoluci war ein guter Schüler, ein eifriger Sammler von Stipendien, Spitzenplätzen bei Wettbewerben und Ehrenurkunden, und sein Erfolg war, wie er sagt, ein Familienprojekt.
Und obwohl Bortoluci immer wieder den persönlichen Ansatz seiner Geschichte betont, das Bedürfnis, seinem später auch noch an Krebs erkrankten Vater eine Stimme zu geben, seinen Soziologenblick abzulegen, so liefert er in seinem Buch doch die nötigen Einordnungen, um die Tragweite dieser Geschichte des unermüdlichen Strebens eines ganzen Landes zu verstehen, eines Strebens nach Straßen und Stadien, nach Geschwindigkeit, nach Kaufkraft und Kapital.
20 Prozent des Amazonasgebietes sind seit 1970 mithilfe der "Straße von meinem Papa", wie Bortoluci die Transamazônica als Kind nannte, zerstört worden. Besonders zügig gingen die Rodungen und Vertreibungen während des Militärregimes voran, die Auslöschung jahrhundertealter Kulturen, die Errichtung von Städten im Regenwald, die heute mehr Anteil an der globalen Erwärmung haben als ganz Chile, dazu mehr Armut und eine größere Ungleichheit als in jeder anderen Region in Brasilien. Diese Zerstörung brachte noch nicht einmal eine Verbesserung der Lebensqualität. Der Tod von mehr als 8000 Bewohnern in der Amazonasregion während dieser Jahre wurde wie viele andere Grausamkeiten nach dem Ende der Diktatur verdrängt. Bortoluci spricht vom "Schmerz des Fortschritts", den die Brasilianer lange Jahre bereitwillig akzeptierten. "Frag einen Brasilianer, ob ihm der Amazonas wichtig ist. Natürlich wird er ja sagen."
Die Abzweigung von der Fernstraße seines Vaters in die dunklen Gegenden des Regenwaldes, die wenig beleuchteten Erinnerungen an Willkürherrschaft und Gier, seien bloß Nebenschauplatz seiner Geschichte, sagt Bortoluci. Aber einer, dessen Protagonisten, dessen Gewinner und Verlierer einen so schnell nicht mehr loslassen, vor allem wenn man die Rolle der Region für die globale Klimaregulierung kennt, die Verbindungen, die sich aus den Jahren der Massenrodungen auch in Richtung Europa ergaben.
Und noch etwas zeigt der Soziologe Bortoluci beiläufig: das Trauma einer globalen Pandemie unter einem Präsidenten, der nicht an die Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit glaubt, die Jahre, in denen sich viele Brasilianer ihrer Regierung gänzlich ausgeliefert fühlten. Das Schreiben, sagt Bortoluci, sei in dieser Zeit sein Schrei der Verzweiflung gewesen. Am Ende einer Saison der Brände im Amazonasgebiet wölbte sich eine riesige dunkle Wolke über São Paulo, für den Autor und viele andere eine Allegorie auf die Zerstörung des Urwalds, auf ein "Meer an Müllhalden, das ganze Dörfer wegspült, die Quecksilbervergiftung der indigenen Völker des Amazonas und eine Präsidentschaftswahl, die aus jeder Form von Tragödie einen Grund zum Feiern machte".
Das war 2023. Inzwischen regiert ein anderer Präsident. Als Bortoluci mit seiner Vater-Geschichte fertig war, wurde Lula da Silva gewählt, Vertreter der Linken, dem in seiner langen Präsidentenkarriere schon viel vorgeworfen wurde, der auch wegen Korruptionsverdachts im Gefängnis saß, in dessen Regierungsphasen aber die Abholzung des Regenwaldes reduziert wurde. Die Hoffnung war zurück, zumindest das zu erhalten, was noch vom Regenwald übrig ist.
Was die Lage der Menschen im Land angeht, ist Bortoluci weniger hoffnungsvoll. Seine Studenten in São Paulo ähneln der europäischen Jugend in ihrem Fatalismus, der Erkenntnis, dass die Zeit, in der es scheinbar immer weiter bergauf ging, vorüber ist. In einem Land, in dem die Ressourcen vermeintlich unendlich sind, die Landschaft so überwältigend, die Idee von unbegrenztem Wachstum so tief verwurzelt ist, werden die Klimatrauer, der Schmerz über das Ende des Wachstums, das "Gift der Ungleichheit" jetzt besonders spürbar. Zu diesen Erkenntnissen trägt Bortolucis Vater-Geschichte bei. Sie dokumentiert die Veränderung. Aber sie öffnet auch neue Räume.
Der Autor jedenfalls hat nicht vor, noch länger in Europa zu bleiben. Er will jetzt zurück zu seiner Familie, in sein weites Land, weiter arbeiten, in der Hoffnung, dass etwas besser wird. Wie vor ihm sein Vater.
José Henrique Bortoluci: "Was von meinem Vater bleibt". Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. Aufbau Verlag, 175 Seiten, 20 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Von Elena Witzeck
Wer einmal in Brasilien gereist ist, weiß von der Weite des Landes, den schier unendlichen Landschaften und plötzlich auftauchenden natürlichen Grenzen; kennt womöglich das Gefühl, am Fenster eines Reisebusses zu sitzen, mit Blick auf überwältigende Orte, während es im Schritttempo eine unbefestigte Straße entlanggeht; hat gelernt: bloß nie die Entfernungen, den Eigensinn dieser wilden Natur unterschätzen. Und dafür muss man noch nicht einmal in die Nähe der Amazonasregion gekommen sein.
In den Sechzigern entstand ein gewagtes Projekt mitten im Dschungel, die Transamazônica, eine Straße, die auf 4000 Kilometern Asphalt Atlantik und Pazifik verbinden sollte, bis zur Grenze Perus. Zu diesem Projekt gehörte der Plan, den Urwald im Dienst des Kapitals nutzbar zu machen, für Minen, Weideflächen, Kraftwerke abzuholzen, gewissermaßen zu kolonisieren, bevor es andere taten. Zu den zahllosen Arbeitern, die daran mitwirkten, gehörten auch viele Lkw-Fahrer, die unter hohen Risiken über Tausende Kilometer Material transportierten, im Schlamm und in Schlaglöchern stecken blieben, die Nächte durch fuhren und sich mit Speed oder Kokain wachhielten.
Um einen dieser Männer geht es in José Henrique Bortolucis Buch "Was von meinem Vater bleibt". Bortoluci hat im Coronajahr 2021 angefangen, seinen Vater zu interviewen und dessen Geschichte aufzuschreiben, die zugleich eine Geschichte über die brasilianische Arbeiterklasse ist, über die radikale Expansion dieser Zeit. Das Buch hat in Brasilien viele Leser gefunden, was grundsätzlich schon etwas Besonderes ist in einem Land, in dem Lesen immer noch als Luxus gilt, den man sich leisten können muss. Die perfekt temperierten Buchhandlungen in den Millionenstädten erzählen davon. Bortolucis internationaler Erfolg ist auch deshalb etwas Besonderes, weil es sich bei seinem Buch nicht um einen Krimi im Stil Patrícia Melos handelt, nicht um poetische Introspektive in der Tradition Clarice Lispectors, sondern um eine Art Memoir mit Theorieansatz, das voller harter Urteile über sein Land und die Vorstellung von unbegrenztem Wachstum steckt.
Man kann den Soziologen Bortoluci, geboren im Jahr 1984, als Brasilien seine Demokratie nach Jahren der Militärdiktatur wiederbekam, auf seiner Lesereise durch Europa treffen, zum Beispiel in Leipzig. Er wartet schon vor seinem Hotel und raucht und sieht dabei drahtig und unbescholten aus, um ihn herum Bildschirme und Hinweise auf das nächste EM-Spiel. Für Fußball interessiert sich Bortoluci aber gar nicht, dafür umso mehr für Sprache, wie er sagt. Sitzt ein paar Minuten später in einem Café vor einem Stück Nusskuchen, spricht ein freundliches amerikanisches Englisch, zitiert Roland Barthes und Annie Ernaux. In den letzten Monaten hat er in Paris gelebt, Französisch kann er auch. Für sein Buch hat Bortoluci Dialekt und Sprachrhythmus seines Vaters, der in längeren Passagen zu Wort kommt, akribisch verschriftlicht, was auf Portugiesisch sehr authentisch, in der Übersetzung vor allem engagiert klingt: "Von Nestor weiß ich auch, wie man auf dem Lkw-Auspuff grillt. Oben auf der Auspuffanlage sitzt eine Platte, die glühend heiß wird. (...) Wenn man da morgens oben drauf ein Stück Fleisch festgebunden hat, ist es mittags, wenn man angehalten hat, durch gewesen. Und das schmeckt lecker, richtig lecker."
Dieser Bortoluci senior also, genannt Didi, ist der abwesende Vater, der seinem Sohn sagenhafte Geschichten von der Straße mitbringt, von Riesenvögeln im Urwald und Schafsböcken, die per Anhalter mitfahren, der aber auch die ganze Last der Arbeiterklasse mit auf seine Reisen nimmt. 1943 wird er als fünftes Kind in einer ländlichen Gegend von São Paulo geboren. Seine Schulzeit ist nach vier Jahren vorbei, von da an arbeitet er, erst auf dem Bauernhof der Familie, dann, von 22 an, als Fernfahrer. Er hilft, den Flughafen von Manaus mitzubauen, das Atomkraftwerk in Angra dos Reis, die gewaltigen Symbole der brasilianischen Wirtschaftskraft. Fährt nächtelang durch, wenn eine Fracht sonst verderben würde. Raucht und hört laut Musik, um nicht einzuschlafen und gegen einen Baum zu fahren. Auf einem Abschnitt der Transamazônica geht es 500 Kilometer schnurgerade dahin, "ein Waldtunnel ohne Tankstelle oder irgendein Dorf oder irgendwas auf dem Weg". Glaubt an Kameradschaft und die Sünde der Faulheit.
Mit Ende 40 erkrankt Bortoluci senior schwer, investiert aber weiter in seine Fahrzeuge, sieht dabei zu, wie sein Verdienst von Wartungskosten und Treibstoff verschluckt wird, und gibt die Hoffnung auf finanzielle Sicherheit nicht auf, eine Hoffnung, die schon die europäischen Großeltern mitbrachten, die sich als Bauern in Brasilien niederließen und statt eines Neuanfangs ein von Rassismus und Patriarchat beherrschtes Leben bekamen, wie Bortoluci gnadenlos schreibt. Denn waren es nicht sie, die die Arbeitskraft von Sklaven ersetzten, zwar wegen ihrer Hautfarbe unter etwas besseren Bedingungen als die Nachkommen von Indigenen oder versklavten Afrikanern, aber natürlich ohne Chancen, die "Hierarchie der Herkunft" zu durchbrechen?
Es ist eine bemerkenswerte Perspektive auf Brasilien, dieses vom Stolz auf kulturelle Vielfalt, Toleranz und dem Glauben an Meritokratie getragene Land. Zumal von einem, der am Ende doch profitiert hat, der als Kind die mit der neuen Verfassung im Jahr 1988 geschaffenen Veränderungen zu spüren bekommen hat, dessen Generation für eine Weile die Chancen, den langsamen und stetigen Fortschritt in den sozialen Bedingungen erlebte und der jetzt mit Nusskuchen in Leipzig sitzt. Bortoluci war ein guter Schüler, ein eifriger Sammler von Stipendien, Spitzenplätzen bei Wettbewerben und Ehrenurkunden, und sein Erfolg war, wie er sagt, ein Familienprojekt.
Und obwohl Bortoluci immer wieder den persönlichen Ansatz seiner Geschichte betont, das Bedürfnis, seinem später auch noch an Krebs erkrankten Vater eine Stimme zu geben, seinen Soziologenblick abzulegen, so liefert er in seinem Buch doch die nötigen Einordnungen, um die Tragweite dieser Geschichte des unermüdlichen Strebens eines ganzen Landes zu verstehen, eines Strebens nach Straßen und Stadien, nach Geschwindigkeit, nach Kaufkraft und Kapital.
20 Prozent des Amazonasgebietes sind seit 1970 mithilfe der "Straße von meinem Papa", wie Bortoluci die Transamazônica als Kind nannte, zerstört worden. Besonders zügig gingen die Rodungen und Vertreibungen während des Militärregimes voran, die Auslöschung jahrhundertealter Kulturen, die Errichtung von Städten im Regenwald, die heute mehr Anteil an der globalen Erwärmung haben als ganz Chile, dazu mehr Armut und eine größere Ungleichheit als in jeder anderen Region in Brasilien. Diese Zerstörung brachte noch nicht einmal eine Verbesserung der Lebensqualität. Der Tod von mehr als 8000 Bewohnern in der Amazonasregion während dieser Jahre wurde wie viele andere Grausamkeiten nach dem Ende der Diktatur verdrängt. Bortoluci spricht vom "Schmerz des Fortschritts", den die Brasilianer lange Jahre bereitwillig akzeptierten. "Frag einen Brasilianer, ob ihm der Amazonas wichtig ist. Natürlich wird er ja sagen."
Die Abzweigung von der Fernstraße seines Vaters in die dunklen Gegenden des Regenwaldes, die wenig beleuchteten Erinnerungen an Willkürherrschaft und Gier, seien bloß Nebenschauplatz seiner Geschichte, sagt Bortoluci. Aber einer, dessen Protagonisten, dessen Gewinner und Verlierer einen so schnell nicht mehr loslassen, vor allem wenn man die Rolle der Region für die globale Klimaregulierung kennt, die Verbindungen, die sich aus den Jahren der Massenrodungen auch in Richtung Europa ergaben.
Und noch etwas zeigt der Soziologe Bortoluci beiläufig: das Trauma einer globalen Pandemie unter einem Präsidenten, der nicht an die Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit glaubt, die Jahre, in denen sich viele Brasilianer ihrer Regierung gänzlich ausgeliefert fühlten. Das Schreiben, sagt Bortoluci, sei in dieser Zeit sein Schrei der Verzweiflung gewesen. Am Ende einer Saison der Brände im Amazonasgebiet wölbte sich eine riesige dunkle Wolke über São Paulo, für den Autor und viele andere eine Allegorie auf die Zerstörung des Urwalds, auf ein "Meer an Müllhalden, das ganze Dörfer wegspült, die Quecksilbervergiftung der indigenen Völker des Amazonas und eine Präsidentschaftswahl, die aus jeder Form von Tragödie einen Grund zum Feiern machte".
Das war 2023. Inzwischen regiert ein anderer Präsident. Als Bortoluci mit seiner Vater-Geschichte fertig war, wurde Lula da Silva gewählt, Vertreter der Linken, dem in seiner langen Präsidentenkarriere schon viel vorgeworfen wurde, der auch wegen Korruptionsverdachts im Gefängnis saß, in dessen Regierungsphasen aber die Abholzung des Regenwaldes reduziert wurde. Die Hoffnung war zurück, zumindest das zu erhalten, was noch vom Regenwald übrig ist.
Was die Lage der Menschen im Land angeht, ist Bortoluci weniger hoffnungsvoll. Seine Studenten in São Paulo ähneln der europäischen Jugend in ihrem Fatalismus, der Erkenntnis, dass die Zeit, in der es scheinbar immer weiter bergauf ging, vorüber ist. In einem Land, in dem die Ressourcen vermeintlich unendlich sind, die Landschaft so überwältigend, die Idee von unbegrenztem Wachstum so tief verwurzelt ist, werden die Klimatrauer, der Schmerz über das Ende des Wachstums, das "Gift der Ungleichheit" jetzt besonders spürbar. Zu diesen Erkenntnissen trägt Bortolucis Vater-Geschichte bei. Sie dokumentiert die Veränderung. Aber sie öffnet auch neue Räume.
Der Autor jedenfalls hat nicht vor, noch länger in Europa zu bleiben. Er will jetzt zurück zu seiner Familie, in sein weites Land, weiter arbeiten, in der Hoffnung, dass etwas besser wird. Wie vor ihm sein Vater.
José Henrique Bortoluci: "Was von meinem Vater bleibt". Aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch. Aufbau Verlag, 175 Seiten, 20 Euro.
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»Bortoluci fordert seine Leserinnen und Leser intellektuell heraus und berührt sie gleichzeitig emotional.« WDR 5 20240913