»wir sind so still wie feuersalamander ...«.
Ihre Romane wurden vielfach ausgezeichnet, für »Du stirbst nicht« erhielt sie 2009 den Deutschen Buchpreis. Nun kehrt Kathrin Schmidt zu ihrer zweiten Herzensgattung zurück: der Lyrik. Ein Glück für die Leser, denn diese Gedichte sind so klug, spracherfinderisch und sinnlich, dass man jedes einzelne laut vorlesen möchte.
Es sind poetische Reisen, zu denen Kathrin Schmidt einlädt: an abgelegene, oft zungenbrecherische Orte wie Los Guachimontones oder Paleski Radyaytsina-Ekalagichny - aber es sind auch Reisen in die Sprache selbst. Denn immer wird hier ein Raum vermessen und durchschritten, wird genau hingeschaut, gedeutet und umgedeutet. Das Gedicht ist bei Schmidt ein Überraschungsmedium, in dem jeder Zeilenumbruch unerwartete Bedeutungen freisetzt. Archaisches Wortmaterial wird behutsam geborgen und mit Begriffen unserer Gegenwart verschaltet, dass es Funken schlägt. Diese Texte gehen aufs Ganze und tief unter die Oberfläche - bis zur »Erdhirnrinde«. Aber sie bleiben immer so einladend, humorvoll und scharfsinnig, dass man gerne mitreist, selbst in die entlegensten Gegenden.
Ihre Romane wurden vielfach ausgezeichnet, für »Du stirbst nicht« erhielt sie 2009 den Deutschen Buchpreis. Nun kehrt Kathrin Schmidt zu ihrer zweiten Herzensgattung zurück: der Lyrik. Ein Glück für die Leser, denn diese Gedichte sind so klug, spracherfinderisch und sinnlich, dass man jedes einzelne laut vorlesen möchte.
Es sind poetische Reisen, zu denen Kathrin Schmidt einlädt: an abgelegene, oft zungenbrecherische Orte wie Los Guachimontones oder Paleski Radyaytsina-Ekalagichny - aber es sind auch Reisen in die Sprache selbst. Denn immer wird hier ein Raum vermessen und durchschritten, wird genau hingeschaut, gedeutet und umgedeutet. Das Gedicht ist bei Schmidt ein Überraschungsmedium, in dem jeder Zeilenumbruch unerwartete Bedeutungen freisetzt. Archaisches Wortmaterial wird behutsam geborgen und mit Begriffen unserer Gegenwart verschaltet, dass es Funken schlägt. Diese Texte gehen aufs Ganze und tief unter die Oberfläche - bis zur »Erdhirnrinde«. Aber sie bleiben immer so einladend, humorvoll und scharfsinnig, dass man gerne mitreist, selbst in die entlegensten Gegenden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2018Pulver
im Pelz
Kathrin Schmidts Gedichte
„waschplatz der kühlen dinge“
Blinde Bienen sind äußerst aktive Geschöpfe. Sie mögen bisweilen taumeln im Flug, doch tatsächlich haben sie Feuer unter den Flügeln – oder genauer: „pulver im pelz, / dass es stäubt, dass es juckt“. Die Dichterin Kathrin Schmidt war vor acht Jahren so begeistert von diesen Wesen, dass sie ihren Gedichtband nach ihnen benannt hat. Und wir Leser konnten an ihre stäubenden Wörter andocken und „zittern im rhythmus der / flackernden freuden“. Nun geht es ein wenig ruhiger zu in Schmidts Sprachbienenstock. In ihrem neuen Band „waschplatz der kühlen dinge“ schlägt sie „aussichtsdübel in die nackte wand“ und untersucht private Befindlichkeiten oder die feinen Risse in Beziehungen, all das „biographische obst an den bäumen“, das sich in den Routinen des Alltags ansammelt. Mit Wortfindungen wie „kürzeldrüse“, „jahrgangszinnober“ oder „netzhautgemetzel“ will sie „die dürren begriffe fluten“, während im Hintergrund die „ichrobbe“ schläft. Dabei verschiebt sie gern die Konsonanten, aus „sander“ wird hier „zander“ und aus „zangen“ werden „schlangen“.
Zugleich sind diese Gedichte oft politisch, in dem Sinne, dass sie die Sprache der Politik, der Werbung und des Internets in ihre Windungen holen. Mit Volker Braun sondiert Schmidt dann „theoretischen schneefall“, andernorts schickt sie eine „amazonian amazon“ ins Rennen, mitsamt „krisenblitz“ – um „die faule kiste zum platzen zu bringen“. Weniger intensiv sind Gedichte, in denen Schmidt direkt die politischen Zeitläufte in den Blick nimmt. Etwa in einem Sonettenkranz, der unter dem Titel „das boot setzt über“ das Übersetzen von Sprachen mit dem tatsächlichen Über-Setzen von Menschen, die auf der Flucht sind, kurzschließen will. Hier verlieren sich die Verse manchmal selbst „in süßer schrift und doppeldeutigkeiten“.
Viel stärker ist Kathrin Schmidt, wenn sie Landschaften scannt, in Litauen etwa oder in Weißrussland, nicht weit von Tschernobyl entfernt. Dann verwandelt sie die Risse im Gelände und die „mineralsalzeinträge industrieller handschrift“ in hochbewegliche Rhythmen: „wir fuhren ins schlackenland ein. ich hörte den zerfall zirpen / knapp unter der oberfläche, womöglich wollte die erdhaut / geräuschlos einreißen. jedenfalls sah es so aus, als sammelte sie kraft, / indem sie sich kaum merklich zurückzog.“ An solchen Stellen hat Kathrin Schmidts Sprache ordentlich Pulver im Pelz.
NICO BLEUTGE
Kathrin Schmidt: waschplatz der kühlen dinge. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 95 Seiten, 16 Euro.
Kathrin Schmidt
Foto: imago stock&people
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
im Pelz
Kathrin Schmidts Gedichte
„waschplatz der kühlen dinge“
Blinde Bienen sind äußerst aktive Geschöpfe. Sie mögen bisweilen taumeln im Flug, doch tatsächlich haben sie Feuer unter den Flügeln – oder genauer: „pulver im pelz, / dass es stäubt, dass es juckt“. Die Dichterin Kathrin Schmidt war vor acht Jahren so begeistert von diesen Wesen, dass sie ihren Gedichtband nach ihnen benannt hat. Und wir Leser konnten an ihre stäubenden Wörter andocken und „zittern im rhythmus der / flackernden freuden“. Nun geht es ein wenig ruhiger zu in Schmidts Sprachbienenstock. In ihrem neuen Band „waschplatz der kühlen dinge“ schlägt sie „aussichtsdübel in die nackte wand“ und untersucht private Befindlichkeiten oder die feinen Risse in Beziehungen, all das „biographische obst an den bäumen“, das sich in den Routinen des Alltags ansammelt. Mit Wortfindungen wie „kürzeldrüse“, „jahrgangszinnober“ oder „netzhautgemetzel“ will sie „die dürren begriffe fluten“, während im Hintergrund die „ichrobbe“ schläft. Dabei verschiebt sie gern die Konsonanten, aus „sander“ wird hier „zander“ und aus „zangen“ werden „schlangen“.
Zugleich sind diese Gedichte oft politisch, in dem Sinne, dass sie die Sprache der Politik, der Werbung und des Internets in ihre Windungen holen. Mit Volker Braun sondiert Schmidt dann „theoretischen schneefall“, andernorts schickt sie eine „amazonian amazon“ ins Rennen, mitsamt „krisenblitz“ – um „die faule kiste zum platzen zu bringen“. Weniger intensiv sind Gedichte, in denen Schmidt direkt die politischen Zeitläufte in den Blick nimmt. Etwa in einem Sonettenkranz, der unter dem Titel „das boot setzt über“ das Übersetzen von Sprachen mit dem tatsächlichen Über-Setzen von Menschen, die auf der Flucht sind, kurzschließen will. Hier verlieren sich die Verse manchmal selbst „in süßer schrift und doppeldeutigkeiten“.
Viel stärker ist Kathrin Schmidt, wenn sie Landschaften scannt, in Litauen etwa oder in Weißrussland, nicht weit von Tschernobyl entfernt. Dann verwandelt sie die Risse im Gelände und die „mineralsalzeinträge industrieller handschrift“ in hochbewegliche Rhythmen: „wir fuhren ins schlackenland ein. ich hörte den zerfall zirpen / knapp unter der oberfläche, womöglich wollte die erdhaut / geräuschlos einreißen. jedenfalls sah es so aus, als sammelte sie kraft, / indem sie sich kaum merklich zurückzog.“ An solchen Stellen hat Kathrin Schmidts Sprache ordentlich Pulver im Pelz.
NICO BLEUTGE
Kathrin Schmidt: waschplatz der kühlen dinge. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 95 Seiten, 16 Euro.
Kathrin Schmidt
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Blau ist eine kalte Farbe
Sprachhaut abtasten: Kathrin Schmidts Lyrik sucht den "waschplatz der kühlen dinge".
Von Angelika Overath
Was heißt verstehen? Wenn verstehen heißt, etwas erklärend in eigenen Worten sagen zu können, dann sind Kathrin Schmidts Gedichte nicht verständlich. Und doch handelt jedes von Phänomenen, die im Horizont des Alltags liegen: Älterwerden, Naturerfahrungen, Reiseimpressionen, die Gleichzeitigkeit von Partylaune und Ertrinken an schönen Stränden. Und im "wüten washingtons" ertönt die "trumpet". Erleben, Erinnern, Empfinden, Überlegen werden von Kathrin Schmidt nicht einfach (oder kompliziert) in eine sprachliche Form gebracht. In dieser Lyrik meldet sich Sprache als ein Gegenüber, mit dem die Autorin interagiert: sensibel, heftig, spöttisch, sarkastisch, witzig und manchmal brutal.
Es ist wie ein Abtasten, ob die Sprachhaut reagiert, empfindlich wird und antwortet. Stimuliert von Realitätspartikeln oder Redensarten oder nur von einzelnen Wörtern, kann die Autorin in einen flow geraten, in eine Art vom wortkörperlichem Zusammensein mit Silbenfall und Gleichklängen. Konsequente Kleinschreibung, bei dem die grammatikalischen Ordnungen ins Fließen geraten, unterstreichen das Fluide dieses Geschehens. Und wie beim Sex (oder schon beim Purzelbaum) ist hier nicht jede Sprachbewegung "verständlich". So können Sätze mehr oder weniger notwendig der Kontrolle einer Verstehens-Vernunft entgleiten. Ihre Intimität ist nicht immer teilbar.
Beschreibbar sind die Gedichte schon. Das titelgebende Eingangsgedicht "verfallen" öffnet für dreimal sechs Zeilen eine Naturszene: "im unruhigen garten der mohn kopf an kopf". Von Enkeln ist die Rede, denen Kletten - "frisch installiert / die widerborsten" - im Haar hängen, oder sie hängen im Haar der Ich-Großmutter: "falls ich ins gras falle. falls ich die falle / der zündschnüre nicht umgehen kann." Kampfmetaphorik unterläuft die kleine Idylle, explosionsbereit. In diesem Garten "zeltet die verpflichtung zum zeithaben, zum ausharren". Aber das Ich rüttelt an den Stangen (von Zelt und Zeit). Es sagt von sich, dass es "wie toll" aussehen muss, in dieser Ekstase. Und doch hat es im sommerlichen Ambiente einen "strengen winter / um den mund". Sein "eisiger standpunkt / tritt sehr beherrscht auf und ködert die temperaturen". Dieser Sommergarten wird zum "waschplatz / der kühlen dinge", die das Ich "mitnehmen will, während im zelt / die schuldigkeit langsam dahingeht".
Das ist programmatisch. Ein Ich hat einen Waschplatz errichtet, an dem die Dinge kühl gehalten, gereinigt werden von Erhitzung. Dabei ist dieses Ich zum einen außer sich, "wie toll", zum andern "ködert" sein "eisiger standpunkt" die Temperaturen. Ob es über die Zündschnüre des Sommers "fällt" oder nicht, es bleibt (dem Leben, der Liebe, der Aufmerksamkeit, dem Dasein?) "verfallen".
Ein sicherer Weg, Temperaturen zu drosseln, ist die Form. Die strengste poetische Struktur dürfte der Sonettenkranz verlangen, eine Versbastelanleitung aus dem Barock, bei dem die letzte Zeile eines Sonetts zur ersten des nächsten wird. Nach vierzehn Gedichten (die den zweimal vier plus zweimal drei Zeilen eines Sonetts entsprechen) bildet ein fünfzehntes Sonett mit der Abfolge der jeweiligen vierzehn Anfangsverse den Abschluss. In "das boot setzt über" fügt Kathrin Schmidt in dieser Weise streng gegliedert unterschiedliche Themen zusammen, die sich mischen und verändern in schwindelmachenden Echos. Sie überblendet die Frage nach dem Übersetzen wie nach dem Schreiben mit Flüchtlingsbooten, die übersetzen zu einem Ufer. Und auch ein "lieblingsfisch" durchschwimmt die Klangwasser; er kennt das "salz der salze noch vom balzen". In diesen hochartistischen Stücken geht es um Poesie und Politik, Erotik, Leibesund Sprachaufschwünge, die bei dieser realitätswachen und lebenserfahrenen Autorin voneinander nicht zu trennen sind. Und ist es dann schlimm, wenn der "altgewordene uterus ulkt", vielleicht nur um des Klanges willen, und auch die "migränenmoräne" und die "kürzeldrüse" aus diesem Grund ihren Auftritt haben?
Am schönsten sind die Reisegedichte. Sie fangen Augenblicke von oft unaussprechlichen Orten ein, und ein Reporterblick durchblitzt sie. Sie führen zur mexikanischen Kreispyramiden-Kultanlage "Los Guachimontones" oder - im Gedicht "paleski radyaytsina-ekalagichny, pogonnoye" - zum radioaktiv verseuchten "schlackenland" eines Nationalparks in Weißrussland. Dann wieder nehmen sie mit zum Picknik in Rjasan: "die vielstimmige wiese auf dem tisch, das azurblaue / wispern der gläser, gäste mit taschentüchern aus mohn -".
Blau ist eine kalte Farbe. Sie durchzieht diese Verse, "die sich im abend kühl herunterdimmen", immer wieder einmal. Sie verrät, dass bei aller Sozialkritik und politischer Haltung ein romantisches Band, ein Sehnen diese im Wechsel der Töne verwirrend und beglückend reiche Lyrik färbt. Im letzten Gedicht "amazonian amazon" legt denn auch das Ich "die weibliche endung beiseite". Um dann "dem e hinterher" zu schauen: "meinem/ blauen, so blauen begehr."
Kathrin Schmidt: "waschplatz der kühlen dinge". Gedichte.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 93 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sprachhaut abtasten: Kathrin Schmidts Lyrik sucht den "waschplatz der kühlen dinge".
Von Angelika Overath
Was heißt verstehen? Wenn verstehen heißt, etwas erklärend in eigenen Worten sagen zu können, dann sind Kathrin Schmidts Gedichte nicht verständlich. Und doch handelt jedes von Phänomenen, die im Horizont des Alltags liegen: Älterwerden, Naturerfahrungen, Reiseimpressionen, die Gleichzeitigkeit von Partylaune und Ertrinken an schönen Stränden. Und im "wüten washingtons" ertönt die "trumpet". Erleben, Erinnern, Empfinden, Überlegen werden von Kathrin Schmidt nicht einfach (oder kompliziert) in eine sprachliche Form gebracht. In dieser Lyrik meldet sich Sprache als ein Gegenüber, mit dem die Autorin interagiert: sensibel, heftig, spöttisch, sarkastisch, witzig und manchmal brutal.
Es ist wie ein Abtasten, ob die Sprachhaut reagiert, empfindlich wird und antwortet. Stimuliert von Realitätspartikeln oder Redensarten oder nur von einzelnen Wörtern, kann die Autorin in einen flow geraten, in eine Art vom wortkörperlichem Zusammensein mit Silbenfall und Gleichklängen. Konsequente Kleinschreibung, bei dem die grammatikalischen Ordnungen ins Fließen geraten, unterstreichen das Fluide dieses Geschehens. Und wie beim Sex (oder schon beim Purzelbaum) ist hier nicht jede Sprachbewegung "verständlich". So können Sätze mehr oder weniger notwendig der Kontrolle einer Verstehens-Vernunft entgleiten. Ihre Intimität ist nicht immer teilbar.
Beschreibbar sind die Gedichte schon. Das titelgebende Eingangsgedicht "verfallen" öffnet für dreimal sechs Zeilen eine Naturszene: "im unruhigen garten der mohn kopf an kopf". Von Enkeln ist die Rede, denen Kletten - "frisch installiert / die widerborsten" - im Haar hängen, oder sie hängen im Haar der Ich-Großmutter: "falls ich ins gras falle. falls ich die falle / der zündschnüre nicht umgehen kann." Kampfmetaphorik unterläuft die kleine Idylle, explosionsbereit. In diesem Garten "zeltet die verpflichtung zum zeithaben, zum ausharren". Aber das Ich rüttelt an den Stangen (von Zelt und Zeit). Es sagt von sich, dass es "wie toll" aussehen muss, in dieser Ekstase. Und doch hat es im sommerlichen Ambiente einen "strengen winter / um den mund". Sein "eisiger standpunkt / tritt sehr beherrscht auf und ködert die temperaturen". Dieser Sommergarten wird zum "waschplatz / der kühlen dinge", die das Ich "mitnehmen will, während im zelt / die schuldigkeit langsam dahingeht".
Das ist programmatisch. Ein Ich hat einen Waschplatz errichtet, an dem die Dinge kühl gehalten, gereinigt werden von Erhitzung. Dabei ist dieses Ich zum einen außer sich, "wie toll", zum andern "ködert" sein "eisiger standpunkt" die Temperaturen. Ob es über die Zündschnüre des Sommers "fällt" oder nicht, es bleibt (dem Leben, der Liebe, der Aufmerksamkeit, dem Dasein?) "verfallen".
Ein sicherer Weg, Temperaturen zu drosseln, ist die Form. Die strengste poetische Struktur dürfte der Sonettenkranz verlangen, eine Versbastelanleitung aus dem Barock, bei dem die letzte Zeile eines Sonetts zur ersten des nächsten wird. Nach vierzehn Gedichten (die den zweimal vier plus zweimal drei Zeilen eines Sonetts entsprechen) bildet ein fünfzehntes Sonett mit der Abfolge der jeweiligen vierzehn Anfangsverse den Abschluss. In "das boot setzt über" fügt Kathrin Schmidt in dieser Weise streng gegliedert unterschiedliche Themen zusammen, die sich mischen und verändern in schwindelmachenden Echos. Sie überblendet die Frage nach dem Übersetzen wie nach dem Schreiben mit Flüchtlingsbooten, die übersetzen zu einem Ufer. Und auch ein "lieblingsfisch" durchschwimmt die Klangwasser; er kennt das "salz der salze noch vom balzen". In diesen hochartistischen Stücken geht es um Poesie und Politik, Erotik, Leibesund Sprachaufschwünge, die bei dieser realitätswachen und lebenserfahrenen Autorin voneinander nicht zu trennen sind. Und ist es dann schlimm, wenn der "altgewordene uterus ulkt", vielleicht nur um des Klanges willen, und auch die "migränenmoräne" und die "kürzeldrüse" aus diesem Grund ihren Auftritt haben?
Am schönsten sind die Reisegedichte. Sie fangen Augenblicke von oft unaussprechlichen Orten ein, und ein Reporterblick durchblitzt sie. Sie führen zur mexikanischen Kreispyramiden-Kultanlage "Los Guachimontones" oder - im Gedicht "paleski radyaytsina-ekalagichny, pogonnoye" - zum radioaktiv verseuchten "schlackenland" eines Nationalparks in Weißrussland. Dann wieder nehmen sie mit zum Picknik in Rjasan: "die vielstimmige wiese auf dem tisch, das azurblaue / wispern der gläser, gäste mit taschentüchern aus mohn -".
Blau ist eine kalte Farbe. Sie durchzieht diese Verse, "die sich im abend kühl herunterdimmen", immer wieder einmal. Sie verrät, dass bei aller Sozialkritik und politischer Haltung ein romantisches Band, ein Sehnen diese im Wechsel der Töne verwirrend und beglückend reiche Lyrik färbt. Im letzten Gedicht "amazonian amazon" legt denn auch das Ich "die weibliche endung beiseite". Um dann "dem e hinterher" zu schauen: "meinem/ blauen, so blauen begehr."
Kathrin Schmidt: "waschplatz der kühlen dinge". Gedichte.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 93 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Michael Braun freut sich über politische Gedichte, die der billigen Gesinnungsästhetik entkommen. Kathrin Schmidts Texte bestechen für ihn durch große sprachliche Virtuosität und das Anpacken zeitgeschichtlicher Verwerfungen. Wie Schmidt hier mit "barockem" Sprachwitz Globalisierung und Migration in den Blick nimmt, imponiert ihm, zumal keine einfachen Antworten geboten werden, wie er meint, sondern Paradoxien und Ambivalenzen, kein politischer Flachsinn, sondern schnoddriger Trotz und sinnlicher Übermut auf "festen Versfüßen". Auch wenn der Witz hin und wieder etwas angestrengt rüberkommt, Braun kann den Band empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das ist »Wortzeug«, das sich so richtig ins Zeug legt und keine halben Sachen macht.« Andreas Wirthensohn Wiener Zeitung 20180922