Von Nonnen und Narren, Ikonen und Namen - eine siebenbürgische Bilderwand, durchscheinend wie Wasserzeichen.Sigrid Löffler äußerte 2001 beim Poetenfest in Erlangen: "Offensichtlich ist die Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu Ende. Aber dieses Ende ist in den Romanen von Eginald Schlatter exemplarisch aufgehoben, im Hegel'schen Sinne." Denis Scheck in einem Brief, Dezember 2016: "... nach dem, was ich von Eginald Schlattner kenne, darf man von Weltliteratur sprechen."Der Verfasser selbst befindet: "Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab. Sondern dass ich Pfarrer bin, als Erstes und als Letztes und manchmal durch und durch. Somit der Imperativ: Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.2018Im Land der verletzten Erinnerungen
Der Pfarrer und Autor Eginald Schlattner hat unser Bild vom Leben der Siebenbürger Sachsen in finsteren Zeiten geprägt wie kein Zweiter. Nun erscheint sein Lebensroman "Wasserzeichen".
Ein evangelischer Pfarrer, ein Rumäniendeutscher, zieht sich im Alter zeitweise in ein orthodoxes Nonnenkloster zurück, um seine Erinnerungen aufzuschreiben und zu reflektieren. In diesem widersprüchlichen Akt steckt die Paradoxie, der sich der siebenbürgisch-sächsische Autor Eginald Schlattner sein Leben lang stellen musste: das widerborstige Verhältnis zum Glauben und zugleich dessen Intensität, zur rumänischen Orthodoxie, zu den Nonnen als aufgeklärter Protestant.
Schlattners Romanfolge - vielfach übersetzt und teils verfilmt - "Der geköpfte Hahn", "Rote Handschuhe" und "Das Klavier im Nebel" ist im deutschsprachigen Raum berühmt geworden, weil die Romane ein poetisch aufgeladenes, historisch tief geschichtetes Bild des Lebens der Siebenbürger Sachsen in Rumänien vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der Ceausescu-Ära erschaffen.
Der erzählende Protagonist ist keinesfalls ein strahlender Held, sondern ein mit sich hadernder und zweifelnder Mensch. Schlattner war, wie viele seiner Bekannten und Freunde, inhaftiert, zwei Jahre verbrachte er in Einzelhaft. Anfangs war unklar, wofür er überhaupt eingesperrt worden war; angeblich dann für das Nichtmelden von (literarischen) Zusammenkünften meist Jugendlicher. Seine Aussagen wurden im Rahmen des Schwarze-Kirche-Prozesses von Kronstadt (1959) so eingesetzt, dass sie die Beweisführung der Anklage stützten, durch die Kollegen zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden.
Daraus hat man über Jahrzehnte Schlattner einen Strick gedreht, gerade nach dem Ende der Ceausescu-Zeit, als man ihn als "Verräter" beschimpfte und als Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes denunzierte. Kürzlich hat jedoch die Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick auf die zahlreichen Widersprüche in dem politischen Prozess und vor allem in der Aktenlage, die zur Aufarbeitung der damaligen Ereignisse herangezogen wurden, hingewiesen. Ihre Forschungen belegen, dass der Prozess Teil einer perfiden Strategie war, den Widerstand gegen das Regime zu brechen. Die Informationen und Akten zu Schlattners Rolle im Kronstädter Schriftstellerprozess, die einst aus dem Gerichtssaal ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden, wurden auch nach 1990 nicht kritisch hinterfragt und dann als solche in der einschlägigen Forschungsliteratur übernommen.
Unter diesen Vorzeichen liest man den Lebensroman, der uns als "Wasserzeichen" hier vorgelegt wird, mit besonderer Spannung, zumal er nun den Bogen bis in unsere Zeit zieht. Zwischen 2006 und 2017 verfasste Schlattner diese Texte im Nonnenkloster Sfântu Spiridon am Walde und in seinem Pfarrhof in Rothberg (Rosia) bei Hermannstadt (Sibiu). Das klösterliche Leben, die regelmäßigen Gesänge und Gebete der Nonnen bilden den Pulsschlag des Erinnerns. Das Kloster ist noch ganz neu, es wurde erst kürzlich von vier Nonnen "aus dem Boden gestampft". Gerade deshalb: Man beginnt bei null und kann wie der Autor Wasserzeichen ins Papier setzen.
In vieler Hinsicht verflechten sich die Erinnerungen Schlattners an die Zeit des Nationalsozialismus und später des Sozialismus in Rumänien mit den Geschichten seiner Romane. Echos ertönen von dort, doch es ist kein Wiederkäuen von Bekanntem. Wer nur Politisches sucht oder die Haftzeit, bleibt im Ungefähren. Es geht hier um eine Art Lebensbeichte, um Beziehungen, um das Hadern mit der eigenen Person und der eigenen Nase, um das Hin und Her im Liebesleben, um sächsische und andere Identität. Auch die Siebenbürger Landschaften mit ihren Kirchenburgen und alten Erinnerungen werden wunderbar erhellt, in ihren winterlichen Gefahren wie sommerlichen Abenteuern.
Man kann das Buch im Gegenlicht der Romane insofern lesen, als hier Vertiefung oder Erläuterung zugelassen wird. Was vor allem deutlich wird, ist ein tief verletzter, sich oft schuldig fühlender Mensch. Zentral sind Liebesbeziehungen, einmal mit einer Jüdin, dann mit einer Sächsin, wiederum auch mit einer späteren Kommunistin und Informantin der Securitate, wie sich viele Jahre nach dem Ende des Regimes herausstellen sollte. Ein zerrissener Mensch, der Theologie studiert, ohne an Gott zu glauben, aber weiß, dass dort etwas "ist". Der ebenso seine Sätze gestaltet, oft wie Tuchfragmente in den Wind hängt, ihnen ihre Vollständigkeit benimmt, sie wie Brüche behandelt.
Dabei überlässt er nichts der Konvention. Nicht im Leben, nicht in der Sprache. Kein Absatz, der nicht eine poetische Wendung nähme oder ein Fragezeichen in den siebenbürgischen Himmel zeichnete; der nicht sich selbst in Frage stellte. Abrupt wie die Sprache manchmal ist, sind es erst recht die Erfahrungen, Begegnungen und Dialoge. Die Deportationen der Rumäniendeutschen nach dem Krieg etwa, denen man eine Kollektivschuld zuwies, kommen plötzlich, manchmal werden die Häuser heute geräumt, und morgen soll eine Familie wieder zurückkommen. Flucht vor Spitzeln, vor verräterischen Katzen, gefährlichen Aussagen.
Zuvor ist da aber der naive Glaube vieler an deutsche Größe. Auch der junge Schlattner, begeisterungsfähig, wie er war, ist anfällig für Ideologie. Längere Zeit schleppt er Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" in seinem geistigen Gepäck, bis ihm nach und nach der germanische Übermensch ausgetrieben wird. Das durchwachsene geistige Erbe der Siebenbürger Sachsen zeigt sich in den Büchern, die schnellstens versteckt oder vernichtet wurden, als Hausdurchsuchungen der Securitate anstanden: Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme, die Kolbenheyers und Spenglers oder ein Heft über die Olympiade 1936.
Wie weit Siebenbürgen damals vom Zentrum entfernt war, zeigt ein Buch, das von Thomas Mann für einen Sachsen signiert war: "Für Timotheus Caesar Römer, Sibirien", als Zeichen auch dafür, dass selbst einem Nobelpreisträger die Geographie durcheinanderkommen mag. Noch die vielen Vornamen gehören ins geistige Gepäck dieser Menschen, sie sind geprägt von Projektionen, spitzfindige Fetzen der sächsischen Schulbildung. Schlattner zitiert sie mit Vorliebe, seien es Odin Poseidon Saulus Prall, Susanna Sara Blau, Bileam Hannibal Römer oder Isabella Florimunde Amalaswintha.
Man sieht, dieser Autor ist immer auch in Distanz zu sich wie zu seiner Umgebung, aber das erlaubt ihm auch Selbstkritik. Diese ist jedoch schwierigen Umständen geschuldet, einem Aufwachsen in zerreißenden Loyalitäten: zur Familie, zu den Siebenbürger Sachsen, zu einer Ideologie - zunächst nationalsozialistisch, dann sozialistisch -, schließlich zu einem Glauben, den der ewige Haderer allmählich annimmt und für sich neu übersetzt. Getreu dem Motto: "Heimat ist der Ort, wo man sich am fremdesten fühlt", wie der Hydrologe, der schließlich zum Priester wurde, schrieb.
Noch als Protestant sieht sich Schlattner abtrünnig, wie er da in einem orthodoxen Kloster seine Erinnerungen nacharbeitet, auch wenn er im Kloster wiederum weiß, wie protestantisch er eigentlich ist: sein "spaltsinniges Verhältnis zur Wirklichkeit Gottes". Anders ausgedrückt: "Vor lauter Gott vergessen sie (die Orthodoxen) den Nächsten. Während wir vor lauter Nächstenliebe Gott vergessen."
Das Kloster ist auf jeden Fall der Hoch- und Jägersitz, auf dem er, der viele Jahre als Gefängnispfarrer gearbeitet hat, den Tieren der Vergangenheit auflauert. Und das Flüchtige will mit modernsten Sichtgeräten erfasst werden: Schlattner nutzt Flashbacks, wechselt Zeiten und Orte und baut Netzwerke von Gedanken und Begegnungen auf. Genauso wenig wie Geschichte ist Biographie linear zu erfassen, gar nachzuleben. Im Kloster gilt es auch manches nachzuholen, so die Weltliteratur: Musil, Gorkij, Puschkin, Gogol - überhaupt die Russen, vielleicht angefacht durch die orthodoxe Umgebung.
Zum Schluss, nach mancher aufwühlenden Liebesbeziehung, endlich auch die schmerzhafte Geschichte der eigenen Ehe. Das Buch dient dazu, solche Geschichten der Liebe und der Not, der Bitternis und der Schuld zu Ende zu bringen, einige, die sich vor einem halben Jahrhundert ereigneten, andere, die bis heute fortwirken. Auch mit dem neuen Rumänien muss und will er fertig werden, mit der Gemeinde ohne Sachsen, auf einem Pfarrhof, der mit den nicht mehr Deutsch sprechenden Nachbarn auskömmlich, hilfreich und manchmal fördernd-fordernd lebt. Mit einer Kirche, die er aufsucht, um Gott zu trösten, auf dass dieser nicht vereinsame. Und so erweist sich Schlattners grandioser Alterswurf vor allem als dieses: als Kampf gegen den "Dämon der Vereinfachung".
ELMAR SCHENKEL
Eginald Schlattner: "Wasserzeichen". Roman.
Pop Verlag, Ludwigsburg 2018. 625 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Pfarrer und Autor Eginald Schlattner hat unser Bild vom Leben der Siebenbürger Sachsen in finsteren Zeiten geprägt wie kein Zweiter. Nun erscheint sein Lebensroman "Wasserzeichen".
Ein evangelischer Pfarrer, ein Rumäniendeutscher, zieht sich im Alter zeitweise in ein orthodoxes Nonnenkloster zurück, um seine Erinnerungen aufzuschreiben und zu reflektieren. In diesem widersprüchlichen Akt steckt die Paradoxie, der sich der siebenbürgisch-sächsische Autor Eginald Schlattner sein Leben lang stellen musste: das widerborstige Verhältnis zum Glauben und zugleich dessen Intensität, zur rumänischen Orthodoxie, zu den Nonnen als aufgeklärter Protestant.
Schlattners Romanfolge - vielfach übersetzt und teils verfilmt - "Der geköpfte Hahn", "Rote Handschuhe" und "Das Klavier im Nebel" ist im deutschsprachigen Raum berühmt geworden, weil die Romane ein poetisch aufgeladenes, historisch tief geschichtetes Bild des Lebens der Siebenbürger Sachsen in Rumänien vom Ersten Weltkrieg bis zum Beginn der Ceausescu-Ära erschaffen.
Der erzählende Protagonist ist keinesfalls ein strahlender Held, sondern ein mit sich hadernder und zweifelnder Mensch. Schlattner war, wie viele seiner Bekannten und Freunde, inhaftiert, zwei Jahre verbrachte er in Einzelhaft. Anfangs war unklar, wofür er überhaupt eingesperrt worden war; angeblich dann für das Nichtmelden von (literarischen) Zusammenkünften meist Jugendlicher. Seine Aussagen wurden im Rahmen des Schwarze-Kirche-Prozesses von Kronstadt (1959) so eingesetzt, dass sie die Beweisführung der Anklage stützten, durch die Kollegen zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden.
Daraus hat man über Jahrzehnte Schlattner einen Strick gedreht, gerade nach dem Ende der Ceausescu-Zeit, als man ihn als "Verräter" beschimpfte und als Mitarbeiter des rumänischen Geheimdienstes denunzierte. Kürzlich hat jedoch die Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick auf die zahlreichen Widersprüche in dem politischen Prozess und vor allem in der Aktenlage, die zur Aufarbeitung der damaligen Ereignisse herangezogen wurden, hingewiesen. Ihre Forschungen belegen, dass der Prozess Teil einer perfiden Strategie war, den Widerstand gegen das Regime zu brechen. Die Informationen und Akten zu Schlattners Rolle im Kronstädter Schriftstellerprozess, die einst aus dem Gerichtssaal ihren Weg in die Öffentlichkeit fanden, wurden auch nach 1990 nicht kritisch hinterfragt und dann als solche in der einschlägigen Forschungsliteratur übernommen.
Unter diesen Vorzeichen liest man den Lebensroman, der uns als "Wasserzeichen" hier vorgelegt wird, mit besonderer Spannung, zumal er nun den Bogen bis in unsere Zeit zieht. Zwischen 2006 und 2017 verfasste Schlattner diese Texte im Nonnenkloster Sfântu Spiridon am Walde und in seinem Pfarrhof in Rothberg (Rosia) bei Hermannstadt (Sibiu). Das klösterliche Leben, die regelmäßigen Gesänge und Gebete der Nonnen bilden den Pulsschlag des Erinnerns. Das Kloster ist noch ganz neu, es wurde erst kürzlich von vier Nonnen "aus dem Boden gestampft". Gerade deshalb: Man beginnt bei null und kann wie der Autor Wasserzeichen ins Papier setzen.
In vieler Hinsicht verflechten sich die Erinnerungen Schlattners an die Zeit des Nationalsozialismus und später des Sozialismus in Rumänien mit den Geschichten seiner Romane. Echos ertönen von dort, doch es ist kein Wiederkäuen von Bekanntem. Wer nur Politisches sucht oder die Haftzeit, bleibt im Ungefähren. Es geht hier um eine Art Lebensbeichte, um Beziehungen, um das Hadern mit der eigenen Person und der eigenen Nase, um das Hin und Her im Liebesleben, um sächsische und andere Identität. Auch die Siebenbürger Landschaften mit ihren Kirchenburgen und alten Erinnerungen werden wunderbar erhellt, in ihren winterlichen Gefahren wie sommerlichen Abenteuern.
Man kann das Buch im Gegenlicht der Romane insofern lesen, als hier Vertiefung oder Erläuterung zugelassen wird. Was vor allem deutlich wird, ist ein tief verletzter, sich oft schuldig fühlender Mensch. Zentral sind Liebesbeziehungen, einmal mit einer Jüdin, dann mit einer Sächsin, wiederum auch mit einer späteren Kommunistin und Informantin der Securitate, wie sich viele Jahre nach dem Ende des Regimes herausstellen sollte. Ein zerrissener Mensch, der Theologie studiert, ohne an Gott zu glauben, aber weiß, dass dort etwas "ist". Der ebenso seine Sätze gestaltet, oft wie Tuchfragmente in den Wind hängt, ihnen ihre Vollständigkeit benimmt, sie wie Brüche behandelt.
Dabei überlässt er nichts der Konvention. Nicht im Leben, nicht in der Sprache. Kein Absatz, der nicht eine poetische Wendung nähme oder ein Fragezeichen in den siebenbürgischen Himmel zeichnete; der nicht sich selbst in Frage stellte. Abrupt wie die Sprache manchmal ist, sind es erst recht die Erfahrungen, Begegnungen und Dialoge. Die Deportationen der Rumäniendeutschen nach dem Krieg etwa, denen man eine Kollektivschuld zuwies, kommen plötzlich, manchmal werden die Häuser heute geräumt, und morgen soll eine Familie wieder zurückkommen. Flucht vor Spitzeln, vor verräterischen Katzen, gefährlichen Aussagen.
Zuvor ist da aber der naive Glaube vieler an deutsche Größe. Auch der junge Schlattner, begeisterungsfähig, wie er war, ist anfällig für Ideologie. Längere Zeit schleppt er Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" in seinem geistigen Gepäck, bis ihm nach und nach der germanische Übermensch ausgetrieben wird. Das durchwachsene geistige Erbe der Siebenbürger Sachsen zeigt sich in den Büchern, die schnellstens versteckt oder vernichtet wurden, als Hausdurchsuchungen der Securitate anstanden: Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme, die Kolbenheyers und Spenglers oder ein Heft über die Olympiade 1936.
Wie weit Siebenbürgen damals vom Zentrum entfernt war, zeigt ein Buch, das von Thomas Mann für einen Sachsen signiert war: "Für Timotheus Caesar Römer, Sibirien", als Zeichen auch dafür, dass selbst einem Nobelpreisträger die Geographie durcheinanderkommen mag. Noch die vielen Vornamen gehören ins geistige Gepäck dieser Menschen, sie sind geprägt von Projektionen, spitzfindige Fetzen der sächsischen Schulbildung. Schlattner zitiert sie mit Vorliebe, seien es Odin Poseidon Saulus Prall, Susanna Sara Blau, Bileam Hannibal Römer oder Isabella Florimunde Amalaswintha.
Man sieht, dieser Autor ist immer auch in Distanz zu sich wie zu seiner Umgebung, aber das erlaubt ihm auch Selbstkritik. Diese ist jedoch schwierigen Umständen geschuldet, einem Aufwachsen in zerreißenden Loyalitäten: zur Familie, zu den Siebenbürger Sachsen, zu einer Ideologie - zunächst nationalsozialistisch, dann sozialistisch -, schließlich zu einem Glauben, den der ewige Haderer allmählich annimmt und für sich neu übersetzt. Getreu dem Motto: "Heimat ist der Ort, wo man sich am fremdesten fühlt", wie der Hydrologe, der schließlich zum Priester wurde, schrieb.
Noch als Protestant sieht sich Schlattner abtrünnig, wie er da in einem orthodoxen Kloster seine Erinnerungen nacharbeitet, auch wenn er im Kloster wiederum weiß, wie protestantisch er eigentlich ist: sein "spaltsinniges Verhältnis zur Wirklichkeit Gottes". Anders ausgedrückt: "Vor lauter Gott vergessen sie (die Orthodoxen) den Nächsten. Während wir vor lauter Nächstenliebe Gott vergessen."
Das Kloster ist auf jeden Fall der Hoch- und Jägersitz, auf dem er, der viele Jahre als Gefängnispfarrer gearbeitet hat, den Tieren der Vergangenheit auflauert. Und das Flüchtige will mit modernsten Sichtgeräten erfasst werden: Schlattner nutzt Flashbacks, wechselt Zeiten und Orte und baut Netzwerke von Gedanken und Begegnungen auf. Genauso wenig wie Geschichte ist Biographie linear zu erfassen, gar nachzuleben. Im Kloster gilt es auch manches nachzuholen, so die Weltliteratur: Musil, Gorkij, Puschkin, Gogol - überhaupt die Russen, vielleicht angefacht durch die orthodoxe Umgebung.
Zum Schluss, nach mancher aufwühlenden Liebesbeziehung, endlich auch die schmerzhafte Geschichte der eigenen Ehe. Das Buch dient dazu, solche Geschichten der Liebe und der Not, der Bitternis und der Schuld zu Ende zu bringen, einige, die sich vor einem halben Jahrhundert ereigneten, andere, die bis heute fortwirken. Auch mit dem neuen Rumänien muss und will er fertig werden, mit der Gemeinde ohne Sachsen, auf einem Pfarrhof, der mit den nicht mehr Deutsch sprechenden Nachbarn auskömmlich, hilfreich und manchmal fördernd-fordernd lebt. Mit einer Kirche, die er aufsucht, um Gott zu trösten, auf dass dieser nicht vereinsame. Und so erweist sich Schlattners grandioser Alterswurf vor allem als dieses: als Kampf gegen den "Dämon der Vereinfachung".
ELMAR SCHENKEL
Eginald Schlattner: "Wasserzeichen". Roman.
Pop Verlag, Ludwigsburg 2018. 625 S., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main