Am 18. Juni 1815 wurde die Schlacht bei Waterloo (oder La Belle-Alliance) geschlagen. Dort beendeten Wellington, Blücher und Gneisenau mit ihren englischen und preußischen Truppen die Herrschaft der Hundert Tage, die Napoleon I., aus dem Exil zurückgekehrt, noch einmal hatte errichten können. Marian Füssel erläutert die historischen Voraussetzungen der Schlacht, beschreibt den Weg Napoleons nach Waterloo, erzählt den Verlauf der Kämpfe, resümiert das Nachleben und erhellt die Entstehung des "Mythos Waterloo".
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.06.2015Die Bluttaufe der Legitimität
Napoleon ging nicht erst bei Waterloo unter:
Neue Bücher über Bonapartes Ende und die Neuordnung Europas vor 200 Jahren
VON GUSTAV SEIBT
Kein Sieg, sondern seine letzte große Niederlage wurde zur berühmtesten Schlacht Napoleons. Zehn Tage nach der Unterzeichnung der Schlussakte des Wiener Kongresses wurde die Epoche der Revolution am 18. Juni 1815 auch militärisch geschlossen. Dass Waterloo, so dramatisch-knapp der Ausgang der zweitägigen Riesenschlacht war und so mythisch sie durch Erinnerungskult und Literatur wurde, den Lauf der Weltgeschichte entscheidend bestimmt hat, darf man bezweifeln. Symbol und Ereignis sind hier nicht gleich wichtig.
Napoleon kämpfte politisch auf verlorenem Posten: Unmittelbar nachdem die Flucht des Kaisers aus Elba bekannt geworden war, hatten ihn die in Wien versammelten Mächte als „Feind und Störer des Weltfriedens an den öffentlichen Pranger der Welt gestellt“ und so für rechtlos erklärt. Jeder Separatfrieden mit ihm war danach ausgeschlossen. Den Anstoß zu diesem völkerrechtlich unerhörten Akt hatte Talleyrand gegeben, des französischen Königs Ludwig XVIII. Außenminister, der einen neuerlichen Regimewechsel in Paris und damit den Verlust seiner diplomatischen Erfolge für Frankreich verhindern wollte. Hätte Napoleon bei Waterloo gesiegt, dann wäre der Krieg weitergegangen, noch einmal blutig und schrecklich, aber bis zum Ende des „Satans“, zu dem der Paria der Völkergemeinschaft in den Augen des alten Europa geworden war.
Allerdings waren die konservativen Mächte nicht unschuldig an der blutigen Schlussepisode von Napoleons Militärdiktatur. Die ihm zugesagte Apanage wurde ihm von der neuen Pariser Bourbonenregierung nicht ausgezahlt, außerdem wurde zu laut über eine Entführung des Kaisers aus Elba an einen entlegeneren Ort debattiert – Napoleon konnte den Eindruck bekommen, er müsse die Flucht nach vorn antreten. Sein größter Fehler dabei war, dass er sechs Monate zu früh von Elba absegelte, stellt Thierry Lentz, einer der heute führenden französischen Historiker des Kaiserreichs in seiner klugen Geschichte des Wiener Kongresses fest. Noch waren die Monarchen und Minister Europas so vollzählig in Wien versammelt, dass sie schnell und entschieden reagieren konnten. So wurde die Episode von Waterloo zum ersten Test, zur Bluttaufe der neuen Ordnung, die auf Legitimität gegründet worden war.
Die großen politischen Linien hinter dem wechselhaften und schrecklichen Kampfgeschehen, das Marian Füssel gründlich, knapp und übersichtlich darlegt, sollten Besucher des Schlachtfelds kennen, die in diesem Sommer wohl besonders zahlreich nach Belgien reisen werden. Füssel streift sie nur, dabei sind sie weit weniger nebelhaft als die Kämpfe selbst, deren Undurchschaubarkeit schon Stendhal, Napoleons Erbe in der Literatur, auf unvergesslichen Seiten zum Thema machte.
Der Riesenvorgang zwischen dem Brand von Moskau und Waterloo hat seinen wirksamsten neuen Epiker in Adam Zamoyski gefunden, der beides erzählt, den militärischen Untergang Napoleons in den bis dahin größten Schlachten der Weltgeschichte und den mühsamen Neubau einer europäischen Ordnung erst in Paris 1814 und dann in Wien bis zum Sommer 1815.
So spannend die Militärgeschichte ist, für den politisch Interessierten sind die Probleme von Regimewechsel in Frankreich und Neuordnung Europas noch interessanter. Unerhörte Aufgaben waren hier zu bewältigen, nicht nur die Neuzeichnung der Landkarte mit allen Folgen für Gleichgewicht, Krieg und Frieden in Europa, sondern vor allem die moralisch-rechtliche Neufundierung der bis 1789 fraglos monarchischen Staatenordnung.
Bemerkenswert ist, dass der französische Historiker Lentz die Resultate von 1815 so viel positiver sieht als der polnische Brite Zamoyski. Französische Historiker hatten traditionell wenig übrig für den Wiener Kongress, der die Vormacht Frankreichs bis zum Ersten Weltkrieg einhegte und Preußen den Aufstieg zur deutschen Hegemonialmacht eröffnete – so sah man es jedenfalls. Lentz lobt wie früher angelsächsische Historiker, beispielsweise Henry Kissinger, die neue Sicherheitsstruktur und er tadelt vor allem England, die einzige „Supermacht“ des 19. Jahrhunderts, dafür, dass es diese Ordnung nicht konsequent unterstützt habe und damit am Ende preisgab – die Analogie zur heutigen Rolle der USA ist unüberhörbar.
Zamoyski sieht angewidert die vielen faulen Kompromisse, die an den Kabinettstischen über die Köpfe der Völker hinweg zustande kamen und die Saat neuer Konflikte legten. Gerecht ist es nicht, 1815 schon für 1914 haftbar zu machen, denn eine hundertjährige Struktur kann nicht ganz verfehlt gewesen sein.
Den grundlegenden Webfehler des Wiener Gespinstes formuliert Lentz mit größerer Klarheit als der literarisch so viel brillantere Zamoyski: Im neuen System der „Legitimität“, das der Wiener Kongress begründete, blieben alle Völker unvertreten, die keine Dynastie vorzuweisen hatten. Das galt paradox für die Deutschen, die viele Dynastien hatten, deutlich für die Italiener, die von auswärtigen Herrscherhäusern regiert wurden, vor allem aber für die Polen, die herrenloses Gut wurden und schon durch ihre schiere Existenz den vorläufigen und defensiven Charakter der Wiener Ordnung bezeugten: Für sie war buchstäblich kein Platz vorgesehen, wenn man Legitimität auf keinen Fall auf Volkssouveränität und Selbstbestimmung der Völker gründen wollte.
Trotzdem kann man fragen, ob es 1814/15 eine andere Möglichkeit als die Rückkehr zum legitimistischen Standpunkt hätte geben können. „Legitimität“ war ja nicht nur die Antwort auf die Revolution im Inneren der Staaten, sondern vor allem auf die Garantielosigkeit, die Napoleon in die zwischenstaatlichen Beziehungen gebracht hatte. Die innere Verfassung Frankreichs als einer auf militärischen Ruhm und charismatischen Erfolg gegründeten Imperialdiktatur war mit der Entrechtlichung der auswärtigen Beziehungen eine zu fatale, zu konsequente Verbindung eingegangen; das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzende Prinzip der Nation konnte die Staatsmänner in Wien nicht verlocken.
Dass schon Napoleon, wäre er besonnen gewesen, aufs Prinzip der Legitimität hätte umschwenken können, ist die These des britischen Historikers Munro Price, der das interessanteste neue Buch zum Untergang des Kaisers vorgelegt hat. Price untersucht den Zeitraum vom Russischen Feldzug bis zur ersten Abdankung Napoleons im April 1814 unter der Leitfrage, ob dieser einen Kompromissfrieden mit den europäischen Mächten hätte schließen können. Napoleon hat 1813 alle, vor allem von Österreich vorgetragenen Angebote ausgeschlagen, mit der Begründung, das französische Volk würde ihm ein Zurückgehen, eine Niederlage nicht verzeihen.
Dabei hätte das österreichische Kaiserhaus, das durch Napoleons zweite Frau, die habsburgische Prinzessin Marie-Louise, mit den Bonapartes verwandt geworden war, Frankreich bis zur Völkerschlacht von Leipzig die „natürlichen Grenzen“, also sogar die linksrheinischen deutschen Gebiete zugestanden. Nicht nur aus dynastischer Verbundenheit, sondern auch aus Furcht vor Russland wäre Metternich, Österreichs leitender Staatsmann, dazu bereit gewesen. Denn seit Ende 1812 stieß der Zar bis tief nach Mitteleuropa vor.
Price zeigt in minutiösen, auf viel ungedrucktes Material gestützten Analysen, wie Napoleon alle Kompromisse desavouierte, dabei im Widerspruch vor allem zu seinem besonnenen und loyalen Unterhändler Caulaincourt, einem Zögling Talleyrands, den die Intransigenz des Kaisers zur Verzweiflung und momentweise bis an den Rand des Verrats trieb. Die Zitate aus Caulaincourts unpubliziertem Nachlass werfen vielfach neues Licht auf diese so gründlich erforschte Epoche.
Noch wichtiger ist, dass Price als erster Historiker die Stimmungsberichte der Präfekten aus der französischen Provinz auswertet und zeigen kann, dass die Sehnsucht der Bevölkerung nach Frieden ihre Ruhmbegier längst überwunden hatte. Die versäumten Friedenschancen führten regelmäßig zu Verbitterung bei den Franzosen, denen Napoleon ein Frankreich ohne Vorherrschaft in Europa nicht zumuten wollte. Das Buch von Price ist voll von überraschenden Funden und es leistet, was gute Ereignisgeschichte immer soll: Es lässt die ausgeschlagenen anderen Möglichkeiten plastisch werden.
Für Price besteht der eigentliche Untergang Napoleons nicht in der überschätzten Episode der Hundert Tage, sondern in seinem politischen Versagen nach dem Russlandkrieg. Wer Geschichte nicht nur als farbiges Epos, sondern als Stoff zum Nachdenken versteht, wird um dieses Buch künftig nicht mehr herumkommen.
Dass nicht einmal eine Diktatur ohne Legitimitätsreserven auskommen kann, zeigte schon eine Verschwörung in Paris während der Zeit, als Napoleon in Russland war. Die Verschwörer arbeiteten mit der Fiktion des Todes von Napoleon und fälschten einen Beschluss des eigentlich machtlosen Senats des Kaiserreichs. Napoleon war vor allem darüber schockiert, dass nicht einer der Soldaten und Beamten, denen sein Tod verkündet worden war, an seinen Sohn gedacht hatte. Das bewies ihm, wie weit er noch von der Umstellung charismatischer auf dynastische Legitimität entfernt war und bestärkte ihn in seiner Kompromisslosigkeit.
Das aber war ein Fehler, zeigt Price. Im März 1814, als es darum ging, in Paris einen Regimewechsel ins Werk zu setzen, griff Talleyrand zwar auch wieder auf den Senat zurück, hätte aber eine Regentschaft der habsburgischen Kaiserin Marie-Louise für Napoleons vierjährigen Sohn der Rückkehr der Bourbonen entschieden vorgezogen. Eine solche Regentschaft hätte älteste dynastische Legitimität mit einem liberalen Regime vereinbaren können. Doch das verhinderte der Kaiser, der seine Gattin zwang, Paris in den entscheidenden Tagen zu verlassen. Talleyrand wurde um die Möglichkeit geprellt, ein neuer Mazarin zu werden, nach dem Vorbild jenes Kardinals, der die Regierung für den unmündigen Ludwig XIV. geführt hatte. Frankreich wäre mit einem solchen postrevolutionären Kompromiss zweifellos besser gefahren als mit der Restauration der Bourbonen.
Napoleons Hundert Tage wurden zu den teuersten Wochen der französischen Geschichte. Die günstigen Bedingungen, die Talleyrand im ersten Pariser Frieden für Frankreich ausgehandelt hatte, wurden nach Waterloo drastisch verschärft – nicht ganz logisch, wie Zamoyski tadelt, denn angeblich hatte Europa Krieg nur noch mit Napoleon, nicht mehr mit Frankreich geführt. Doch nun wurden Reparationen fällig, die sich, wie Thierry Lentz ausrechnet, genau auf zwei Jahresbudgets des französischen Staatshaushalts summierten. Je, nun: Genau zwei Jahresbudgets, das war auch die Summe, die das Herzogtum Weimar 1806 nach der Niederlage von Jena und Auerstedt an Frankreich hatte zahlen müssen – beträchtliche Bestechungsgelder für Talleyrand nicht mitgerechnet.
Marian Füssel: Waterloo 1815. Verlag C.H. Beck (Reihe Beck-Wissen), München 2015. 127 Seiten, 8,95 Euro. E-Book: 7,99 Euro.
Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas. Aus dem Französischen von Frank Sievers. Siedler Verlag, Berlin 2014, 430 Seiten, 24,99 Euro. E-Book: 19,99 Eiro.
Munro Price: Napoleon. Der Untergang. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Heike Schlatterer. Siedler Verlag, Berlin 2015. 462 Seiten, 24,99 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Adam Zamoyski: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhart Stölting. Verlag C.H. Beck, München 2014. 704 S., 29,95 Euro. E-Book: 24,99 Euro.
Völker, die keine Dynastien
vorzuweisen hatten, fanden
keinen Ort im neuen System
Hätte Napoleon
einen Kompromissfrieden
schließen können?
Die Hundert Tage wurden zu
den teuersten Wochen
der französischen Geschichte
1881 malte Elizabeth Thompson „Scotland Forever!“ in Erinnerung an die schottische Kavallerie in der Schlacht von Waterloo, die zum Symbol für das Ende der napoleonischen Kriege geworden war.
Foto: o.H.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Napoleon ging nicht erst bei Waterloo unter:
Neue Bücher über Bonapartes Ende und die Neuordnung Europas vor 200 Jahren
VON GUSTAV SEIBT
Kein Sieg, sondern seine letzte große Niederlage wurde zur berühmtesten Schlacht Napoleons. Zehn Tage nach der Unterzeichnung der Schlussakte des Wiener Kongresses wurde die Epoche der Revolution am 18. Juni 1815 auch militärisch geschlossen. Dass Waterloo, so dramatisch-knapp der Ausgang der zweitägigen Riesenschlacht war und so mythisch sie durch Erinnerungskult und Literatur wurde, den Lauf der Weltgeschichte entscheidend bestimmt hat, darf man bezweifeln. Symbol und Ereignis sind hier nicht gleich wichtig.
Napoleon kämpfte politisch auf verlorenem Posten: Unmittelbar nachdem die Flucht des Kaisers aus Elba bekannt geworden war, hatten ihn die in Wien versammelten Mächte als „Feind und Störer des Weltfriedens an den öffentlichen Pranger der Welt gestellt“ und so für rechtlos erklärt. Jeder Separatfrieden mit ihm war danach ausgeschlossen. Den Anstoß zu diesem völkerrechtlich unerhörten Akt hatte Talleyrand gegeben, des französischen Königs Ludwig XVIII. Außenminister, der einen neuerlichen Regimewechsel in Paris und damit den Verlust seiner diplomatischen Erfolge für Frankreich verhindern wollte. Hätte Napoleon bei Waterloo gesiegt, dann wäre der Krieg weitergegangen, noch einmal blutig und schrecklich, aber bis zum Ende des „Satans“, zu dem der Paria der Völkergemeinschaft in den Augen des alten Europa geworden war.
Allerdings waren die konservativen Mächte nicht unschuldig an der blutigen Schlussepisode von Napoleons Militärdiktatur. Die ihm zugesagte Apanage wurde ihm von der neuen Pariser Bourbonenregierung nicht ausgezahlt, außerdem wurde zu laut über eine Entführung des Kaisers aus Elba an einen entlegeneren Ort debattiert – Napoleon konnte den Eindruck bekommen, er müsse die Flucht nach vorn antreten. Sein größter Fehler dabei war, dass er sechs Monate zu früh von Elba absegelte, stellt Thierry Lentz, einer der heute führenden französischen Historiker des Kaiserreichs in seiner klugen Geschichte des Wiener Kongresses fest. Noch waren die Monarchen und Minister Europas so vollzählig in Wien versammelt, dass sie schnell und entschieden reagieren konnten. So wurde die Episode von Waterloo zum ersten Test, zur Bluttaufe der neuen Ordnung, die auf Legitimität gegründet worden war.
Die großen politischen Linien hinter dem wechselhaften und schrecklichen Kampfgeschehen, das Marian Füssel gründlich, knapp und übersichtlich darlegt, sollten Besucher des Schlachtfelds kennen, die in diesem Sommer wohl besonders zahlreich nach Belgien reisen werden. Füssel streift sie nur, dabei sind sie weit weniger nebelhaft als die Kämpfe selbst, deren Undurchschaubarkeit schon Stendhal, Napoleons Erbe in der Literatur, auf unvergesslichen Seiten zum Thema machte.
Der Riesenvorgang zwischen dem Brand von Moskau und Waterloo hat seinen wirksamsten neuen Epiker in Adam Zamoyski gefunden, der beides erzählt, den militärischen Untergang Napoleons in den bis dahin größten Schlachten der Weltgeschichte und den mühsamen Neubau einer europäischen Ordnung erst in Paris 1814 und dann in Wien bis zum Sommer 1815.
So spannend die Militärgeschichte ist, für den politisch Interessierten sind die Probleme von Regimewechsel in Frankreich und Neuordnung Europas noch interessanter. Unerhörte Aufgaben waren hier zu bewältigen, nicht nur die Neuzeichnung der Landkarte mit allen Folgen für Gleichgewicht, Krieg und Frieden in Europa, sondern vor allem die moralisch-rechtliche Neufundierung der bis 1789 fraglos monarchischen Staatenordnung.
Bemerkenswert ist, dass der französische Historiker Lentz die Resultate von 1815 so viel positiver sieht als der polnische Brite Zamoyski. Französische Historiker hatten traditionell wenig übrig für den Wiener Kongress, der die Vormacht Frankreichs bis zum Ersten Weltkrieg einhegte und Preußen den Aufstieg zur deutschen Hegemonialmacht eröffnete – so sah man es jedenfalls. Lentz lobt wie früher angelsächsische Historiker, beispielsweise Henry Kissinger, die neue Sicherheitsstruktur und er tadelt vor allem England, die einzige „Supermacht“ des 19. Jahrhunderts, dafür, dass es diese Ordnung nicht konsequent unterstützt habe und damit am Ende preisgab – die Analogie zur heutigen Rolle der USA ist unüberhörbar.
Zamoyski sieht angewidert die vielen faulen Kompromisse, die an den Kabinettstischen über die Köpfe der Völker hinweg zustande kamen und die Saat neuer Konflikte legten. Gerecht ist es nicht, 1815 schon für 1914 haftbar zu machen, denn eine hundertjährige Struktur kann nicht ganz verfehlt gewesen sein.
Den grundlegenden Webfehler des Wiener Gespinstes formuliert Lentz mit größerer Klarheit als der literarisch so viel brillantere Zamoyski: Im neuen System der „Legitimität“, das der Wiener Kongress begründete, blieben alle Völker unvertreten, die keine Dynastie vorzuweisen hatten. Das galt paradox für die Deutschen, die viele Dynastien hatten, deutlich für die Italiener, die von auswärtigen Herrscherhäusern regiert wurden, vor allem aber für die Polen, die herrenloses Gut wurden und schon durch ihre schiere Existenz den vorläufigen und defensiven Charakter der Wiener Ordnung bezeugten: Für sie war buchstäblich kein Platz vorgesehen, wenn man Legitimität auf keinen Fall auf Volkssouveränität und Selbstbestimmung der Völker gründen wollte.
Trotzdem kann man fragen, ob es 1814/15 eine andere Möglichkeit als die Rückkehr zum legitimistischen Standpunkt hätte geben können. „Legitimität“ war ja nicht nur die Antwort auf die Revolution im Inneren der Staaten, sondern vor allem auf die Garantielosigkeit, die Napoleon in die zwischenstaatlichen Beziehungen gebracht hatte. Die innere Verfassung Frankreichs als einer auf militärischen Ruhm und charismatischen Erfolg gegründeten Imperialdiktatur war mit der Entrechtlichung der auswärtigen Beziehungen eine zu fatale, zu konsequente Verbindung eingegangen; das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzende Prinzip der Nation konnte die Staatsmänner in Wien nicht verlocken.
Dass schon Napoleon, wäre er besonnen gewesen, aufs Prinzip der Legitimität hätte umschwenken können, ist die These des britischen Historikers Munro Price, der das interessanteste neue Buch zum Untergang des Kaisers vorgelegt hat. Price untersucht den Zeitraum vom Russischen Feldzug bis zur ersten Abdankung Napoleons im April 1814 unter der Leitfrage, ob dieser einen Kompromissfrieden mit den europäischen Mächten hätte schließen können. Napoleon hat 1813 alle, vor allem von Österreich vorgetragenen Angebote ausgeschlagen, mit der Begründung, das französische Volk würde ihm ein Zurückgehen, eine Niederlage nicht verzeihen.
Dabei hätte das österreichische Kaiserhaus, das durch Napoleons zweite Frau, die habsburgische Prinzessin Marie-Louise, mit den Bonapartes verwandt geworden war, Frankreich bis zur Völkerschlacht von Leipzig die „natürlichen Grenzen“, also sogar die linksrheinischen deutschen Gebiete zugestanden. Nicht nur aus dynastischer Verbundenheit, sondern auch aus Furcht vor Russland wäre Metternich, Österreichs leitender Staatsmann, dazu bereit gewesen. Denn seit Ende 1812 stieß der Zar bis tief nach Mitteleuropa vor.
Price zeigt in minutiösen, auf viel ungedrucktes Material gestützten Analysen, wie Napoleon alle Kompromisse desavouierte, dabei im Widerspruch vor allem zu seinem besonnenen und loyalen Unterhändler Caulaincourt, einem Zögling Talleyrands, den die Intransigenz des Kaisers zur Verzweiflung und momentweise bis an den Rand des Verrats trieb. Die Zitate aus Caulaincourts unpubliziertem Nachlass werfen vielfach neues Licht auf diese so gründlich erforschte Epoche.
Noch wichtiger ist, dass Price als erster Historiker die Stimmungsberichte der Präfekten aus der französischen Provinz auswertet und zeigen kann, dass die Sehnsucht der Bevölkerung nach Frieden ihre Ruhmbegier längst überwunden hatte. Die versäumten Friedenschancen führten regelmäßig zu Verbitterung bei den Franzosen, denen Napoleon ein Frankreich ohne Vorherrschaft in Europa nicht zumuten wollte. Das Buch von Price ist voll von überraschenden Funden und es leistet, was gute Ereignisgeschichte immer soll: Es lässt die ausgeschlagenen anderen Möglichkeiten plastisch werden.
Für Price besteht der eigentliche Untergang Napoleons nicht in der überschätzten Episode der Hundert Tage, sondern in seinem politischen Versagen nach dem Russlandkrieg. Wer Geschichte nicht nur als farbiges Epos, sondern als Stoff zum Nachdenken versteht, wird um dieses Buch künftig nicht mehr herumkommen.
Dass nicht einmal eine Diktatur ohne Legitimitätsreserven auskommen kann, zeigte schon eine Verschwörung in Paris während der Zeit, als Napoleon in Russland war. Die Verschwörer arbeiteten mit der Fiktion des Todes von Napoleon und fälschten einen Beschluss des eigentlich machtlosen Senats des Kaiserreichs. Napoleon war vor allem darüber schockiert, dass nicht einer der Soldaten und Beamten, denen sein Tod verkündet worden war, an seinen Sohn gedacht hatte. Das bewies ihm, wie weit er noch von der Umstellung charismatischer auf dynastische Legitimität entfernt war und bestärkte ihn in seiner Kompromisslosigkeit.
Das aber war ein Fehler, zeigt Price. Im März 1814, als es darum ging, in Paris einen Regimewechsel ins Werk zu setzen, griff Talleyrand zwar auch wieder auf den Senat zurück, hätte aber eine Regentschaft der habsburgischen Kaiserin Marie-Louise für Napoleons vierjährigen Sohn der Rückkehr der Bourbonen entschieden vorgezogen. Eine solche Regentschaft hätte älteste dynastische Legitimität mit einem liberalen Regime vereinbaren können. Doch das verhinderte der Kaiser, der seine Gattin zwang, Paris in den entscheidenden Tagen zu verlassen. Talleyrand wurde um die Möglichkeit geprellt, ein neuer Mazarin zu werden, nach dem Vorbild jenes Kardinals, der die Regierung für den unmündigen Ludwig XIV. geführt hatte. Frankreich wäre mit einem solchen postrevolutionären Kompromiss zweifellos besser gefahren als mit der Restauration der Bourbonen.
Napoleons Hundert Tage wurden zu den teuersten Wochen der französischen Geschichte. Die günstigen Bedingungen, die Talleyrand im ersten Pariser Frieden für Frankreich ausgehandelt hatte, wurden nach Waterloo drastisch verschärft – nicht ganz logisch, wie Zamoyski tadelt, denn angeblich hatte Europa Krieg nur noch mit Napoleon, nicht mehr mit Frankreich geführt. Doch nun wurden Reparationen fällig, die sich, wie Thierry Lentz ausrechnet, genau auf zwei Jahresbudgets des französischen Staatshaushalts summierten. Je, nun: Genau zwei Jahresbudgets, das war auch die Summe, die das Herzogtum Weimar 1806 nach der Niederlage von Jena und Auerstedt an Frankreich hatte zahlen müssen – beträchtliche Bestechungsgelder für Talleyrand nicht mitgerechnet.
Marian Füssel: Waterloo 1815. Verlag C.H. Beck (Reihe Beck-Wissen), München 2015. 127 Seiten, 8,95 Euro. E-Book: 7,99 Euro.
Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas. Aus dem Französischen von Frank Sievers. Siedler Verlag, Berlin 2014, 430 Seiten, 24,99 Euro. E-Book: 19,99 Eiro.
Munro Price: Napoleon. Der Untergang. Aus dem Englischen von Enrico Heinemann und Heike Schlatterer. Siedler Verlag, Berlin 2015. 462 Seiten, 24,99 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Adam Zamoyski: 1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress. Aus dem Englischen von Ruth Keen und Erhart Stölting. Verlag C.H. Beck, München 2014. 704 S., 29,95 Euro. E-Book: 24,99 Euro.
Völker, die keine Dynastien
vorzuweisen hatten, fanden
keinen Ort im neuen System
Hätte Napoleon
einen Kompromissfrieden
schließen können?
Die Hundert Tage wurden zu
den teuersten Wochen
der französischen Geschichte
1881 malte Elizabeth Thompson „Scotland Forever!“ in Erinnerung an die schottische Kavallerie in der Schlacht von Waterloo, die zum Symbol für das Ende der napoleonischen Kriege geworden war.
Foto: o.H.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Ein ausgezeichnet geschriebenes, sehr präzises und reflektiertes Buch."
Cord Aschenbrenner, Neue Zürcher Zeitung, 13. Juni 2015
"Gründlich, knapp und übersichtlich."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 9. Juni 2015
Cord Aschenbrenner, Neue Zürcher Zeitung, 13. Juni 2015
"Gründlich, knapp und übersichtlich."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 9. Juni 2015