Hans Medicks Buch zur Geschichte von Laichingen, einem ländlichen Ort auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb, ist eine mikrohistorische Untersuchung einer lokalen Gesellschaft. Von der Diskussion über die sogenannte Proto-Industrialisierung ausgehend steht zunächst die hausindustrielle Leinenweberei im Vordergrund, gesehen im lokalen und in überlokalem Zusammenhang. Qualitätvolles handwerkliches Weben in Verbindung mit kleiner Landwirtschaft sicherte jahrhundertelang das Überleben. Untersucht werden die Besonderheiten der Ökonomie, soziale Strukturen, generative Verhaltensweisen, die Alltagskultur bis hin zur Bedeutung von Kleidung, Kleiderfarben und Buchlektüre, ebenso aber die Eigentümlichkeiten des Laichinger und des württembergischen Pietismus, die ihm eigene Frömmigkeit. Auf der Grundlage von Gewerbefleiß und kleinem Eigentum formte die religiöse Mentalität eine beharrungs- und anpassungsfähige Überlebenskultur.Das mikroanalytisch genaue Eingehen auf Handlungen und Lebensgeschichten einzelner Personen, generell auf vieles Einzelne in der Geschichte dieses württembergischen Leineweberorts nimmt Lokalgeschichte ernst. Diese wird aber fortlaufend mit übergreifenden Frage- und Problemstellungen verknüpft. Lokalgeschichte und zugleich umfassende Problemgeschichte: in diesem Spannungsfeld eröffnen sich neue Einsichten in historische Prozesse, erschließen sich Zusammenhänge der allgemeinen Geschichte. Das gilt für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, für historische Demographie und Kulturgeschichte, nicht zuletzt für die Frömmigkeits- und Kirchengeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.1996Lesen und Überleben
Weber gegen Weber: Hans Medick erhebt Laichingen zum Fixstern am Himmel der Historiker
Die feine Ironie des Augenblicks, die sich nicht planen läßt, stellt sich ein bei Betrachtung einer Publikation, die als grundsätzlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft verstanden werden will und die in der Publikationsreihe einer Institution erscheint, über welche die Mächtigen unseres Wissenschaftsbetriebs den Stab gebrochen haben. Hans Medick, Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, war einer der mutigeren Streiter in der Debatte um die Alltagsgeschichte, bei der eine damals jüngere Generation den großen Hansen der Sozialgeschichte die Stirn bot. Mit seiner Göttinger Habilitationsschrift versucht der Autor zu beweisen, daß es nicht darum ging, auch noch der letzten modischen Verkleidung der Muse Klio hinterherzupfeifen, sondern daß ebendiese Vielfalt der Garderobe essentieller Bestandteil ihrer Schönheit sei.
Der Autor schlägt mit seinem neuen Buch nicht die geebnete Bahn des Bekannten und Gewollten ein, sondern sucht seinen eigenen Weg. Er ist darin seinen erwählten Objekten nicht unähnlich, den pietistischen Webern auf der Schwäbischen Alb, wo die protestantische Ethik nicht zum Geist des Kapitalismus, sondern zum Ausharren auf dem kärglichen Pfad der Tugend geführt hat. Mit Akribie und Umsicht nutzt er die Chancen, welche im Übermaß sprudelnde Quellen eines auch heute noch unansehnlichen Ortes in "Schwäbisch-Sibirien" bieten. Medick verwendet das ganze methodische Arsenal der postmodernen Geschichtsforschung, von der Familienrekonstitution bis zur Mikrogeschichte, um die großen Theorien auszuhöhlen. Auch der Säulenheilige der deutschen Nachkriegshistoriographie fällt dieser Fakten- und Methodenflut zum Opfer. Medick weint ihm eine Träne nach, doch bei der Konfrontation Weber gegen Weber gilt seine Sympathie letztlich nicht dem großen Soziologen, sondern den mindestens ebenso eigensinnigen Einwohnern von Laichingen.
Gegen die "Weberei" theoriesuchender Historiker setzt Medick die konkrete Weberei, mit der die Einwohner Laichingens ihr Dasein fristeten und die zu spezifischen Überlebensstrategien führte. Angesichts der klimatischen Benachteiligung des Mittelgebirges bot in der frühen Neuzeit nur das Handwerk ein Auskommen. Da die Märkte fern waren, arbeiteten die Heimweber in Abhängigkeit von Zwischenhändlern, die die Rohstoffe lieferten, und sind damit jenem Phänomen der "Protoindustrialisierung" zuzurechnen, zu dessen Erforschung Medick vor einigen Jahren selbst maßgeblich beigetragen hat. Während damals gewissermaßen die Diagnose gestellt worden war, wird jetzt die Autopsie vorgenommen. Was bedeutete die marginale Existenz für die Betroffenen, welche Folgen hatte sie für die häusliche Ökonomie, die individuelle Lebensführung oder das religiöse Denken? Und welche Auswirkungen hatten andererseits die großen Ereignisse "der Geschichte" für diese Menschen, die Kriege, die Krisen, der säkulare Strukturwandel? In welchem Verhältnis stehen allgemeine Geschichte und Lokalgeschichte? Es sind solche methodologischen Fragen, die Medicks Untersuchung, neben der Fülle von Einzelergebnissen und dem ansprechenden diskursiven Stil, interessant machen.
Der Mikrokosmos des Weberdorfes stellt sich komplexer dar, als es vermutlich die zeitgenössischen Zentralbehörden des Herzogtums Württemberg je wahrgenommen haben. So unterschied sich nicht nur das generative Verhalten erheblich vom agrarischen Unterland, sondern auch seine Literalität. Getrieben durch ihren eigentümlichen Glauben, führte die Lesefreude dieser gewiß nicht akademisch gebildeten Leute zu einer Intensität des Bücherkonsums, der statistisch nur jenem in der Hauptstadt Stuttgart vergleichbar war. Die Nachlaßinventare des Ortes strafen alle Theorien über ein "Volk ohne Buch" Lügen, und Medick kann glaubhaft machen, daß auch auf der Mikroebene gilt, daß vor der Schlußfolgerung die Erforschung zu stehen habe.
Was so banal klingen mag, ist es nicht. Abgesehen von einigen wenigen gut untersuchten Dörfern wie Montaillou, Neckarhausen oder Unterfinning, besitzen wir keine ähnlich intensiven Studien über das Leben in der Vormoderne. So wird das Buch über Laichingen zu einem Fixstern am Himmel der Historiker werden. Medick ist nicht der Prophet, der den Weg in ein gelobtes Land weist. Eher trifft der Vergleich mit dem Ethnologen zu, der durch eine exemplarische Feldstudie Einblicke in eine Gesellschaft auf einem fremden Kontinent ermöglicht. Doch mehr als das: Ein deutscher Historiker unternimmt den Versuch, mit Lust an der Kontroverse und auf hohem darstellerischem Niveau die Ergebnisse eines langjährigen Experiments zu präsentieren, und vermittelt dadurch den besten Eindruck von der Qualität und Lebendigkeit der historiographischen Forschung in diesem Lande. WOLFGANG BEHRINGER
Hans Medick: "Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900". Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996. 708 S., Abb., geb., 124,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weber gegen Weber: Hans Medick erhebt Laichingen zum Fixstern am Himmel der Historiker
Die feine Ironie des Augenblicks, die sich nicht planen läßt, stellt sich ein bei Betrachtung einer Publikation, die als grundsätzlicher Beitrag zur Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft verstanden werden will und die in der Publikationsreihe einer Institution erscheint, über welche die Mächtigen unseres Wissenschaftsbetriebs den Stab gebrochen haben. Hans Medick, Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen, war einer der mutigeren Streiter in der Debatte um die Alltagsgeschichte, bei der eine damals jüngere Generation den großen Hansen der Sozialgeschichte die Stirn bot. Mit seiner Göttinger Habilitationsschrift versucht der Autor zu beweisen, daß es nicht darum ging, auch noch der letzten modischen Verkleidung der Muse Klio hinterherzupfeifen, sondern daß ebendiese Vielfalt der Garderobe essentieller Bestandteil ihrer Schönheit sei.
Der Autor schlägt mit seinem neuen Buch nicht die geebnete Bahn des Bekannten und Gewollten ein, sondern sucht seinen eigenen Weg. Er ist darin seinen erwählten Objekten nicht unähnlich, den pietistischen Webern auf der Schwäbischen Alb, wo die protestantische Ethik nicht zum Geist des Kapitalismus, sondern zum Ausharren auf dem kärglichen Pfad der Tugend geführt hat. Mit Akribie und Umsicht nutzt er die Chancen, welche im Übermaß sprudelnde Quellen eines auch heute noch unansehnlichen Ortes in "Schwäbisch-Sibirien" bieten. Medick verwendet das ganze methodische Arsenal der postmodernen Geschichtsforschung, von der Familienrekonstitution bis zur Mikrogeschichte, um die großen Theorien auszuhöhlen. Auch der Säulenheilige der deutschen Nachkriegshistoriographie fällt dieser Fakten- und Methodenflut zum Opfer. Medick weint ihm eine Träne nach, doch bei der Konfrontation Weber gegen Weber gilt seine Sympathie letztlich nicht dem großen Soziologen, sondern den mindestens ebenso eigensinnigen Einwohnern von Laichingen.
Gegen die "Weberei" theoriesuchender Historiker setzt Medick die konkrete Weberei, mit der die Einwohner Laichingens ihr Dasein fristeten und die zu spezifischen Überlebensstrategien führte. Angesichts der klimatischen Benachteiligung des Mittelgebirges bot in der frühen Neuzeit nur das Handwerk ein Auskommen. Da die Märkte fern waren, arbeiteten die Heimweber in Abhängigkeit von Zwischenhändlern, die die Rohstoffe lieferten, und sind damit jenem Phänomen der "Protoindustrialisierung" zuzurechnen, zu dessen Erforschung Medick vor einigen Jahren selbst maßgeblich beigetragen hat. Während damals gewissermaßen die Diagnose gestellt worden war, wird jetzt die Autopsie vorgenommen. Was bedeutete die marginale Existenz für die Betroffenen, welche Folgen hatte sie für die häusliche Ökonomie, die individuelle Lebensführung oder das religiöse Denken? Und welche Auswirkungen hatten andererseits die großen Ereignisse "der Geschichte" für diese Menschen, die Kriege, die Krisen, der säkulare Strukturwandel? In welchem Verhältnis stehen allgemeine Geschichte und Lokalgeschichte? Es sind solche methodologischen Fragen, die Medicks Untersuchung, neben der Fülle von Einzelergebnissen und dem ansprechenden diskursiven Stil, interessant machen.
Der Mikrokosmos des Weberdorfes stellt sich komplexer dar, als es vermutlich die zeitgenössischen Zentralbehörden des Herzogtums Württemberg je wahrgenommen haben. So unterschied sich nicht nur das generative Verhalten erheblich vom agrarischen Unterland, sondern auch seine Literalität. Getrieben durch ihren eigentümlichen Glauben, führte die Lesefreude dieser gewiß nicht akademisch gebildeten Leute zu einer Intensität des Bücherkonsums, der statistisch nur jenem in der Hauptstadt Stuttgart vergleichbar war. Die Nachlaßinventare des Ortes strafen alle Theorien über ein "Volk ohne Buch" Lügen, und Medick kann glaubhaft machen, daß auch auf der Mikroebene gilt, daß vor der Schlußfolgerung die Erforschung zu stehen habe.
Was so banal klingen mag, ist es nicht. Abgesehen von einigen wenigen gut untersuchten Dörfern wie Montaillou, Neckarhausen oder Unterfinning, besitzen wir keine ähnlich intensiven Studien über das Leben in der Vormoderne. So wird das Buch über Laichingen zu einem Fixstern am Himmel der Historiker werden. Medick ist nicht der Prophet, der den Weg in ein gelobtes Land weist. Eher trifft der Vergleich mit dem Ethnologen zu, der durch eine exemplarische Feldstudie Einblicke in eine Gesellschaft auf einem fremden Kontinent ermöglicht. Doch mehr als das: Ein deutscher Historiker unternimmt den Versuch, mit Lust an der Kontroverse und auf hohem darstellerischem Niveau die Ergebnisse eines langjährigen Experiments zu präsentieren, und vermittelt dadurch den besten Eindruck von der Qualität und Lebendigkeit der historiographischen Forschung in diesem Lande. WOLFGANG BEHRINGER
Hans Medick: "Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900". Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996. 708 S., Abb., geb., 124,- DM.
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