Die Fehler der anderen...
Konrad Weber ist stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, 1943 eine scheinbar friedliche Enklave, die ihn vor dem Alltag der nationalsozialistischen Diktatur und dem Krieg schützt. Nach der Pensionierung seines Vorgesetzten wird ihm zunächst ein im diplomatischen Dienst unerfahrener, weit jüngerer NS-Gefolgsmann vor die Nase gesetzt. Dieser deckt Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern auf, die in den Verantwortungsbereich Webers fallen. Wendler, ein Bekannter von Weber, hilft ihm. Jedoch nicht ohne eigenen Vorteil ...
Konrad Weber ist stellvertretender Leiter des deutschen Generalkonsulats in Mailand, 1943 eine scheinbar friedliche Enklave, die ihn vor dem Alltag der nationalsozialistischen Diktatur und dem Krieg schützt. Nach der Pensionierung seines Vorgesetzten wird ihm zunächst ein im diplomatischen Dienst unerfahrener, weit jüngerer NS-Gefolgsmann vor die Nase gesetzt. Dieser deckt Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern auf, die in den Verantwortungsbereich Webers fallen. Wendler, ein Bekannter von Weber, hilft ihm. Jedoch nicht ohne eigenen Vorteil ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2009Bauer im Geschichtsspiel
Aus reinem Eigennutz wird ein deutscher Diplomat im Nationalsozialismus zum Fluchthelfer von verfolgten Juden. Nora Bossong erzählt von den Falltüren der Moral und der Deutungsmacht über die Vergangenheit.
Adesso non posso più." - "Jetzt kann ich nicht mehr." Konrad Weber, einem jungen deutschen Diplomaten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, geht dieser Satz umso häufiger durch den Kopf, je enger sich ein Netz der Verzweiflung um ihn zusammenzieht. "Webers Protokoll" - der Titel von Nora Bossongs zweitem Roman suggeriert, es handele sich hier um einen schriftlichen Bericht, der Fakten zusammenträgt. Doch diese Erwartung wird sofort durchkreuzt.
Auf der Suche nach Webers Geschichte stößt die namenlose junge Ich-Erzählerin auf einen inzwischen uralten Kollegen, der Weber gekannt haben will. Im Gespräch der beiden über den einstigen Vizekonsul an der deutschen Botschaft in Italien, das die Rahmenhandlung bildet und sich im Verlauf des Romans regelrecht zu einem Streit um die Erzählhoheit auswächst, vermischen sich die gesicherten Tatsachen mit Spekulationen und Interpretationen. Im Wechsel mehrerer Zeitebenen setzt sich zwar der Ablauf der historischen Ereignisse zusammen, das Charakterbild Webers bleibt jedoch changierend.
Was hat es mit diesem Weber auf sich? Im Jahr 1943 als Diplomat in Mailand tätig und sich in Italien der direkten Beobachtung durch die nationalsozialistischen Machthaber entzogen wähnend, veruntreut er Gelder und transferiert sie in die Schweiz. Als ein junger, linientreuer Nationalsozialist sein Vorgesetzter wird und Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern bemerkt, verhilft Weber gegen Bezahlung Juden zur Flucht und muss sich, dadurch selbst immer mehr in Bedrängnis geratend, schließlich in die Schweiz absetzen. Auch nach Ende des nationalsozialistischen Regimes ziehen seine dem Eigennutz entsprungenen Handlungen weiter Kreise. Beim Versuch, im diplomatischen Dienst der neugegründeten Bundesrepublik erneut Fuß zu fassen, wird Weber von seiner Vergangenheit wieder eingeholt.
Der mutmaßlich fiktiven Figur Weber wird im Roman die historische Figur des Eugenio Pacelli gegenübergestellt, der 1917 zunächst als Botschafter des Papstes in Bayern, später als Nuntius für das gesamte Deutsche Reich tätig war, 1939 zum Papst Pius XII. erhoben wurde und dessen politische Position im Nationalsozialismus bis heute umstritten ist. Weltliche und geistliche Diplomatie sind in "Webers Protokoll" zwei Seiten einer Medaille. Das titelgebende "Protokoll", so stellt sich im Laufe der Lektüre heraus, lässt in seiner zweiten Wortbedeutung auch die Frage nach angemessenem Verhalten, nach der Moralität des Individuums und nach geschichtlicher Deutungsmacht anklingen.
Die Motive für Webers Handeln mögen verwerflich sein, ihre drastischen Konsequenzen erschüttern dennoch. Weber erscheint schwach und hilflos, allzu menschlich, "versteht man die Menschlichkeit als arithmetisches Mittel aus allem, was die Menschheit so an Handlung hervorbringt", wie der alte Diplomat es im Gespräch formuliert.
Der aus szenischen Bruchstücken und subtil beschriebenen Begegnungen spannungsreich komponierte Roman gewinnt so eine Dimension, in der die den Ereignissen zugrundeliegenden Strukturen lesbar, Muster von Machtspielen und -mechanismen, von Täuschung und Selbsttäuschung sichtbar werden.
Dabei ist gerade eine Qualität des Romans, dass gewisse Fragen offenbleiben: Ist Weber der Prototyp des nichtswürdigen Mitläufers? Einer, dessen Moral von seinem Vorteilsdenken diktiert wird? Oder ein bemitleidenswerter Bauer im Spiel der Geschichte? Der Schachmetapher kommt eine wichtige Rolle zu. An der Partie, die als "Perle von Zandvoort" Schachgeschichte geschrieben hat und die bis zum entscheidenden Zug in Webers Wohnung nachgestellt ist, wird in der Binnenhandlung das historische Geschehen "nachgespielt": Man kann hier im Spiel nachvollziehen, wie das zunächst harmlos scheinende Verhalten des Diplomaten zur Niederlage führt, er seine Geschichte auslöschen möchte, sich wünscht, "ein schwarzer Läufer auf einem schwarzen Feld zu sein, so flach an den Boden gedrückt, dass man ihn übersieht".
Das Schachspiel, ein in der Literaturgeschichte - etwa in Stefan Zweigs "Schachnovelle", Vladimir Nabokovs "Lushins Verteidigung" oder Samuel Becketts "Murphy" - wichtiges Motiv, ist nur eines von mehreren, durch die der Roman eine raffinierte Vieldeutigkeit erzielt, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Autorin ist selbst einer Schachmeisterin würdig.
"Adesso non posso più." - Nora Bossong ist in ihrem literarischen Schaffen weit von diesem Satz entfernt. Die 1982 in Bremen geborene Autorin hat mit "Webers Protokoll" die Erwartungen noch weit übertroffen, die ihr mit Kritikerlob und dem Jürgen-Ponto-Preis bedachter Romanerstling "Gegend" aus dem Jahr 2006 geweckt hat. Komponiert mit den Spannungsmomenten eines Krimis, dem Erkenntnisanspruch philosophischer Fragestellungen, mit historischer Akribie und psychologischem Spürsinn, lässt sich dieser beeindruckende Roman doch auf keines dieser Momente reduzieren. "Webers Protokoll" ist ein Buch, dem man Beachtung über einen literarischen Frühling hinaus wünscht.
BEATE TRÖGER
Nora Bossong: "Webers Protokoll". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus reinem Eigennutz wird ein deutscher Diplomat im Nationalsozialismus zum Fluchthelfer von verfolgten Juden. Nora Bossong erzählt von den Falltüren der Moral und der Deutungsmacht über die Vergangenheit.
Adesso non posso più." - "Jetzt kann ich nicht mehr." Konrad Weber, einem jungen deutschen Diplomaten in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, geht dieser Satz umso häufiger durch den Kopf, je enger sich ein Netz der Verzweiflung um ihn zusammenzieht. "Webers Protokoll" - der Titel von Nora Bossongs zweitem Roman suggeriert, es handele sich hier um einen schriftlichen Bericht, der Fakten zusammenträgt. Doch diese Erwartung wird sofort durchkreuzt.
Auf der Suche nach Webers Geschichte stößt die namenlose junge Ich-Erzählerin auf einen inzwischen uralten Kollegen, der Weber gekannt haben will. Im Gespräch der beiden über den einstigen Vizekonsul an der deutschen Botschaft in Italien, das die Rahmenhandlung bildet und sich im Verlauf des Romans regelrecht zu einem Streit um die Erzählhoheit auswächst, vermischen sich die gesicherten Tatsachen mit Spekulationen und Interpretationen. Im Wechsel mehrerer Zeitebenen setzt sich zwar der Ablauf der historischen Ereignisse zusammen, das Charakterbild Webers bleibt jedoch changierend.
Was hat es mit diesem Weber auf sich? Im Jahr 1943 als Diplomat in Mailand tätig und sich in Italien der direkten Beobachtung durch die nationalsozialistischen Machthaber entzogen wähnend, veruntreut er Gelder und transferiert sie in die Schweiz. Als ein junger, linientreuer Nationalsozialist sein Vorgesetzter wird und Unstimmigkeiten in den Rechnungsbüchern bemerkt, verhilft Weber gegen Bezahlung Juden zur Flucht und muss sich, dadurch selbst immer mehr in Bedrängnis geratend, schließlich in die Schweiz absetzen. Auch nach Ende des nationalsozialistischen Regimes ziehen seine dem Eigennutz entsprungenen Handlungen weiter Kreise. Beim Versuch, im diplomatischen Dienst der neugegründeten Bundesrepublik erneut Fuß zu fassen, wird Weber von seiner Vergangenheit wieder eingeholt.
Der mutmaßlich fiktiven Figur Weber wird im Roman die historische Figur des Eugenio Pacelli gegenübergestellt, der 1917 zunächst als Botschafter des Papstes in Bayern, später als Nuntius für das gesamte Deutsche Reich tätig war, 1939 zum Papst Pius XII. erhoben wurde und dessen politische Position im Nationalsozialismus bis heute umstritten ist. Weltliche und geistliche Diplomatie sind in "Webers Protokoll" zwei Seiten einer Medaille. Das titelgebende "Protokoll", so stellt sich im Laufe der Lektüre heraus, lässt in seiner zweiten Wortbedeutung auch die Frage nach angemessenem Verhalten, nach der Moralität des Individuums und nach geschichtlicher Deutungsmacht anklingen.
Die Motive für Webers Handeln mögen verwerflich sein, ihre drastischen Konsequenzen erschüttern dennoch. Weber erscheint schwach und hilflos, allzu menschlich, "versteht man die Menschlichkeit als arithmetisches Mittel aus allem, was die Menschheit so an Handlung hervorbringt", wie der alte Diplomat es im Gespräch formuliert.
Der aus szenischen Bruchstücken und subtil beschriebenen Begegnungen spannungsreich komponierte Roman gewinnt so eine Dimension, in der die den Ereignissen zugrundeliegenden Strukturen lesbar, Muster von Machtspielen und -mechanismen, von Täuschung und Selbsttäuschung sichtbar werden.
Dabei ist gerade eine Qualität des Romans, dass gewisse Fragen offenbleiben: Ist Weber der Prototyp des nichtswürdigen Mitläufers? Einer, dessen Moral von seinem Vorteilsdenken diktiert wird? Oder ein bemitleidenswerter Bauer im Spiel der Geschichte? Der Schachmetapher kommt eine wichtige Rolle zu. An der Partie, die als "Perle von Zandvoort" Schachgeschichte geschrieben hat und die bis zum entscheidenden Zug in Webers Wohnung nachgestellt ist, wird in der Binnenhandlung das historische Geschehen "nachgespielt": Man kann hier im Spiel nachvollziehen, wie das zunächst harmlos scheinende Verhalten des Diplomaten zur Niederlage führt, er seine Geschichte auslöschen möchte, sich wünscht, "ein schwarzer Läufer auf einem schwarzen Feld zu sein, so flach an den Boden gedrückt, dass man ihn übersieht".
Das Schachspiel, ein in der Literaturgeschichte - etwa in Stefan Zweigs "Schachnovelle", Vladimir Nabokovs "Lushins Verteidigung" oder Samuel Becketts "Murphy" - wichtiges Motiv, ist nur eines von mehreren, durch die der Roman eine raffinierte Vieldeutigkeit erzielt, die sich auch nach wiederholter Lektüre nicht erschöpft. Die Beobachtungs- und Kombinationsgabe der Autorin ist selbst einer Schachmeisterin würdig.
"Adesso non posso più." - Nora Bossong ist in ihrem literarischen Schaffen weit von diesem Satz entfernt. Die 1982 in Bremen geborene Autorin hat mit "Webers Protokoll" die Erwartungen noch weit übertroffen, die ihr mit Kritikerlob und dem Jürgen-Ponto-Preis bedachter Romanerstling "Gegend" aus dem Jahr 2006 geweckt hat. Komponiert mit den Spannungsmomenten eines Krimis, dem Erkenntnisanspruch philosophischer Fragestellungen, mit historischer Akribie und psychologischem Spürsinn, lässt sich dieser beeindruckende Roman doch auf keines dieser Momente reduzieren. "Webers Protokoll" ist ein Buch, dem man Beachtung über einen literarischen Frühling hinaus wünscht.
BEATE TRÖGER
Nora Bossong: "Webers Protokoll". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als "schillerndes Vexierspiel" beschreibt Rezensent Wend Kässens diesen aus seiner Sicht "etwas überorchestrierten" Roman der jungen Berliner Autorin, der seinen Informationen zufolge die Nazi-Verstrickung des Auswärtigen Amtes zum Thema mache. Im Zentrum stehe eine verstrickte Figur und der Versuch, ein Leben neu zu erfinden, bei dessen Komposition Nora Bossong dem Eindruck Kässens' zufolge auch ein bisschen bei Max Frisch abgeschaut hat. Denn sie erfinde eine junge Frau, die mehr über diesen Dr. Weber zu wissen vorgebe und an deren Spuren sie sich als Erzählerin hefte. Insgesamt kann er dem entstandenen labyrinthischen Entwurf aus Vor- und Rückblenden, harten Schnitten und unterschiedlichen Schrifttypen dennoch nur teilweise etwas abgewinnen - nämlich dann, wenn sich Geschehenes und Gespiegeltes zu einer Geschichte ordnet, in der der Mensch Weber erkennbar werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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