Beneidenswert: Diese Frau erwacht morgens in eine Welt, die auf sie wartet. Sie tritt zum Frühstück aus dem Haus und will verführt werden. Schon auf dem Weg lacht man ihr entgegen und will sie küssen. Sie wird überall bemerkt, es mangelt nicht an Zuwendung. Jene, die sie vor neun Uhr küssen wollen, sind immer bereits hellwach und voller Wünsche, sie belagern die Stadt an allen Zufahrtsstraßen.
Zwölf Jahre nach dem Zeitenwechsel, da die Welt endlich wieder eine Kugel ist, also ohne Anfang und Ende, herrscht an Freunden kein Mangel - ein Zuwachs an Leben, mit dem sie nicht gerechnet hatte, grenzenlos auch er.
So erfüllt sie früh am Morgen, wie einst, die Neugier auf alles. Aber schon in der nächsten Kaffeebar verliert sie, was einmal ihre Stärke war. Alle sehen gut aus und verströmen Düfte, die man auf weißen Streifen in den Eingangszonen der Kaufhäuser probieren kann. Mehr will niemand über die anderen wissen. Auch sie nicht.
Weggeküßt ist ein Buch über das Verlangen.Es erzählt mit der Angela Krauß eigenen poetischen Kraft und Leichtigkeit von den hektischen Pendelbewegungen der Lust, von schier überquellender Fülle, die den Mangel kaum spürbar werden läßt, von artistischen Versuchen, Unfreiheit wie Freiheit zu beherrschen, und von der seltsamen Welt der Tiere im Zoo.
Zwölf Jahre nach dem Zeitenwechsel, da die Welt endlich wieder eine Kugel ist, also ohne Anfang und Ende, herrscht an Freunden kein Mangel - ein Zuwachs an Leben, mit dem sie nicht gerechnet hatte, grenzenlos auch er.
So erfüllt sie früh am Morgen, wie einst, die Neugier auf alles. Aber schon in der nächsten Kaffeebar verliert sie, was einmal ihre Stärke war. Alle sehen gut aus und verströmen Düfte, die man auf weißen Streifen in den Eingangszonen der Kaufhäuser probieren kann. Mehr will niemand über die anderen wissen. Auch sie nicht.
Weggeküßt ist ein Buch über das Verlangen.Es erzählt mit der Angela Krauß eigenen poetischen Kraft und Leichtigkeit von den hektischen Pendelbewegungen der Lust, von schier überquellender Fülle, die den Mangel kaum spürbar werden läßt, von artistischen Versuchen, Unfreiheit wie Freiheit zu beherrschen, und von der seltsamen Welt der Tiere im Zoo.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Im Auge des Elches
Grellwach: Angela Krauß zählt Jahresringe / Von Jörg Magenau
Seit ihrem Debüt im Jahr 1982, damals noch in der DDR, schreibt Angela Krauß erfreulich schmale Bücher, und sie läßt sich Zeit dafür. Auch in ihrer siebten Prosa-Veröffentlichung entwickelt sie keinen Ehrgeiz als epische Erzählerin. "Weggeküßt", ein Buch ohne Gattungsbezeichnung, ist eine Prosa-Dichtung, sofern dichten etwas mit verdichten zu tun hat. Ein Handlungsgerüst gibt es nicht. Alles Ereignishafte ist durch Wahrnehmung ersetzt. Die Weitergabe eines geheimnisvollen Briefes, der am Ende wiederauftaucht und ins Löwengehege des Zoos fällt, ist eher die Karikatur einer Handlung, als tatsächliches Geschehen. Die rund hundert Seiten unterteilen sich in acht knappe Kapitel; Jedes Stück läßt sich wie eine kostbare Miniatur für sich betrachten, erhält aber eine andere Bedeutung, stellt man es in den Zusammenhang des gesamten Textes.
Im Mittelpunkt des Buches steht eine Konditorei: der Mittelpunkt der Welt. Hier geschieht nicht viel. Die Ich-Erzählerin, täglicher Gast seit Jahren, kennt die dicke Frau hinter dem Tresen, die Trüffelschnecken und Mandelhörnchen ordnet. Sie erfreut sich an flüchtigen Begegnungen, registriert den Duft der Parfüms oder die Schlagzeilen der Zeitungen. Oder sie begegnet sich selbst im Spiegel an der Wand. Die eigene Gestalt ist unscharf, als liefe pausenlos Wasser über das Spiegelglas.
Auch eine klare Chronologie sucht man vergebens. Es gibt eigentlich nur die große Zeitscheide von 1989, die alle Momente auf ein Vorher und ein Nachher verteilt, auf eine abgeschlossene Vergangenheit und eine offene, endlose Gegenwart. Diese Gegenwart wird geradezu stürmisch begrüßt. Bedauern gilt allenfalls der Tatsache, daß auch "die Vergangenheit der Verwahrlosung anheim fällt, wie Orte und Menschen." Die Bekanntschaften aus der Zeit, die "neuerdings versiegelt und in die Geschichte eingeordnet ist", haben sich in den letzten zwölf Jahren spürbar verändert. Die meisten Menschen sind jünger geworden und wirken, auch wenn sie aus der Bahn geworfen wurden, straffer und reaktionsschneller. "Sie können nicht mehr verbergen, daß sie es aufgegeben haben, etwas Zusammenhängendes vorweisen zu wollen", glaubt die Erzählerin. Sie hat gelernt, das als einen Fortschritt zu empfinden. Ohne Lebenslügen strafft sich die Haut.
Die Welt läßt sich einteilen in Menschen, Dinge und Tiere, in Subjekte und Objekte, Wahrnehmende und Wahrgenommene. Die Grenzen sind durchlässig und fließend. Die Ich-Erzählerin, die am Anfang zu Hause im Bett erwacht, sieht sich plötzlich von den Dingen um sich herum verlassen. Wie tot stehen Stuhl und Tisch und Schrank, und der Spiegel, der für gewöhnlich die Augen verdreht, wirkt blind. Immer wieder geht es um Momente der Spiegelung, vielleicht deshalb, weil Spiegel zu den seltenen Dingen gehören, die zurückschauen, wenn man hineinblickt. Georg Lukács' Widerspiegelungstheorie, die in der DDR lange Zeit herrschende Literaturdoktrin war, wird bei Angela Krauß wörtlich genommen und damit zur Parodie.
Objekte erscheinen als Subjekte, Subjekte als Objekte. Kaum verläßt die Erzählerin das Haus, wird sie zur Angeschauten, die sich wehren muß, um vor den Blicken einer Welt voller aufdringlicher Dinge zu bestehen. Die Menschen, die da früh am Morgen herumgehen, sind von geradezu niederschmetternder Wachheit. Die Ich-Erzählerin fühlt sich angesichts dieser Freundlichkeitsattacken einfach "weggeküßt". Sie hat "nichts Trennendes zu überwinden". Sie öffnet sich der Welt, weil sie aufgeht im Wahrnehmen der Dinge, Menschen, Tiere.
Die nach der Wende entstandenen Bücher von Angela Krauß sind Selbstversuche einer Ostdeutschen, um die Wahrnehmungsveränderungen nach 1989 zu registrieren. Wie verändert sich die Dingwelt, nachdem sie zur Warenwelt geworden ist? Wie verändert sich der eigene Blick? Grunderfahrung in jeder Lebenslage ist eine neue Grenzenlosigkeit. Sie wird zur Metapher und zu einer Art Naturzustand. In der Erzählung "Die Überfliegerin" von 1995 mußten die Zumutungen der schrecklich bunten kapitalistischen Welt noch zurückgewiesen werden. In "Weggeküßt" liegt die Herausforderung darin, sich im Wahrnehmungschaos heimisch zu fühlen. Alles ist möglich: "Wenn der Mensch Lust hat, kann er alles tun, es fehlt an nichts, Tag und Nacht, bei jedem Wetter. Wenn er keine Lust hat, kann er nichts tun, gar nichts." Angela Krauß' Erzählerin aber ist voller Lust und Leidenschaft und tut trotzdem nichts. Sie bleibt auf Beobachtungsposten.
Gleich gegenüber der Wohnung der Erzählerin liegt der Zoo - neben der Konditorei der zweite exponierte Ort des Müßiggangs. Nirgendwo sonst starren Lebewesen sich so schamlos an wie hier, über den tiefen Graben zwischen Mensch und Tier hinweg. Die Tiere sind dinghaft und so fremd, daß man ihnen gegenüber endlich aus der Pflicht, zu verstehen, entlassen ist. Der Elcheber zum Beispiel besitzt einen regelmäßig gewulsteten Rücken "wie ein geschnürtes Fleischstück" und eine "tütenförmige, rüsselartige Schnauze". Er guckt immer nach oben, ohne den Kopf zu heben, "die helle Iris bis hinauf in den Lidrand gedreht. Er ist ewig, nicht einmal bewundert will er werden; seine Augen schwimmen fort." Auch die Krähen, die sich in Scharen in den Bäumen niederlassen, blicken herab, "als sei alles entschieden". Die Erzählerin weiß: Die Tiere kennen sich aus. "Sie sind sich einer Sache sicher, von der ich nichts weiß." Sie sind, was sie sind. In der Beschreibung der Tiere gelingen Angela Krauß wunderbar geschliffene Sätze, die das ganze Rätsel des Lebens zu umfassen scheinen, ohne es zu verraten.
"Weggeküßt" ist der Versuch, eine Ordnung herzustellen, ohne damit die Welt zu verändern. Vorbildlich ist der Briefträger, der alles zählt, was ihm begegnet: Bäume, Autos, Masten, Menschen. Die Zahl ist die nüchternste Ordnungsmaßnahme. Sie funktioniert als sachlicher Gegensatz zur Ideologie. Schlichtes Zählen schließt Wertung und Urteil aus. Jedes Ding ist, was es ist. Das ist auch das Verfahren, das Angela Krauß im Schreiben anwendet. In ihren Prosaminiaturen ersetzt sie das Erzählen durch das Aufzählen. Sie erstrebt keinen Realismus der Abbildung. Sie möchte den Dingen keine Gewalt antun, indem sie sie in einen Zusammenhang bringt. Sie umkreist hartnäckig den entscheidenden Akt des Wahrnehmens. Das ist der kurze, offene Moment, bevor die Dinge in ihre Bedeutungen zurückfallen. Die Sinne sind alles. Einen anderen Sinn gibt es nicht. Aber schon das Zählen kann einen Menschen überfordern. Als ein riesiger Krähenschwarm von Osten her die Stadt überquert, stürzt der Briefträger zählend vom Rad.
Angela Krauß: "Weggeküßt". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 105 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Grellwach: Angela Krauß zählt Jahresringe / Von Jörg Magenau
Seit ihrem Debüt im Jahr 1982, damals noch in der DDR, schreibt Angela Krauß erfreulich schmale Bücher, und sie läßt sich Zeit dafür. Auch in ihrer siebten Prosa-Veröffentlichung entwickelt sie keinen Ehrgeiz als epische Erzählerin. "Weggeküßt", ein Buch ohne Gattungsbezeichnung, ist eine Prosa-Dichtung, sofern dichten etwas mit verdichten zu tun hat. Ein Handlungsgerüst gibt es nicht. Alles Ereignishafte ist durch Wahrnehmung ersetzt. Die Weitergabe eines geheimnisvollen Briefes, der am Ende wiederauftaucht und ins Löwengehege des Zoos fällt, ist eher die Karikatur einer Handlung, als tatsächliches Geschehen. Die rund hundert Seiten unterteilen sich in acht knappe Kapitel; Jedes Stück läßt sich wie eine kostbare Miniatur für sich betrachten, erhält aber eine andere Bedeutung, stellt man es in den Zusammenhang des gesamten Textes.
Im Mittelpunkt des Buches steht eine Konditorei: der Mittelpunkt der Welt. Hier geschieht nicht viel. Die Ich-Erzählerin, täglicher Gast seit Jahren, kennt die dicke Frau hinter dem Tresen, die Trüffelschnecken und Mandelhörnchen ordnet. Sie erfreut sich an flüchtigen Begegnungen, registriert den Duft der Parfüms oder die Schlagzeilen der Zeitungen. Oder sie begegnet sich selbst im Spiegel an der Wand. Die eigene Gestalt ist unscharf, als liefe pausenlos Wasser über das Spiegelglas.
Auch eine klare Chronologie sucht man vergebens. Es gibt eigentlich nur die große Zeitscheide von 1989, die alle Momente auf ein Vorher und ein Nachher verteilt, auf eine abgeschlossene Vergangenheit und eine offene, endlose Gegenwart. Diese Gegenwart wird geradezu stürmisch begrüßt. Bedauern gilt allenfalls der Tatsache, daß auch "die Vergangenheit der Verwahrlosung anheim fällt, wie Orte und Menschen." Die Bekanntschaften aus der Zeit, die "neuerdings versiegelt und in die Geschichte eingeordnet ist", haben sich in den letzten zwölf Jahren spürbar verändert. Die meisten Menschen sind jünger geworden und wirken, auch wenn sie aus der Bahn geworfen wurden, straffer und reaktionsschneller. "Sie können nicht mehr verbergen, daß sie es aufgegeben haben, etwas Zusammenhängendes vorweisen zu wollen", glaubt die Erzählerin. Sie hat gelernt, das als einen Fortschritt zu empfinden. Ohne Lebenslügen strafft sich die Haut.
Die Welt läßt sich einteilen in Menschen, Dinge und Tiere, in Subjekte und Objekte, Wahrnehmende und Wahrgenommene. Die Grenzen sind durchlässig und fließend. Die Ich-Erzählerin, die am Anfang zu Hause im Bett erwacht, sieht sich plötzlich von den Dingen um sich herum verlassen. Wie tot stehen Stuhl und Tisch und Schrank, und der Spiegel, der für gewöhnlich die Augen verdreht, wirkt blind. Immer wieder geht es um Momente der Spiegelung, vielleicht deshalb, weil Spiegel zu den seltenen Dingen gehören, die zurückschauen, wenn man hineinblickt. Georg Lukács' Widerspiegelungstheorie, die in der DDR lange Zeit herrschende Literaturdoktrin war, wird bei Angela Krauß wörtlich genommen und damit zur Parodie.
Objekte erscheinen als Subjekte, Subjekte als Objekte. Kaum verläßt die Erzählerin das Haus, wird sie zur Angeschauten, die sich wehren muß, um vor den Blicken einer Welt voller aufdringlicher Dinge zu bestehen. Die Menschen, die da früh am Morgen herumgehen, sind von geradezu niederschmetternder Wachheit. Die Ich-Erzählerin fühlt sich angesichts dieser Freundlichkeitsattacken einfach "weggeküßt". Sie hat "nichts Trennendes zu überwinden". Sie öffnet sich der Welt, weil sie aufgeht im Wahrnehmen der Dinge, Menschen, Tiere.
Die nach der Wende entstandenen Bücher von Angela Krauß sind Selbstversuche einer Ostdeutschen, um die Wahrnehmungsveränderungen nach 1989 zu registrieren. Wie verändert sich die Dingwelt, nachdem sie zur Warenwelt geworden ist? Wie verändert sich der eigene Blick? Grunderfahrung in jeder Lebenslage ist eine neue Grenzenlosigkeit. Sie wird zur Metapher und zu einer Art Naturzustand. In der Erzählung "Die Überfliegerin" von 1995 mußten die Zumutungen der schrecklich bunten kapitalistischen Welt noch zurückgewiesen werden. In "Weggeküßt" liegt die Herausforderung darin, sich im Wahrnehmungschaos heimisch zu fühlen. Alles ist möglich: "Wenn der Mensch Lust hat, kann er alles tun, es fehlt an nichts, Tag und Nacht, bei jedem Wetter. Wenn er keine Lust hat, kann er nichts tun, gar nichts." Angela Krauß' Erzählerin aber ist voller Lust und Leidenschaft und tut trotzdem nichts. Sie bleibt auf Beobachtungsposten.
Gleich gegenüber der Wohnung der Erzählerin liegt der Zoo - neben der Konditorei der zweite exponierte Ort des Müßiggangs. Nirgendwo sonst starren Lebewesen sich so schamlos an wie hier, über den tiefen Graben zwischen Mensch und Tier hinweg. Die Tiere sind dinghaft und so fremd, daß man ihnen gegenüber endlich aus der Pflicht, zu verstehen, entlassen ist. Der Elcheber zum Beispiel besitzt einen regelmäßig gewulsteten Rücken "wie ein geschnürtes Fleischstück" und eine "tütenförmige, rüsselartige Schnauze". Er guckt immer nach oben, ohne den Kopf zu heben, "die helle Iris bis hinauf in den Lidrand gedreht. Er ist ewig, nicht einmal bewundert will er werden; seine Augen schwimmen fort." Auch die Krähen, die sich in Scharen in den Bäumen niederlassen, blicken herab, "als sei alles entschieden". Die Erzählerin weiß: Die Tiere kennen sich aus. "Sie sind sich einer Sache sicher, von der ich nichts weiß." Sie sind, was sie sind. In der Beschreibung der Tiere gelingen Angela Krauß wunderbar geschliffene Sätze, die das ganze Rätsel des Lebens zu umfassen scheinen, ohne es zu verraten.
"Weggeküßt" ist der Versuch, eine Ordnung herzustellen, ohne damit die Welt zu verändern. Vorbildlich ist der Briefträger, der alles zählt, was ihm begegnet: Bäume, Autos, Masten, Menschen. Die Zahl ist die nüchternste Ordnungsmaßnahme. Sie funktioniert als sachlicher Gegensatz zur Ideologie. Schlichtes Zählen schließt Wertung und Urteil aus. Jedes Ding ist, was es ist. Das ist auch das Verfahren, das Angela Krauß im Schreiben anwendet. In ihren Prosaminiaturen ersetzt sie das Erzählen durch das Aufzählen. Sie erstrebt keinen Realismus der Abbildung. Sie möchte den Dingen keine Gewalt antun, indem sie sie in einen Zusammenhang bringt. Sie umkreist hartnäckig den entscheidenden Akt des Wahrnehmens. Das ist der kurze, offene Moment, bevor die Dinge in ihre Bedeutungen zurückfallen. Die Sinne sind alles. Einen anderen Sinn gibt es nicht. Aber schon das Zählen kann einen Menschen überfordern. Als ein riesiger Krähenschwarm von Osten her die Stadt überquert, stürzt der Briefträger zählend vom Rad.
Angela Krauß: "Weggeküßt". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 105 S., geb., 12,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.11.2002Lust und Unlust
Dauererregt und depressiv: Angela
Krauß’ „Weggeküsst”
Auf und ab, hin und her, ranziehen und wegstoßen: eine Menge Bewegung herrscht in dieser Prosa. Und doch geht nichts voran. Die Erzählerin von „Weggeküsst” betreibt Wahrnehmung als Hochleistungssport. Kaum schlägt sie die Augen auf, da werden schon die Gegenstände taxiert: Stehen sie einfach nur herum oder haben sie schon seit Stunden auf den Blick ihrer Besitzerin gewartet? Und die Welt draußen? Öffnet sie sich, rollt sie den roten Teppich aus für den großen Auftritt, oder verschließt sie sich, dumpf und ereignislos? Die hohe energetische Spannung dieses Textes macht den Leser schwindeln. Sie ist anziehend und wirkt zugleich desorientierend. Wo sind wir? Was wird hier gespielt?
Angela Krauß, 1950 in Chemnitz geboren, seit vielen Jahren in Leipzig lebend, gehörte in den 80er Jahren zu den großen Hoffnungen der damals jungen DDR-Literatur; nicht dissident, aber aufmüpfig, hieß man sie auf dem westlichen Novitätenmarkt willkommen. 1988 erhielt sie den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihre Erzählung „Die Überfliegerin” galt bei ihrem Erscheinen 1995 als ebenso kunstvolle wie präzise Beschreibung der Nachwendezeit mit ihren spezifischen Ängsten, Hoffnungen und unerwarteten Möglichkeiten. Plötzlich konnte man in die USA fliegen und gleich darauf zu Vergleichszwecken nach Russland. Die Aufbruchsstimmung ist inzwischen vorbei, doch den fremden Blick hat sich Angela Krauß bewahrt.
Während die „Überfliegerin” ihre Welt neu kartografiert, indem sie Entfernungen im realen Raum zurücklegt, ist die Erzählerin von „Weggeküsst” gewissermaßen einen Globalisierungsschritt weiter. Sie bleibt am Ort, auch hier unverkennbar Leipzig, und übt sich in Kommunikation. „Weggeküsst” ist ein Essay in literarischer Prosa. Angela Krauss versucht am Beispiel ihrer Erzählerin jenen seltsamen Geisteszustand zu ergründen, der für den Menschen des Kommunikationszeitalters typisch ist: die manisch depressive Dauererregtheit eines an Nerven und Sinnen überreizten Wesens.
Zehn Kilo in zwölf Jahren
Zunächst dominiert das innere Chaos der Erzählerin, die Kommunikationswissenschaftlerin ist oder sich zumindest bei passender Gelegenheit als solche ausgibt. Doch mit der Zeit ordnen sich die hin und her springenden Wahrnehmungs- und Erinnerungspartikel zu erkennbaren Mustern: wiederkehrende Orte (die Wohnung der Erzählerin, ein Café, die Straße und der Zoo), einige wenige Personen (die Konditormeisterin, die Bedienung, eine Freundin, ein Zeitungsleser, verflossene Liebhaber) und nicht zuletzt Denkmuster (das Fremde, das Netz, Lust und Unlust). So wird die zunehmende Verunsicherung einer Person erfahrbar, die zunächst mit ihrem ganzen Wesen – einem „Naturell, das sich leicht verliebt, Verführung sucht, Licht und Glanz” – die Wende begrüßt, um schließlich auf die Überfülle des Waren- und Erlebnisangebots mit einem Fettpanzer zu reagieren: zehn Kilo frisst sie sich an, in zwölf Jahren.
Das Scheitern hat den Status eines Exempels: „Die ganze Gesellschaft ist von diesem Phänomen erfasst: den Schwankungen der Lust. Jeder einzelne pendelt für sich zwischen Hochlust und deren totalem Verlust hin und her, die Erwachsenen ruhig und verloren wie das Riesenpendel in Sankt Peter und Paul, die Kinder gespannt und hektisch wie die Stehaufmännchen. Wenn wir Lust haben, können wir alles tun, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Diese Vorstellung ist alles, was uns geblieben ist. Wer keine Lust hat, kann gar nichts tun, er versteckt sich für eine Weile, er weiß nicht wohin. Wer Lust hat, weiß auch nicht wohin. ” Das ist eine kluge Analyse. Dennoch bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. So kryptisch wie der Titel – der wohl meint, in dieser Gesellschaft werde man nicht weggestoßen, sondern weggeküsst, also durch übermäßige Zuwendung ausgeschaltet –, ist auch das Ende der Erzählung.
Vogelzug und Freiheit
Der Erzählerin gelingt es, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu fangen: im Netz ihrer Sprache. „Weggeküsst” ist also nicht zuletzt ein Selbstrettungsversuch. Doch das analytische Problem, das die Autorin offeriert – die seltsame Verlorenheit des Einzelnen in einer Gesellschaft, die universelle Verbundenheit durch kommunikative Netzwerke verspricht und dabei eine Unverbindlichkeit nach der anderen produziert –, bleibt ungelöst. Sie versucht ihm mit Hilfe einer metaphorischen Verschiebung zu entkommen. Während der Text mit Theoriebruchstücken über Kommunikationsnetze durchsetzt ist – „Vernetzung durch Kommunikation ist jetzt alles. Sie wird überall sein. Keiner kann der Vernetzung entgehen.” –, archaisiert er am Ende das Bild des Netzes. Plötzlich sollen wir nicht mehr an elektronische Datenübermittlung und Networking denken, sondern, ganz naiv, an Fische, an den Vogelzug, an Wildheit und Freiheit.
Es ist das gute Recht eines literarischen Textes, seine Literarizität gegen die essayistische Pflicht zur Klarheit in Anschlag zu bringen. Der Leser aber, der ihm auch analytisch gefolgt ist, bleibt unbefriedigt. Dennoch räumt man bereitwillig ein, dass Angela Krauß mit diesem Buch ihren Ruf als Seismographin der Gegenwart bestätigt hat. Denn ist es nicht so: zur Zeit weiß keiner so recht, wie es weitergeht?
MEIKE FESSMANN
ANGELA KRAUSS: Weggeküsst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 105 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Dauererregt und depressiv: Angela
Krauß’ „Weggeküsst”
Auf und ab, hin und her, ranziehen und wegstoßen: eine Menge Bewegung herrscht in dieser Prosa. Und doch geht nichts voran. Die Erzählerin von „Weggeküsst” betreibt Wahrnehmung als Hochleistungssport. Kaum schlägt sie die Augen auf, da werden schon die Gegenstände taxiert: Stehen sie einfach nur herum oder haben sie schon seit Stunden auf den Blick ihrer Besitzerin gewartet? Und die Welt draußen? Öffnet sie sich, rollt sie den roten Teppich aus für den großen Auftritt, oder verschließt sie sich, dumpf und ereignislos? Die hohe energetische Spannung dieses Textes macht den Leser schwindeln. Sie ist anziehend und wirkt zugleich desorientierend. Wo sind wir? Was wird hier gespielt?
Angela Krauß, 1950 in Chemnitz geboren, seit vielen Jahren in Leipzig lebend, gehörte in den 80er Jahren zu den großen Hoffnungen der damals jungen DDR-Literatur; nicht dissident, aber aufmüpfig, hieß man sie auf dem westlichen Novitätenmarkt willkommen. 1988 erhielt sie den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihre Erzählung „Die Überfliegerin” galt bei ihrem Erscheinen 1995 als ebenso kunstvolle wie präzise Beschreibung der Nachwendezeit mit ihren spezifischen Ängsten, Hoffnungen und unerwarteten Möglichkeiten. Plötzlich konnte man in die USA fliegen und gleich darauf zu Vergleichszwecken nach Russland. Die Aufbruchsstimmung ist inzwischen vorbei, doch den fremden Blick hat sich Angela Krauß bewahrt.
Während die „Überfliegerin” ihre Welt neu kartografiert, indem sie Entfernungen im realen Raum zurücklegt, ist die Erzählerin von „Weggeküsst” gewissermaßen einen Globalisierungsschritt weiter. Sie bleibt am Ort, auch hier unverkennbar Leipzig, und übt sich in Kommunikation. „Weggeküsst” ist ein Essay in literarischer Prosa. Angela Krauss versucht am Beispiel ihrer Erzählerin jenen seltsamen Geisteszustand zu ergründen, der für den Menschen des Kommunikationszeitalters typisch ist: die manisch depressive Dauererregtheit eines an Nerven und Sinnen überreizten Wesens.
Zehn Kilo in zwölf Jahren
Zunächst dominiert das innere Chaos der Erzählerin, die Kommunikationswissenschaftlerin ist oder sich zumindest bei passender Gelegenheit als solche ausgibt. Doch mit der Zeit ordnen sich die hin und her springenden Wahrnehmungs- und Erinnerungspartikel zu erkennbaren Mustern: wiederkehrende Orte (die Wohnung der Erzählerin, ein Café, die Straße und der Zoo), einige wenige Personen (die Konditormeisterin, die Bedienung, eine Freundin, ein Zeitungsleser, verflossene Liebhaber) und nicht zuletzt Denkmuster (das Fremde, das Netz, Lust und Unlust). So wird die zunehmende Verunsicherung einer Person erfahrbar, die zunächst mit ihrem ganzen Wesen – einem „Naturell, das sich leicht verliebt, Verführung sucht, Licht und Glanz” – die Wende begrüßt, um schließlich auf die Überfülle des Waren- und Erlebnisangebots mit einem Fettpanzer zu reagieren: zehn Kilo frisst sie sich an, in zwölf Jahren.
Das Scheitern hat den Status eines Exempels: „Die ganze Gesellschaft ist von diesem Phänomen erfasst: den Schwankungen der Lust. Jeder einzelne pendelt für sich zwischen Hochlust und deren totalem Verlust hin und her, die Erwachsenen ruhig und verloren wie das Riesenpendel in Sankt Peter und Paul, die Kinder gespannt und hektisch wie die Stehaufmännchen. Wenn wir Lust haben, können wir alles tun, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Diese Vorstellung ist alles, was uns geblieben ist. Wer keine Lust hat, kann gar nichts tun, er versteckt sich für eine Weile, er weiß nicht wohin. Wer Lust hat, weiß auch nicht wohin. ” Das ist eine kluge Analyse. Dennoch bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. So kryptisch wie der Titel – der wohl meint, in dieser Gesellschaft werde man nicht weggestoßen, sondern weggeküsst, also durch übermäßige Zuwendung ausgeschaltet –, ist auch das Ende der Erzählung.
Vogelzug und Freiheit
Der Erzählerin gelingt es, sich im wahrsten Sinne des Wortes zu fangen: im Netz ihrer Sprache. „Weggeküsst” ist also nicht zuletzt ein Selbstrettungsversuch. Doch das analytische Problem, das die Autorin offeriert – die seltsame Verlorenheit des Einzelnen in einer Gesellschaft, die universelle Verbundenheit durch kommunikative Netzwerke verspricht und dabei eine Unverbindlichkeit nach der anderen produziert –, bleibt ungelöst. Sie versucht ihm mit Hilfe einer metaphorischen Verschiebung zu entkommen. Während der Text mit Theoriebruchstücken über Kommunikationsnetze durchsetzt ist – „Vernetzung durch Kommunikation ist jetzt alles. Sie wird überall sein. Keiner kann der Vernetzung entgehen.” –, archaisiert er am Ende das Bild des Netzes. Plötzlich sollen wir nicht mehr an elektronische Datenübermittlung und Networking denken, sondern, ganz naiv, an Fische, an den Vogelzug, an Wildheit und Freiheit.
Es ist das gute Recht eines literarischen Textes, seine Literarizität gegen die essayistische Pflicht zur Klarheit in Anschlag zu bringen. Der Leser aber, der ihm auch analytisch gefolgt ist, bleibt unbefriedigt. Dennoch räumt man bereitwillig ein, dass Angela Krauß mit diesem Buch ihren Ruf als Seismographin der Gegenwart bestätigt hat. Denn ist es nicht so: zur Zeit weiß keiner so recht, wie es weitergeht?
MEIKE FESSMANN
ANGELA KRAUSS: Weggeküsst. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 105 Seiten, 12,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Prosadichtung bezeichnet Rezensent Jörg Magenau dieses schmale Buch, das er mit Gewinn, aber möglicherweise nicht durchgehend mit Vergnügen gelesen hat. Es gibt kein Handlungsgerüst, schreibt er, alles Ereignishafte sei durch Wahrnehmung ersetzt. Im Mittelpunkt stehe eine Konditorei, die Magenau als "Mittelpunkt der Ich-Welt" bezeichnet, die sich um die Erzählerin strukturiert, die seit Jahren schon regelmäßiger Gast an diesem Ort ist. Auch gebe es keine Chronologie. Große Zeitschneide sei lediglich das Jahr 1989, welches alles in ein Vorher und ein Nachher teile. Das vorliegende Buch wird vom Rezensenten in die Reihe der Selbstversuche einsortiert, die Angela Krauß nach der Wende geschrieben hat, und in denen sie sich, Magenau zufolge, mit den Veränderungen der Wahrnehmung der Dingwelt befasste, die nach 1989 zur Warenwelt geworden war. Nun mache sie mit "Weggeküßt" den Versuch, eine Ordnung wiederherzustellen, ohne damit die Welt zu verändern. Die Autorin ersetz in ihren Prosaminiaturen "Erzählen durch Aufzählen", schreibt der Rezensent, dessen Ausführungen darauf schließen lassen, das ihn dies Verfahren zwar poetologisch überzeugt hat, doch dessen Leseerlebnis sich wohl gelegentlich etwas zäh gestaltete.
© Perlentaucher Medien GmbH
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