Zum ersten Mal, zum 75. Geburtstag Bergers, eine repräsentative Auswahl aus seinen lyrischem Werk. Vieles davon hat er auf Reisen geschrieben, in Zügen oder nächtlichen Wartesälen. Gedichte für die Manteltasche, Liebeserklärungen und Verlustmeldungen, Gedichte aus der Emigration, über das französische Dorf, in dem er seit Jahren lebt, über Tiere, Frühlingsgras und den Mondaufgang. Ein Buch, das den Weg nachzeichnet, auf dem der große Schriftsteller die Themen seines Werkes fand.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001Seht das Rot der Blätter des Birnbaums
John Berger als Lyriker Von Barbara Catoir
John Berger, der phantasievolle Essayist, Erzähler, Feuilletonist, Kunstkritiker, Drehbuchautor, ist auch in Deutschland durch eine Reihe von Büchern bekannt. Übersetzt wurden Sammelbände mit einer Auswahl seiner Kurzprosa, Erzählungen und Romane. Darunter fallen die einstmals heftig umstrittene Picasso-Biographie "Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso", die im englischen Original noch zu Lebzeiten des Künstlers 1965 erschien, und die kurze, sich rund um "Velázquez' Äsop" rankende Erzählung mit Ausflügen zu Ribera, Zurbarán, El Greco, Goya und ins karge, einsame, innerspanische Tafelland, die meseta.
Bergers Blick ist an der Kunst geschult; sein literarischer Zugriff entspricht einer Ästhetik der Umwege, die abwechselnd der Malerei, den Menschen und Landschaften und der Dichtung folgt. Seine Essays über Kunst und Dichtung sind assoziationsreiche Betrachtungen und Reflexionen, weitschweifende, ausgreifende oder sich auf ein Minimum an Worten reduzierende Zwiegespräche mit Rembrandt, Dürer, Tizian, Goya, Modigliani oder Majakowski, bekennerhaft subjektiv und in einer mitreißend lebendigen Rhetorik geschrieben: Betrachtungen am Rande der Kunst- und Literaturgeschichte, wie sie auch Octavio Paz in seinen Essays anstellte, und die man zu Recht eine Schule des Sehens genannt hat.
Die Essay-Sammlung "Das Sichtbare und das Verborgene" etwa mischte alle seine Gattungen und vor allem Sujets. Mal befragte dieser außergewöhnliche und immer humane Blick Goyas Begriff der Nacktheit, wie er sich in den zwei Versionen der Maja stellt, mal die Melancholie in den Augen Claude Monets, mal kreiste er um Majakowskis Dichterauftrag, mal um die Vorstellung der Sintflut, die Dürer im Schlaf heimsuchte. Oder er beschrieb mit einfachen Worten die Rötung der Blätter eines Birnbaums im Herbst, um sich dann an ein imaginäres Du zu wenden: "Sag mir, was blutet. Nicht der Sommer - der Sommer ging früh. Nicht das Dorf . . ." Dies sind die Anfangszeilen eines von mehreren Gedichten des Bands, die unter die erzählerische Prosa gemischt wurden. Verstreut tauchten solche Texte in Versform oder frei schwingenden Zeilen immer wieder einmal bei Berger auf, etwa in der Erzählung "Spiel mir ein Lied", dem mittleren Teil der Romantriologie "Von ihrer Hände Arbeit", bilden zwei Gedichte volksliedhaft den Rahmen.
Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Autors in diesem Jahr erschien mit "Wegzeichnung" bei Hanser eine erste umfassende Auswahl aus seinem lyrischen Werk in deutscher Sprache. Einige Poeme sind aus vorangegangenen Publikationen bekannt. Doch mit dieser Anthologie werden Akzente verschoben, einiges wird auch in Frage gestellt, was bisher in anderer Form, in anderen Zusammenhängen unsere Aufmerksamkeit fand, was reduziert, lakonisch, leicht, vom Ballast der Füllwörter und von den Regeln des Satzgefüges befreit den Sprachfluß der Prosa durchbrach. Hatte man diese aus dem Erzählfluß springenden Zeilen, die keinen Reim kennen, wirklich als eigenständige Gedichte wahrgenommen? Verstand man sie nicht eher als Kompositions- und Stilelemente, Spielarten dramaturgischer und selbst visueller Art, als Verdichtungen, Verknappungen? In der Festlegung auf den Gattungsbegriff Lyrik treten sie nun mit anderem Anspruch auf.
Es sind Gedichte aus fünf Jahrzehnten in einer Auswahl, kleine Stimmungsbilder, zum einen stille Beobachtungen des ländlichen Lebens, "Liebeserklärungen" an Landschaft und Menschen, zum anderen reportageartige Beobachtungen vom Wegrand seiner Reisen, die er selbst auch "Postkartengrüße" nennt, Gedichte, die häufig unterwegs entstehen, an Flughäfen, auf Bahnhöfen, auf Bänken beim Wandern. Die Auswahl enthält auch eine Reihe von Gedanken, Reflexionen etwa über Emigration, über ein Erschießungskommando, über Suizid und ganz generell über das Sterben, auch über die "Ökonomie der Toten", vorgetragen in "zwölf Thesen", die keiner Versform folgen.
Man liest diese Auswahl nicht mit der gleichen Freude wie die geistreichen Essays oder Erzählungen, in die solche Verse eingestreut sind. Man liest sie jetzt mit der geschärften Aufmerksamkeit für das Kompositorische, den Rhythmus, den Sprachklang, das, was eine Übersetzung nur sehr bedingt leisten kann, will sie nicht zur freien Nachdichtung werden. Einiges liest sich sperrig, holprig, andere Beispiele wiederum halten zum mehrmaligen Lesen an, etwa das Gedicht "Die Partisanen von Cervignano", das mit dem Vierzeiler beginnt: "Diesem Licht hat Giorgione einen Namen gegeben / Und aus diesem Abendlicht tritt er / Der erwartet wird wie ein Gott / Gleichzeitig und von überall her . . ."
Die Sprache als Ausdruck des Trennenden, auch seines eigenen Fremdseins als Engländer im französischen Hochsavoyen, wo er als Städter aus London inmitten einer Landbevölkerung lebt, hat John Berger in dem Gedicht "Trennung" benannt: "Wir mit unserer Stadtstreichersprache / wir mit unserem unverbesserlichen Akzent / und einem anderen Wort für Milch / wir deren abwesende Stimme . . ." Es sind die bunten Sträuße, die diesen Homme de lettre auszeichnen, die Vielfalt seiner Themen und Ausdrucksweisen, nicht ihre Klassizifizierung nach Sparten: Es ist das, was Berger an den Rändern seiner literarischen Umwege wahrnimmt.
John Berger: "Wegzeichnung". Gedichte. Herausgegeben von Hans-Jürgen Balmes. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Jürgen Balmes, Karin Kersten, Kyra Stromberg und Jörg Trobitius. Carl Hanser Verlag, München 2001. 104 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
John Berger als Lyriker Von Barbara Catoir
John Berger, der phantasievolle Essayist, Erzähler, Feuilletonist, Kunstkritiker, Drehbuchautor, ist auch in Deutschland durch eine Reihe von Büchern bekannt. Übersetzt wurden Sammelbände mit einer Auswahl seiner Kurzprosa, Erzählungen und Romane. Darunter fallen die einstmals heftig umstrittene Picasso-Biographie "Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso", die im englischen Original noch zu Lebzeiten des Künstlers 1965 erschien, und die kurze, sich rund um "Velázquez' Äsop" rankende Erzählung mit Ausflügen zu Ribera, Zurbarán, El Greco, Goya und ins karge, einsame, innerspanische Tafelland, die meseta.
Bergers Blick ist an der Kunst geschult; sein literarischer Zugriff entspricht einer Ästhetik der Umwege, die abwechselnd der Malerei, den Menschen und Landschaften und der Dichtung folgt. Seine Essays über Kunst und Dichtung sind assoziationsreiche Betrachtungen und Reflexionen, weitschweifende, ausgreifende oder sich auf ein Minimum an Worten reduzierende Zwiegespräche mit Rembrandt, Dürer, Tizian, Goya, Modigliani oder Majakowski, bekennerhaft subjektiv und in einer mitreißend lebendigen Rhetorik geschrieben: Betrachtungen am Rande der Kunst- und Literaturgeschichte, wie sie auch Octavio Paz in seinen Essays anstellte, und die man zu Recht eine Schule des Sehens genannt hat.
Die Essay-Sammlung "Das Sichtbare und das Verborgene" etwa mischte alle seine Gattungen und vor allem Sujets. Mal befragte dieser außergewöhnliche und immer humane Blick Goyas Begriff der Nacktheit, wie er sich in den zwei Versionen der Maja stellt, mal die Melancholie in den Augen Claude Monets, mal kreiste er um Majakowskis Dichterauftrag, mal um die Vorstellung der Sintflut, die Dürer im Schlaf heimsuchte. Oder er beschrieb mit einfachen Worten die Rötung der Blätter eines Birnbaums im Herbst, um sich dann an ein imaginäres Du zu wenden: "Sag mir, was blutet. Nicht der Sommer - der Sommer ging früh. Nicht das Dorf . . ." Dies sind die Anfangszeilen eines von mehreren Gedichten des Bands, die unter die erzählerische Prosa gemischt wurden. Verstreut tauchten solche Texte in Versform oder frei schwingenden Zeilen immer wieder einmal bei Berger auf, etwa in der Erzählung "Spiel mir ein Lied", dem mittleren Teil der Romantriologie "Von ihrer Hände Arbeit", bilden zwei Gedichte volksliedhaft den Rahmen.
Zum fünfundsiebzigsten Geburtstag des Autors in diesem Jahr erschien mit "Wegzeichnung" bei Hanser eine erste umfassende Auswahl aus seinem lyrischen Werk in deutscher Sprache. Einige Poeme sind aus vorangegangenen Publikationen bekannt. Doch mit dieser Anthologie werden Akzente verschoben, einiges wird auch in Frage gestellt, was bisher in anderer Form, in anderen Zusammenhängen unsere Aufmerksamkeit fand, was reduziert, lakonisch, leicht, vom Ballast der Füllwörter und von den Regeln des Satzgefüges befreit den Sprachfluß der Prosa durchbrach. Hatte man diese aus dem Erzählfluß springenden Zeilen, die keinen Reim kennen, wirklich als eigenständige Gedichte wahrgenommen? Verstand man sie nicht eher als Kompositions- und Stilelemente, Spielarten dramaturgischer und selbst visueller Art, als Verdichtungen, Verknappungen? In der Festlegung auf den Gattungsbegriff Lyrik treten sie nun mit anderem Anspruch auf.
Es sind Gedichte aus fünf Jahrzehnten in einer Auswahl, kleine Stimmungsbilder, zum einen stille Beobachtungen des ländlichen Lebens, "Liebeserklärungen" an Landschaft und Menschen, zum anderen reportageartige Beobachtungen vom Wegrand seiner Reisen, die er selbst auch "Postkartengrüße" nennt, Gedichte, die häufig unterwegs entstehen, an Flughäfen, auf Bahnhöfen, auf Bänken beim Wandern. Die Auswahl enthält auch eine Reihe von Gedanken, Reflexionen etwa über Emigration, über ein Erschießungskommando, über Suizid und ganz generell über das Sterben, auch über die "Ökonomie der Toten", vorgetragen in "zwölf Thesen", die keiner Versform folgen.
Man liest diese Auswahl nicht mit der gleichen Freude wie die geistreichen Essays oder Erzählungen, in die solche Verse eingestreut sind. Man liest sie jetzt mit der geschärften Aufmerksamkeit für das Kompositorische, den Rhythmus, den Sprachklang, das, was eine Übersetzung nur sehr bedingt leisten kann, will sie nicht zur freien Nachdichtung werden. Einiges liest sich sperrig, holprig, andere Beispiele wiederum halten zum mehrmaligen Lesen an, etwa das Gedicht "Die Partisanen von Cervignano", das mit dem Vierzeiler beginnt: "Diesem Licht hat Giorgione einen Namen gegeben / Und aus diesem Abendlicht tritt er / Der erwartet wird wie ein Gott / Gleichzeitig und von überall her . . ."
Die Sprache als Ausdruck des Trennenden, auch seines eigenen Fremdseins als Engländer im französischen Hochsavoyen, wo er als Städter aus London inmitten einer Landbevölkerung lebt, hat John Berger in dem Gedicht "Trennung" benannt: "Wir mit unserer Stadtstreichersprache / wir mit unserem unverbesserlichen Akzent / und einem anderen Wort für Milch / wir deren abwesende Stimme . . ." Es sind die bunten Sträuße, die diesen Homme de lettre auszeichnen, die Vielfalt seiner Themen und Ausdrucksweisen, nicht ihre Klassizifizierung nach Sparten: Es ist das, was Berger an den Rändern seiner literarischen Umwege wahrnimmt.
John Berger: "Wegzeichnung". Gedichte. Herausgegeben von Hans-Jürgen Balmes. Aus dem Englischen übersetzt von Hans-Jürgen Balmes, Karin Kersten, Kyra Stromberg und Jörg Trobitius. Carl Hanser Verlag, München 2001. 104 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zum 75. Geburtstag würdigt Hans-Herbert Räkel das bisherige Gesamtwerk des britischen Autors, um sich dann dem Gedichtband zu widmen. Er ist geradezu überwältigt von den "Nachdichtungen", als die er die Übersetzungen von Hans Jürgen Balmes rühmt und preist sie als "kühn, aber gelungen". Nur wo ihm ein all zu extravaganter Ausdruck aufgefallen ist, meldet der Rezensent Zweifel an, jedoch lediglich, um sich anschließend selbst der "Pedanterie" zu bezichtigen. Denn insgesamt ist er von dem Buch hingerissen. Er findet die Auswahl und die Reihenfolge der Gedichte "überzeugend", und er preist sie dafür, "das Wesentliche festzuhalten" und damit den Originaltexten gerecht zu werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Es sind die bunten Sträuße, die diesen Homme de lettre auszeichnen, die Vielfalt seiner Themen und Ausdrucksweisen, nicht ihre Klassifizierung nach Sparten: Es ist das, was Berger an den Rändern seiner literarischen Umwege wahrnimmt." Barabara Catoir, FAZ, 9.10.01