Im deutsch besetzten Italien fielen zwischen 1943 und 1945 mehr als 70.000 Menschen dem Partisanenkrieg zum Opfer, darunter etwa 10.000 Zivilisten, die bei Massakern und Geiselerschießungen durch die Besatzer getötet wurden. Diese Ereignisse haben sich tief in das kollektive Gedächtnis Nachkriegsitaliens eingeprägt.Der Autor, der ein Jahrzehnt lang als Sachverständiger bei Kriegsverbrecherprozessen vor Gerichten tätig war, stellt in diesem Buch erstmals systematisch und auf breite Quellenbasis gestützt das Vorgehen der deutschen Besatzungstruppen dar. Sachlich und differenziert werden u. a. mehrere durch die Prozesse der letzten Jahren bekannt gewordene Kriegsverbrechen wie Sant'Anna di Stazzema, Civitella in Val di Chiana und Marzabotto sowie deren Täter untersucht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2013Panorama des Schreckens
Deutsche Vergeltungsaktionen in Italien 1943 bis 1945
Hier wird das dunkelste Kapitel der deutsch-italienischen Geschichte aufgeschlagen - ein Kapitel, das im Erinnerungsbuch der Deutschen eine eher marginale Rolle spielt, während es im kollektiven Gedächtnis Italiens einen prominenten Platz einnimmt. Deutschen Toskana-Begeisterten steht in der Regel nicht vor Augen, dass gerade diese Region in den beiden letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs Schauplatz brutaler Besatzungpolitik gewesen ist. Aber es gibt wegen der massenhaften Übergriffe und Verbrechen, die von deutschen Soldaten und SS-Leuten begangen wurden, sehr viele italienische Familien, die in irgendeiner Weise von der gewalttätigen Repression betroffen waren. Dieses Leid wird über die Generationen bis heute im Gedächtnis bewahrt. So erklären sich beispielsweise die unterschiedlichen Reaktionen auf die jüngste Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart, das Verfahren gegen eine Reihe mutmaßlicher Kriegsverbrecher einzustellen. Der Grund: Es sei den inzwischen hochbetagten Männern nicht nachzuweisen, dass sie 1944 bei einer Vergeltungsaktion in der Toskana italienische Zivilisten in Mordabsicht getötet hätten. In Italien reagierte man auf diesen Beschluss mit Empörung und Verbitterung, in Deutschland blieb eine breitere Diskussion aus.
Der Autor war oft als Sachverständiger an solchen Prozessen beteiligt. Auch die Stuttgarter Entscheidung hat er in den Medien kommentiert. Wie stets äußerte sich Carlo Gentile abgewogen und versuchte, für die Öffentlichkeit in Italien die Logik der deutschen Rechtsfindung verständlich zu machen. Diesen sachlichen Ton trifft auch seine vorliegende Studie - die Summe langjähriger Forschungsarbeit, parallel erarbeitet zu den Recherchen der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, der er angehört. Gentile hält eingangs fest, dass er thematisch kein Neuland betritt. Der Krieg, den Hitler-Deutschland in Italien geführt hat, das seit dem Spätsommer 1943 nicht mehr Verbündeter, sondern Gegner des Deutschen Reiches war, bildet längst keine Forschungslücke mehr. Neu ist bei Gentile die Konzentration auf den "Partisanenkrieg".
Gemeint sind damit im Rahmen der vielfältigen Kampfhandlungen in Italien in erster Linie die Unterdrückungs- und Vergeltungsaktionen seitens der Besatzer gegenüber dem bewaffneten Widerstand und allen, die man als dessen Helfershelfer identifizieren zu können glaubte. Es geht dem Autor darum, diesen "Krieg" so detailliert und differenziert wie möglich darzustellen. So entsteht eine Landkarte, in der Hunderte von Gewaltaktionen verzeichnet sind: Mord und Totschlag, Plünderungen, Niederbrennen von Häusern, Menschenjagd, Verschleppung, Drangsalierungen jeder Art, vom Süden bis in die Seitentäler des Trentino, vom westlichsten Zipfel Piemonts bis in die hinterste Berggegend der Abruzzen. Verschränkt wird die geographische Übersicht mit einer präzisen Chronologie zum situativen Kontext einzelner Aktionen. Das reicht von den großen Massakern der SS mit Hunderten von zivilen Opfern, wie in Marzabotto bei Bologna, bis zu den unzähligen kleineren Vergehen in Provinzdörfern. Das Panorama des Schreckens macht deutlich, dass die Gewalt des Partisanenkriegs erheblich variierte: Sie radikalisierte sich, sie eskalierte, wenn der Frontverlauf in Bewegung kam, sie konnte aber auch nachlassen, wenn die Besatzer jene "Ruhe und Ordnung" hergestellt hatten, die ihnen fernab der Gefechtszonen möglich schienen.
Wie war die Gewalt motiviert? Gentile zeigt, dass sich - bei aller verwirrenden Gemengelage der Zuständigkeiten zwischen Wehrmacht, SS und Polizei plus italienischen Verbänden der faschistischen Republik von Salò - bestimmte Motiv- und Handlungsmuster wiederholten. In der Sprache der Okkupationsmacht handelte es sich um "Bandenbekämpfung" und "Säuberungsaktionen". Hass auf die italienischen "Verräter" spielte keine überragende Rolle; stark waren hingegen die Angst vor Anschlägen und der Wunsch nach Rache für die eigenen Verluste durch Attentate der Partisanen. Die Partisanen sollten in den Augen der Zivilbevölkerung als die eigentlichen Verursacher der Grausamkeiten der Besatzer erscheinen. Diese Rechnung ging oft genug auf.
Überzeugend plädiert der Autor dafür, die verbrecherische Kriegführung, die zahlreiche Italien-Kämpfer bereits zuvor an der Ostfront eingeübt hatten, für den Partisanenkrieg in Italien nicht überzubewerten. Letztlich dominierte hier wie anderswo ein Verhaltenskodex, der Gewaltexzesse jedenfalls nicht sanktionierte und der ein Klima schuf, in dem für die zum Teil sehr jungen Männer selbst die massenhafte Tötung von Frauen und Kindern irgendwie als Teil des Kriegs gerechtfertigt schien. Ein thematisch bedrückendes, wissenschaftlich vorbildliches Buch.
CHRISTIANE LIERMANN
Carlo Gentile: Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 466 S., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutsche Vergeltungsaktionen in Italien 1943 bis 1945
Hier wird das dunkelste Kapitel der deutsch-italienischen Geschichte aufgeschlagen - ein Kapitel, das im Erinnerungsbuch der Deutschen eine eher marginale Rolle spielt, während es im kollektiven Gedächtnis Italiens einen prominenten Platz einnimmt. Deutschen Toskana-Begeisterten steht in der Regel nicht vor Augen, dass gerade diese Region in den beiden letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs Schauplatz brutaler Besatzungpolitik gewesen ist. Aber es gibt wegen der massenhaften Übergriffe und Verbrechen, die von deutschen Soldaten und SS-Leuten begangen wurden, sehr viele italienische Familien, die in irgendeiner Weise von der gewalttätigen Repression betroffen waren. Dieses Leid wird über die Generationen bis heute im Gedächtnis bewahrt. So erklären sich beispielsweise die unterschiedlichen Reaktionen auf die jüngste Entscheidung der Staatsanwaltschaft Stuttgart, das Verfahren gegen eine Reihe mutmaßlicher Kriegsverbrecher einzustellen. Der Grund: Es sei den inzwischen hochbetagten Männern nicht nachzuweisen, dass sie 1944 bei einer Vergeltungsaktion in der Toskana italienische Zivilisten in Mordabsicht getötet hätten. In Italien reagierte man auf diesen Beschluss mit Empörung und Verbitterung, in Deutschland blieb eine breitere Diskussion aus.
Der Autor war oft als Sachverständiger an solchen Prozessen beteiligt. Auch die Stuttgarter Entscheidung hat er in den Medien kommentiert. Wie stets äußerte sich Carlo Gentile abgewogen und versuchte, für die Öffentlichkeit in Italien die Logik der deutschen Rechtsfindung verständlich zu machen. Diesen sachlichen Ton trifft auch seine vorliegende Studie - die Summe langjähriger Forschungsarbeit, parallel erarbeitet zu den Recherchen der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, der er angehört. Gentile hält eingangs fest, dass er thematisch kein Neuland betritt. Der Krieg, den Hitler-Deutschland in Italien geführt hat, das seit dem Spätsommer 1943 nicht mehr Verbündeter, sondern Gegner des Deutschen Reiches war, bildet längst keine Forschungslücke mehr. Neu ist bei Gentile die Konzentration auf den "Partisanenkrieg".
Gemeint sind damit im Rahmen der vielfältigen Kampfhandlungen in Italien in erster Linie die Unterdrückungs- und Vergeltungsaktionen seitens der Besatzer gegenüber dem bewaffneten Widerstand und allen, die man als dessen Helfershelfer identifizieren zu können glaubte. Es geht dem Autor darum, diesen "Krieg" so detailliert und differenziert wie möglich darzustellen. So entsteht eine Landkarte, in der Hunderte von Gewaltaktionen verzeichnet sind: Mord und Totschlag, Plünderungen, Niederbrennen von Häusern, Menschenjagd, Verschleppung, Drangsalierungen jeder Art, vom Süden bis in die Seitentäler des Trentino, vom westlichsten Zipfel Piemonts bis in die hinterste Berggegend der Abruzzen. Verschränkt wird die geographische Übersicht mit einer präzisen Chronologie zum situativen Kontext einzelner Aktionen. Das reicht von den großen Massakern der SS mit Hunderten von zivilen Opfern, wie in Marzabotto bei Bologna, bis zu den unzähligen kleineren Vergehen in Provinzdörfern. Das Panorama des Schreckens macht deutlich, dass die Gewalt des Partisanenkriegs erheblich variierte: Sie radikalisierte sich, sie eskalierte, wenn der Frontverlauf in Bewegung kam, sie konnte aber auch nachlassen, wenn die Besatzer jene "Ruhe und Ordnung" hergestellt hatten, die ihnen fernab der Gefechtszonen möglich schienen.
Wie war die Gewalt motiviert? Gentile zeigt, dass sich - bei aller verwirrenden Gemengelage der Zuständigkeiten zwischen Wehrmacht, SS und Polizei plus italienischen Verbänden der faschistischen Republik von Salò - bestimmte Motiv- und Handlungsmuster wiederholten. In der Sprache der Okkupationsmacht handelte es sich um "Bandenbekämpfung" und "Säuberungsaktionen". Hass auf die italienischen "Verräter" spielte keine überragende Rolle; stark waren hingegen die Angst vor Anschlägen und der Wunsch nach Rache für die eigenen Verluste durch Attentate der Partisanen. Die Partisanen sollten in den Augen der Zivilbevölkerung als die eigentlichen Verursacher der Grausamkeiten der Besatzer erscheinen. Diese Rechnung ging oft genug auf.
Überzeugend plädiert der Autor dafür, die verbrecherische Kriegführung, die zahlreiche Italien-Kämpfer bereits zuvor an der Ostfront eingeübt hatten, für den Partisanenkrieg in Italien nicht überzubewerten. Letztlich dominierte hier wie anderswo ein Verhaltenskodex, der Gewaltexzesse jedenfalls nicht sanktionierte und der ein Klima schuf, in dem für die zum Teil sehr jungen Männer selbst die massenhafte Tötung von Frauen und Kindern irgendwie als Teil des Kriegs gerechtfertigt schien. Ein thematisch bedrückendes, wissenschaftlich vorbildliches Buch.
CHRISTIANE LIERMANN
Carlo Gentile: Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg: Italien 1943-1945. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012. 466 S., 44,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Christiane Liermann schätzt den Historiker Carlo Gentile als Kenner der Materie, der ihr bereits als Sachverständiger in etlichen Kriegsverbrecherprozessen mit seiner ausgewogenen Expertise aufgefallen ist. Im vorliegenden Buch fasst er die verschiedenen Verbrechen und Gewaltaktionen, die Wehrmacht und SS in Italien und besonders in der Toskana begingen, zu einem einzigen "Panorama des Schreckens" zusammen. Was die Rezensentin aber beeindruckt, ist, dass Gentile dabei sehr zurückhaltend in seiner Wertung bleibt und nicht von einem besonderen Hass auf die italienischen Verräter als Moti, sondern von einem generell radikalisierten Klima ausgeht. Gut findet sie auch dargestellt, wie unterschiedlich die Situationen je nach Frontverlauf ihre Dynamik und Eskalation entwickelten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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