Wie Frauen die Geschichte prägten - und warum wir nichts davon wissen. Ein feministischer Blick auf die Urgeschichte
Über weite Strecken der Geschichte sind Frauen unsichtbar - erst recht in der Ur- und Frühgeschichte. Es sind Männer, die jagten, die Werkzeuge und Waffen erfanden, die Höhlenmalereien hinterließen und als Erfinder zivilisatorischer Errungenschaften gelten. Frauen, so das gängige Bild, hielten sich im Heim auf und damit: im Hintergrund. Marylène Patou-Mathis rückt dieses Bild gerade und zeigt: Es gibt keine Fakten, die diese Annahmen stützen. Neue archäologische Funde haben ergeben, dass prähistorische Frauen mitnichten das unterworfene Geschlecht waren, zu dem männliche Wissenschaftler der Neuzeit sie gemacht haben. Eine überfällige Analyse der weiblichen Unsichtbarkeit, die den Frauen zu ihrem rechtmäßigen Platz in der Geschichte verhilft.
Über weite Strecken der Geschichte sind Frauen unsichtbar - erst recht in der Ur- und Frühgeschichte. Es sind Männer, die jagten, die Werkzeuge und Waffen erfanden, die Höhlenmalereien hinterließen und als Erfinder zivilisatorischer Errungenschaften gelten. Frauen, so das gängige Bild, hielten sich im Heim auf und damit: im Hintergrund. Marylène Patou-Mathis rückt dieses Bild gerade und zeigt: Es gibt keine Fakten, die diese Annahmen stützen. Neue archäologische Funde haben ergeben, dass prähistorische Frauen mitnichten das unterworfene Geschlecht waren, zu dem männliche Wissenschaftler der Neuzeit sie gemacht haben. Eine überfällige Analyse der weiblichen Unsichtbarkeit, die den Frauen zu ihrem rechtmäßigen Platz in der Geschichte verhilft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Steinzeitmythen
Marylène Patou-Mathis bezweifelt, dass unsere Vorfahren in patriarchalen Strukturen lebten. Was bedeutet das für die feministische Debatte heute?
„Nein! Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen!“ Marylène Patou-Mathis eröffnet ihr Buch „Weibliche Unsichtbarkeit“ mit einer Kampfansage. Die französische Ur- und Frühhistorikerin wirft der 170-jährigen, von männlichen Forschern dominierten Geschichte ihres Fachs die haltlose Annahme einer weiblichen Unterordnung seit der Altsteinzeit vor. Stattdessen will sie wissen: Könnten nicht auch Frauen „die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben?“
Die Beweislage hierfür ist, um dies vorwegzunehmen, nicht erdrückend. Doch Patou-Mathis stellt klar: Indizien einer männlichen Vorherrschaft sind gleichfalls rar gesät. Dass die Urhistorik von einer patriarchalen Struktur steinzeitlicher Sozialverbünde ausgegangen ist und sich noch immer nicht von ihr gelöst hat, führt sie eher auf die Gesellschaftsordnung zu Lebzeiten der Forscher zurück als auf prähistorische Tatsachen. Dies belegt Patou-Mathis nicht direkt mit Aussagen von Fachvertretern, sondern sie beruft sich auf – stets männliche – Wissenschaftler und Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts als Repräsentanten eines misogynen Klimas, dem auch ihre Disziplin erlegen sei.
Diesen Vorgang situiert sie am Ende einer schlaglichtartigen Darstellung der abendländischen Geistesgeschichte als Tour de Force weiblicher Diskriminierung – von Aristoteles bis zu Rousseau. Wessen Erfindung aber ist jene Erzählung der gott- oder naturgegebenen Unterlegenheit der Frau als körperlich wie geistig und moralisch schwaches Wesen, dessen Existenzrecht sich auf seine Reproduktionsleistung und die Befriedigung männlicher Triebe und Bedürfnisse gründet?
Um dies herauszufinden, bedient sich Patou-Mathis eines gewaltigen Kameraschwenks in die Altsteinzeit oder das Paläolithikum, also die Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren mit dem Gebrauch steinerner Werkzeuge begann. Haben unsere Vorfahren damals patriarchal gelebt? Die erste Schwierigkeit dieser Frage besteht darin, dass regionale Unterschiede zwischen den Kulturen über die Zeit kaum Verallgemeinerungen zulassen. Zweitens sind die Forschenden angewiesen auf eine begrenzte Zahl archäologischer Quellen, deren Erschließung sie vor Herausforderungen stellt: Knochenfunde etwa sind oft nicht gut genug erhalten, um sie einem Geschlecht zuordnen zu können.
Mithilfe neuer Analysemethoden, die anhand des Hüftknochens oder der nukleären DNA das Geschlecht bestimmen, ließ sich jedoch bereits die körperliche Robustheit von Frauen im Paläolithikum nachweisen. Patou-Mathis wertet dies als Indiz dafür, dass diese deutlich mobiler waren als angenommen. Statt die Kinder zu hüten, hätten sie als Sammlerinnen täglich weite Strecken zurückgelegt. Damit nicht genug: Zumindest die Skelette von Neandertaler-Frauen weisen an den Ansatzpunkten der Sehnen und Bänder am Ellenbogen Verschleißerscheinungen auf, die vom Speerwerfen rühren könnten. Dies legt nahe, dass sie an der Jagd beteiligt waren. Dafür sprechen auch Jagddarstellungen auf Kleinkunstobjekten aus Kalkstein oder Rentiergeweih, die Frauen zeigen.
Und wer hat solche Objekte und auch die Höhlenmalereien eigentlich gefertigt? Urhistoriker schlossen weibliche Schöpferinnen mit der Begründung aus, die Höhlenzugänge lägen physisch zu anspruchsvoll, oder die Frauen hätten wegen ihrer mangelnden Erfahrung die Jagd nicht darstellen können. Waren die Frauen jedoch robuste Jägerinnen, verlieren diese Argumente ihre Plausibilität. Im Gegenteil finden sich überwiegend weibliche Handabdrücke, die als Signaturen gedeutet werden, neben Höhlenmalereien.
Demnach ist die Annahme einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ebenso wenig belegt wie die eines niedrigeren sozialen Status der Frauen. Knochenfunde in Grabstätten, die über letzteren Aufschluss geben könnten, lassen sich noch zu selten zuordnen. In Fällen, wo dies gelang, fanden sich auch weibliche Bestattete – im französischen Saint-Germain-de-la-Rivière sogar der Leichnam einer jungen Frau, den eine Halskette aus 64 Eckzähnen einer seltenen Hirschart schmückte. Dies könnte auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung hindeuten. Umstritten ist, warum und wann die Frauen dieser beraubt wurden. Als Erklärung wird die jungsteinzeitliche Sesshaftwerdung gehandelt, die mit dem Entstehen der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren einherging. Patou-Mathis trägt ihre wissenschaftlichen Befunde mit dezidiert feministischer Agenda vor. Vermeintlichen Determinismus maskuliner Überlegenheit weist sie ebenso in die Schranken wie das Narrativ eines linearen Fortschritts weiblicher Emanzipation. Eine Frage, die Patou-Mathis vernachlässigt, ist die der Wertschätzung von Fürsorge-Arbeit. Jedem sollte die freie Berufswahl zustehen – doch niemand mit dem Speer bewaffnet losziehen müssen, um Anerkennung zu erfahren.
NIKLAS ELSENBRUCH
Darstellungen auf Kleinkunst-
objekten aus Rentiergeweih
zeigen Frauen bei der Jagd
Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann.
Hanser, München 2021. 288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Marylène Patou-Mathis bezweifelt, dass unsere Vorfahren in patriarchalen Strukturen lebten. Was bedeutet das für die feministische Debatte heute?
„Nein! Die prähistorischen Frauen haben ihre Zeit nicht damit verbracht, die Höhle zu fegen!“ Marylène Patou-Mathis eröffnet ihr Buch „Weibliche Unsichtbarkeit“ mit einer Kampfansage. Die französische Ur- und Frühhistorikerin wirft der 170-jährigen, von männlichen Forschern dominierten Geschichte ihres Fachs die haltlose Annahme einer weiblichen Unterordnung seit der Altsteinzeit vor. Stattdessen will sie wissen: Könnten nicht auch Frauen „die Malereien von Lascaux angefertigt, Bisons gejagt, Werkzeuge geschnitzt, Erfindungen gemacht und zu gesellschaftlichem Fortschritt beigetragen haben?“
Die Beweislage hierfür ist, um dies vorwegzunehmen, nicht erdrückend. Doch Patou-Mathis stellt klar: Indizien einer männlichen Vorherrschaft sind gleichfalls rar gesät. Dass die Urhistorik von einer patriarchalen Struktur steinzeitlicher Sozialverbünde ausgegangen ist und sich noch immer nicht von ihr gelöst hat, führt sie eher auf die Gesellschaftsordnung zu Lebzeiten der Forscher zurück als auf prähistorische Tatsachen. Dies belegt Patou-Mathis nicht direkt mit Aussagen von Fachvertretern, sondern sie beruft sich auf – stets männliche – Wissenschaftler und Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts als Repräsentanten eines misogynen Klimas, dem auch ihre Disziplin erlegen sei.
Diesen Vorgang situiert sie am Ende einer schlaglichtartigen Darstellung der abendländischen Geistesgeschichte als Tour de Force weiblicher Diskriminierung – von Aristoteles bis zu Rousseau. Wessen Erfindung aber ist jene Erzählung der gott- oder naturgegebenen Unterlegenheit der Frau als körperlich wie geistig und moralisch schwaches Wesen, dessen Existenzrecht sich auf seine Reproduktionsleistung und die Befriedigung männlicher Triebe und Bedürfnisse gründet?
Um dies herauszufinden, bedient sich Patou-Mathis eines gewaltigen Kameraschwenks in die Altsteinzeit oder das Paläolithikum, also die Epoche der Menschheitsgeschichte, die vor etwa 2,5 Millionen Jahren mit dem Gebrauch steinerner Werkzeuge begann. Haben unsere Vorfahren damals patriarchal gelebt? Die erste Schwierigkeit dieser Frage besteht darin, dass regionale Unterschiede zwischen den Kulturen über die Zeit kaum Verallgemeinerungen zulassen. Zweitens sind die Forschenden angewiesen auf eine begrenzte Zahl archäologischer Quellen, deren Erschließung sie vor Herausforderungen stellt: Knochenfunde etwa sind oft nicht gut genug erhalten, um sie einem Geschlecht zuordnen zu können.
Mithilfe neuer Analysemethoden, die anhand des Hüftknochens oder der nukleären DNA das Geschlecht bestimmen, ließ sich jedoch bereits die körperliche Robustheit von Frauen im Paläolithikum nachweisen. Patou-Mathis wertet dies als Indiz dafür, dass diese deutlich mobiler waren als angenommen. Statt die Kinder zu hüten, hätten sie als Sammlerinnen täglich weite Strecken zurückgelegt. Damit nicht genug: Zumindest die Skelette von Neandertaler-Frauen weisen an den Ansatzpunkten der Sehnen und Bänder am Ellenbogen Verschleißerscheinungen auf, die vom Speerwerfen rühren könnten. Dies legt nahe, dass sie an der Jagd beteiligt waren. Dafür sprechen auch Jagddarstellungen auf Kleinkunstobjekten aus Kalkstein oder Rentiergeweih, die Frauen zeigen.
Und wer hat solche Objekte und auch die Höhlenmalereien eigentlich gefertigt? Urhistoriker schlossen weibliche Schöpferinnen mit der Begründung aus, die Höhlenzugänge lägen physisch zu anspruchsvoll, oder die Frauen hätten wegen ihrer mangelnden Erfahrung die Jagd nicht darstellen können. Waren die Frauen jedoch robuste Jägerinnen, verlieren diese Argumente ihre Plausibilität. Im Gegenteil finden sich überwiegend weibliche Handabdrücke, die als Signaturen gedeutet werden, neben Höhlenmalereien.
Demnach ist die Annahme einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung ebenso wenig belegt wie die eines niedrigeren sozialen Status der Frauen. Knochenfunde in Grabstätten, die über letzteren Aufschluss geben könnten, lassen sich noch zu selten zuordnen. In Fällen, wo dies gelang, fanden sich auch weibliche Bestattete – im französischen Saint-Germain-de-la-Rivière sogar der Leichnam einer jungen Frau, den eine Halskette aus 64 Eckzähnen einer seltenen Hirschart schmückte. Dies könnte auf eine gehobene gesellschaftliche Stellung hindeuten. Umstritten ist, warum und wann die Frauen dieser beraubt wurden. Als Erklärung wird die jungsteinzeitliche Sesshaftwerdung gehandelt, die mit dem Entstehen der Landwirtschaft vor 10 000 Jahren einherging. Patou-Mathis trägt ihre wissenschaftlichen Befunde mit dezidiert feministischer Agenda vor. Vermeintlichen Determinismus maskuliner Überlegenheit weist sie ebenso in die Schranken wie das Narrativ eines linearen Fortschritts weiblicher Emanzipation. Eine Frage, die Patou-Mathis vernachlässigt, ist die der Wertschätzung von Fürsorge-Arbeit. Jedem sollte die freie Berufswahl zustehen – doch niemand mit dem Speer bewaffnet losziehen müssen, um Anerkennung zu erfahren.
NIKLAS ELSENBRUCH
Darstellungen auf Kleinkunst-
objekten aus Rentiergeweih
zeigen Frauen bei der Jagd
Marylène Patou-Mathis: Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann.
Hanser, München 2021. 288 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Anne-Kathrin Weber lobt den zurückhaltenden, wissenschaftlichen Ton, mit dem die Ur- und Frühhistorikerin Marylene Patou-Mathis Erkenntnisse einer männlich geprägten Archäologie über Geschlechterverhältnisse in der frühesten Epoche menschlichen Zusammenlebens in Frage stellt. Ob Frauen im Paläolithikum jagen gingen oder das Skelett von Björkö aus dem Jahr 1880 wirklich ein Wikingerführer war und nicht doch vielleicht eine Frau, lässt sich laut Weber zwar kaum nachweisen, doch die männlich dominierten Tendenzen in der Forschung lassen sich erkennen. Wie die Autorin letztere einbindet in einen Abriss über Misogynie von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, findet die Rezensentin lehrreich und anregend, vielleicht auch für andere Disziplinen, so hofft Weber.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein aufsehenerregendes Buch." Manuel Opitz, GEO Plus, 23.03.22
"Spannend und originell." Anne-Kathrin Weber, Deutschlandfunk, 03.01.21
"Vermeintlichen Determinismus maskuliner Überlegenheit weist Patou-Mathis ebenso in die Schranken wie das Narrativ eines linearen Fortschritts weiblicher Emanzipation." Niklas Elsenbruch, Süddeutsche Zeitung, 19.10.21
"Gut und erfrischend, dass neue Fragen den Staub der Wissenschaft aufwirbeln." Caroline Fetscher, Tagesspiegel, 12.12.21
"Eine feministische Kampfansage an die vorherrschende Meinung." Kalle Schäfer, Grazia, 03.02.22
"Luzide und kurzweilig." Brigitte Woman, Dezember 2021
"Spannend und originell." Anne-Kathrin Weber, Deutschlandfunk, 03.01.21
"Vermeintlichen Determinismus maskuliner Überlegenheit weist Patou-Mathis ebenso in die Schranken wie das Narrativ eines linearen Fortschritts weiblicher Emanzipation." Niklas Elsenbruch, Süddeutsche Zeitung, 19.10.21
"Gut und erfrischend, dass neue Fragen den Staub der Wissenschaft aufwirbeln." Caroline Fetscher, Tagesspiegel, 12.12.21
"Eine feministische Kampfansage an die vorherrschende Meinung." Kalle Schäfer, Grazia, 03.02.22
"Luzide und kurzweilig." Brigitte Woman, Dezember 2021